Veranstaltung 1914 – 2014. Hundert europäische Jahre

Schwerpunktthema: Bericht

10. Juni 2014

Der Bundespräsident hat am 27. Juni, am Vorabend des 100. Jahrestages des Attentats von Sarajewo, zu einem Tag der Erinnerung ins Schloss Bellevue eingeladen. Schwerpunkte des Tages waren u.a. die unterschiedlichen europäischen Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg sowie die internationale Theaterproduktion Front. Die Produktion des Thalia Theaters wurde im Ehrenhof des Schlosses aufgeführt.

Bundespräsident Joachim Gauck bei der Diskussion zur Gedenkveranstaltung '1914 – 2014. Hundert europäische Jahre' in Schloss Bellevue

Bundespräsident Joachim Gauck hat am 27. Juni, am Vorabend des 100. Jahrestages des Attentats von Sarajewo, zu einem Tag der Erinnerung und des Ausblicks ins Schloss Bellevue in Berlin eingeladen. Schwerpunkte des Tages waren die unterschiedlichen europäischen Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg, die Entwicklung Europas in den vergangenen 100 Jahren und die internationale Theaterproduktion Front.

Am Vormittag begrüßte der Bundespräsident die internationalen Gäste aus Kultureinrichtungen, zeithistorischer Lehre und Forschung und der Politik. Anschließend diskutierten Historiker aus Belgien, Frankreich, Großbritannien, Kroatien, Polen, Russland, der Türkei und Deutschland über die Frage, wie unterschiedlich in ihren Ländern an den Ersten Weltkrieg erinnert wird und welchen gemeinsamen Erfahrungshorizont es gibt.

Am Nachmittag hat Bundespräsident Joachim Gauck die zweite Gesprächsrunde zum Thema Der lange Weg durch ein Jahrhundert von Krieg und Frieden. Hat Europa aus dem Ersten Weltkrieg gelernt? mit einer Ansprache eröffnet. Anschließend diskutierten Christopher Clark, Herfried Münkler, Michael Kelpanides und Karl Schlögel über die Entwicklung Europas seit 1914.

Am Abend lud der Bundespräsident zu einer Aufführung von Auszügen aus der internationalen Theaterproduktion "Front" ein, die sich auf der Basis von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues, Henri Barbusses Le Feu und Zeitdokumenten mit der Kriegserfahrung vor 100 Jahren auseinandersetzt. Mit der Produktion des Thalia Theaters Hamburg wurde der Ehrenhof von Schloss Bellevue erstmals für eine Freiluftaufführung genutzt. Sie war auch vom angrenzenden Spreeweg für interessierte Bürgerinnen und Bürger zu sehen.


Programmpunkte:

10.00 Uhr
Begrüßung durch den Bundespräsidenten und Podiumsdiskussion Geteilte Erinnerung, gemeinsame Erfahrung? Europas Erzählungen vom Ersten Weltkrieg

14.00 Uhr
Ansprache des Bundespräsidenten und Podiumsdiskussion Der lange Weg durch ein Jahrhundert von Krieg und Frieden. Hat Europa aus dem Ersten Weltkrieg gelernt?

21.00 Uhr
Einführung des Bundespräsidenten zur anschließenden Aufführung von Auszügen aus der internationalen Theaterproduktion Front im Ehrenhof von Schloss Bellevue


Weitere Informationen:

Am 27. Juni 2014 jährt sich der letzte Tag des Friedens im alten Europa zum hundertsten Mal. Am 28. Juni begann mit den Schüssen von Sarajevo eine unvorhersehbare Geschichte des Unheils, der Zerstörung und des Leids in ganz Europa und in weiten Teilen der Welt. Der Erste Weltkrieg, wie er bei uns genannt wird, The Great War, La Grande Guerre, De groote Orlog, wie er bei unseren Nachbarn heißt, hat das Gesicht und die Geschichte des ganzen folgenden Jahrhunderts mitgeprägt.

Zeit und Anlass für den Bundespräsidenten, in einer ganztägigen Veranstaltung des Ersten Weltkrieges zu gedenken und zu fragen, was die vergangenen 100 Jahre für uns heute und für die Zukunft bedeuten. Das Gedenken des Ersten Weltkrieges soll dabei nicht verdecken, dass wir mit den Erinnerungsstationen 1939 (75 Jahre Beginn des Zweiten Weltkrieges) und 1989 (25 Jahre Friedliche Revolution) auf zwei weitere historische Wegmarken zurückblicken. Der Veranstaltungstag steht im Zeichen Europas, im Zeichen europäischen Gedächtnisses und europäischer Zukunft.

1. Geteilte Erinnerungen, gemeinsame Erfahrung?


Was im Gedächtnis der verschiedenen Völker haften blieb vom Ersten Weltkrieg, das ist sehr unterschiedlicher Natur. Der Krieg hat nicht nur die Gewichte zwischen den großen europäischen Akteuren Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich, Russland und Großbritannien neu verteilt. Er hat in Mittel- und Osteuropa auch neue Staaten entstehen oder wiedererstehen lassen. In Großbritannien und Frankreich blieb die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg ganz anders lebendig als etwa in Deutschland. Belgien war vom Krieg durchpflügt worden, der Nachbar Niederlande blieb verschont. Jährlich wird der Gefallenen gedacht. In Deutschland erschien der Versailler Vertrag vielen als Schandfrieden, in Polen als Garantie für die Wiederauferstehung einer souveränen Nation. Der erste Teil der Veranstaltung wird die unterschiedlichen Erzählungen (Narrative) der europäischen Länder und Völker darlegen. Zentrale Fragestellungen sind:

  • Was prägt die unterschiedlichen nationalen Erzählungen? Inwieweit haben sie noch heute Einfluss auf den Umgang von Staaten bzw. Bürgern miteinander?

  • Inwieweit dient der Erste Weltkrieg bis heute zur Identitätsbildung? Inwieweit wurde mit Geschichtswissenschaft auch Geschichtspolitik betrieben, die den nationalen Interessen in den verschiedenen Phasen entsprachen?

  • Zeichnet sich zumindest in historischer Hinsicht eine von allen akzeptierte, gemeinsame europäische Wahrnehmung ab?

  • Wie verändern die gegenwärtigen Ereignisse in Osteuropa die Wahrnehmung der Geschichte?


Dazu sprechen acht Gelehrte und Publizisten aus ihren Erfahrungs- und Erzählungsräumen:

  • Selim Deringil, Istanbul, Professor am Historischen Institut der Boğaziçi Universität in Istanbul. Zu seinen Schwerpunkten zählen die späte Geschichte des Osmanischen Reiches, der osmanische Islam und die Beziehungen zwischen dem Osmanischen Reich und Europa.
  • Maciej Górny, Warschau, Gastforscher am Deutschen Historischen Institut Warschau. Publizierte 2014 mit Włodzimierz Borodziej Nasza wojna. Imperia, 1914-1916. (Unser Krieg. Imperien, 1914-1916).

  • Tvrtko Jakovina, Zagreb, Historiker an der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Zagreb. Sein Hauptinteresse gilt der Geschichte der USA, dem Kalten Krieg, der Entspannungspolitik und Jugoslawien und Kroatien im 20. Jahrhundert.

  • Elise Julien, Lille, Historikerin, Maitre de conférences en Histoire am Institut d’Etudes Politiques (Sciences Po) zu Lille. Spezialgebiete: Französische und europäische Zeitgeschichte, Geschichte der internationalen Beziehungen, Erster Weltkrieg und seine Folgen, Geschichte der Urbanität.
  • Boris Kolonitskii, St. Petersburg, Historiker, Prorektor der Europäischen Universität St. Petersburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen das Ende des Zarenreichs, die Oktoberrevolution 1917 und die Erinnerungspolitik in Russland an den Ersten Weltkrieg.
  • Jörn Leonhard, Freiburg im Breisgau, Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte des Romanischen Westeuropa am Historischen Institut der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. 2014 erschien Die Büchse der Pandora, seine umfassende Abhandlung zur Geschichte des Ersten Weltkrieges.
  • David Reynolds, Cambridge, Professor für Internationale Geschichte an der Universität Cambridge. Seine Schwerpunkte sind der Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg. 2013 erschien sein Buch The Long Shadow – on the legacies of the Great War for the 20th century.
  • Laurence van Ypersele, Brüssel, Professorin für zeitgenössische Geschichte an der Katholischen Universität Löwen (Louvain), Spezialgebiete: Geschichte des Ersten Weltkrieges, Kollektive Gedächtnisse, Nationale Identitäten, Politische Imaginationen.
  • Moderation: Etienne François, Berlin, Historiker, Professor in Göttingen, Nancy, Freie Universität Berlin. Spezialgebiet: Deutsch-französische Beziehungen, Erinnerungskultur. Mit Hagen Schulze gemeinsam Herausgeber der Deutschen Erinnerungsorte.

2. Der lange Weg durch ein Jahrhundert von Krieg und Frieden. Hat Europa vom Ersten Weltkrieg gelernt?


Heute wird Europa als gemeinsamer Raum von Freiheit und Sicherheit, von Recht und marktwirtschaftlichem Streben nach Wohlstand gesehen. Das friedliche Zusammenspiel freier und selbstbewusster Staaten will aber immer wieder neu erarbeitet und gesichert werden. Dieses Zusammenspiel fußt auf den Erfahrungen der vergangenen 100 Jahre. Wir haben gelernt, Gegensätzlichkeit in Vielgestaltigkeit, das Antagonistische in das Komplementäre zu überführen. Rechtstaat, Demokratie und europäisch geteilte Souveränität bewährten sich als Garanten von Freiheit, Wohlstand und sozialer Sicherheit. Der zweite Teil der Veranstaltung wird nach den Bedingungen und Kernerfahrungen fragen, die vom Schrecken der Katastrophen zum Gelingen einer Union der Europäer führen. Und sie fragt danach, wie es weitergehen kann, auch im Lichte der jüngsten Erschütterungen.

Mitwirkende sind:

• Christopher Clark, Cambridge, Australischer Historiker, Professor für Neuere Europäische Geschichte an der University of Cambridge. Spezialgebiet u.a. preußische und deutsche Geschichte. Zum Ersten Weltkrieg erschien: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog.

• Michael Kelpanides, Thessaloniki, Soziologe, Professor an der Aristoteles-Universität in Thessaloniki. Forschungsschwerpunkte: Probleme nachindustrieller Demokratien, Bildungsexpansion und Umverteilung sozialer Chancen im Wohlfahrtsstaat, Marxismuskritik. 2013 erschien sein Buch Politische Union ohne europäischen Demos – Die fehlende Gemeinschaft der Europäer als Hindernis der politischen Integration.

• Herfried Münkler, Berlin, Politikwissenschaftler, Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Verschiedene Arbeiten zu Kriegsgeschichte und zum Wandel des Kriegsgeschehens (Asymmetrische Kriege). Werk zur Geschichte des Ersten Weltkriegs: Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918.

• Karl Schlögel, Berlin, Historiker, Schriftsteller, Studien in Moskau und Leningrad, Professor em. an der Viadrina, Frankfurt/Oder. Spezialgebiete: Geschichte und Geographie Osteuropas, besonders Russlands, Historiographie des Raumes, Wandlungen Europas.

• Moderation: Jens Bisky, Berlin, Kulturwissenschaftler, Germanist, Autor, Biograph (Heinrich v. Kleist) und Herausgeber, Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung.

3. Theaterproduktion „Front – Im Westen nichts Neues“


Polyphonie nach Erich Maria Remarque, Henri Barbusse und Zeitdokumenten. Eine Koproduktion des Thalia Theaters Hamburg mit dem NTGent, Belgien, Regie: Luk Perceval

Belgien 1914–1918: Franzosen, Engländer, Belgier und Deutsche liegen sich, kaum 100 Meter voneinander entfernt, in Schützengräben gegenüber, schießen aufeinander, graben sich ein und werden von Ratten, Läusen, Feuchtigkeit und Hunger geplagt. Figuren aus Remarques Weltkriegsroman, Henri Barbusses Tagebuch einer Korporalschaft: Le Feu und Charaktere weiterer literarischer und historischer Quellen begegnen sich in diesem internationalen Abend, der in vier Sprachen stattfindet.

Ein deutsches und ein belgisches Ensemble, französisch- und englischsprachige Gastdarsteller, multilinguale literarische und authentische Texte aus dem Ersten Weltkrieg sowie Mikrofone, Notenständer, Leselampen, Fotoprojektionen und eine Klanginstallation – dies sind die Elemente, aus denen sich die Weltkriegsinszenierung Front zusammensetzt.

Luk Perceval, der flämische Regisseur, der seit Jahren in Deutschland lebt und arbeitet, führt in dieser internationalen Koproduktion seine Hamburger Schauspieler in sein Heimatland Belgien, in sein Heimattheater, das NTGent. Zahlreiche Gastspieleinladungen, u.a. nach Reims, Amsterdam und Brüssel, hat die Produktion bereits erhalten. Da sie in ihrer Mehrsprachigkeit einzigartig ist, stößt sie schon im Vorfeld europaweit auf großes Interesse. Die nächsten Stationen sind Saarbrücken, Edinburgh und Belgrad. Eine der rund 30 geplanten Gastspielreisen wird nach Sarajevo gehen, der Ort, an dem am 28. Juni 1914 das Attentat auf Österreichs Thronfolger Franz Ferdinand den Ersten Weltkrieg auslöste.