Namensbeitrag in der Wochenzeitung "Die Zeit"

Schwerpunktthema: Bericht

12. März 2015

Der Bundespräsident hat für "Die Zeit" anlässlich des 25. Jahretags der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR einen Beitrag verfasst. Darin heißt es: "Bei der Wahl am 18. März 1990 zog es 93,4 Prozent der Wahlberechtigten der DDR an die Wahlurne. Wir wollten testen, ausprobieren, was wir gewollt und wofür wir gekämpft hatten. Eine revolutionäre Bewegung sollte in eine legitimierte demokratische Interessenvertretung überführt werden."

Bundespräsident Joachim Gauck in Schloss Bellevue (Archiv)

In diesem Jahr feiern wir 25 Jahre deutsche Einheit, ganz besonders am 3. Oktober. Aber davor gab es 1990 einen Märzsonntag, der die DDR, bevor sie unterging, für ein halbes Jahr definitiv zu einer deutschen, demokratischen Republik machte: Am 18. März 1990 wählten wir die Volkskammer, die dann tatsächlich ein freies DDR-Parlament war.

Heute, ein Vierteljahrhundert später, erinnere ich mich noch immer an die ungeheure Erwartung, die uns damals in der DDR ergriffen hatte. Und ich freue mich auch aus his-torischen Gründen über dieses Datum. Denn an einem 18. März wurde in Deutschland schon einmal Freiheitsgeschichte geschrieben: Genau an diesem Tag des Jahres 1848 konfrontierten die Berliner Revolutionäre Staat und König mit ihrem Freiheitswillen.

Meine Erinnerungen an 1990 sind bunt. Merkwürdig, denn das Land lag noch unter Mehltau, jahrzehntelange Starre hatte es grau werden lassen, innerlich und äußerlich. Aber dann waren da all diese Wahlplakate, farbenfroh und vielfältig, oft natürlich auch einfältig – aber anders als in den Jahrzehnten davor artikulierten sie Differenz, sie hoben unterschiedliche Positionen, ja echte Wahlmöglichkeiten hervor.

Es war ähnlich wie bei den Werbekampagnen aus der Warenwelt: All die Produkte aus dem Westen wollten zu den Menschen im Osten. An eine Werbung erinnere ich mich besonders deutlich. Zwar ging es (nur) um eine Zigarette, aber der Slogan, mit dem sie beworben wurde, taugte als Motto für ein politisches Programm in der Zeit des Umbruchs, vielleicht für ein Jahr, vielleicht sogar für ein ganzes Jahrzehnt. Jeder, wirklich jeder wusste es. Die Zeit war reif für etwas grundlegend Neues: Test the West!

Bei der Wahl am 18. März 1990 zog es 93,4 Prozent der Wahlberechtigten der DDR an die Wahlurne. Wohlgemerkt: bei einer freiwilligen, geheimen und demokratischen Wahl. Wir wollten testen, ausprobieren, was wir gewollt und wofür wir gekämpft hatten. Eine revolutionäre Bewegung sollte in eine legitimierte demokratische Interessenvertretung überführt werden.

Es war schon erstaunlich: Nach Jahrzehnten, in denen die DDR-Propaganda immer wieder das Schreckgespenst der westlichen Demokratie an die Wand gemalt hatte, war eben diese parlamentarische Demokratie, ja ganz einfach die Bonner Republik zum Ziel unserer Sehnsüchte geworden.

Die letzte Volkskammerwahl war das nachgeholte Ja der Ostdeutschen zu jenem Ja, das die Westdeutschen fast ein halbes Jahrhundert früher zu Freiheit und Demokratie gesagt hatten. Eben daraus erklärte sich die große Bereitschaft, die Freude, ja die Begeisterung der Ostdeutschen, Wähler zu sein. Auch ich kam damals tief berührt und voller Glück aus dem Wahllokal. Und ich wusste sofort: Niemals, solange ich lebe, werde ich eine Wahl versäumen. Denn nun waren wir keine Staatsinsassen mehr, abkommandiert gutzuheißen, was die herrschende Partei vorgegeben hatte. Wir waren freie Bürger, frei zur Entscheidung, welchen Personen und welchen Parteien wir dieses Land anvertrauen wollten.

Ein zweiter Grund für die enorm hohe Wahlbeteiligung war 1990 die große Entschiedenheit der Bevölkerung, sich zur Frage der deutschen Einheit zu positionieren. Die Allianz für Deutschland ging deswegen als eindeutig stärkste Kraft aus der Wahl hervor, weil sie am klarsten eine möglichst schnelle Einheit versprach. Verloren hatten hingegen jene, die einen eigenen, einen dritten Weg vorschlugen oder darauf hofften, eine neue Verfassung für das wiedervereinigte Land ausarbeiten zu können. Die Ostdeutschen wollten möglichst schnell und unwiderruflich Deutsche in einem wiedervereinigten Deutschland sein.

Wohl waren es besondere, ja einzigartige Umstände, die damals zu einer starken Mobilisierung der Wähler führten. Aber ich glaube doch auch, ein paar allgemeingültige Schlussfolgerungen aus der Wahl von1990 ziehen zu können: Es werden mehr Menschen zur Wahl gehen, wenn sie Druck zur Veränderung spüren. Wenn sie – zweitens – eine Chance erkennen, diese Veränderung durch ihre Stimmabgabe durchzusetzen. Und schließlich werden sie besonders motiviert sein, wenn sie ein möglichst konkretes Ziel vor Augen haben. Wir mögen es schon fast vergessen haben. Aber 1972 gingen auch in Westdeutschland 91,1 Prozent der Wähler zur Urne. Wohlgemerkt: bei einer freiwilligen, geheimen und demokratischen Wahl. Es ging damals um die neue Ostpolitik.

Wenn ich heute auf die Wahl von 1990 zurückblicke, so tut es mir weh zu sehen, dass viele Bürger das Glück, selber bestimmen zu können, wer sie regiert oder wer sie nicht mehr regieren soll, nicht oder nicht mehr auf gleiche Weise zu schätzen scheinen. Und auch, dass viele junge Bürger dieses Glück einer demokratischen Teilhabe noch nie emp-funden haben.

Die Wahlbeteiligung im Osten ist heute oft geringer als im Westen. Noch immer stoßen wir in den neuen Bundesländern auf eine andere Befindlichkeit und andere Haltungen gegenüber der Demokratie. Manche Veränderung kam vielleicht zu schnell und war zu schwer zu verarbeiten. Die Folge war bei vielen Ernüchterung und Enttäuschung. Es kam zu Abwanderung, Arbeitslosigkeit und – stärker als erwartet – zu einem Fremdeln mit der Freiheit. So verwandelten sich zahlreiche begeisterte Wähler von 1990 in Nichtwähler.

Hinzu kam, dass sich die Politik durch globale Veränderungen und Krisen ganz neuen Herausforderungen gegenüber sah und sieht. Vieles ist im Prozess der europäischen Einigung und im Zuge der Globalisierung sehr kompliziert und unübersichtlich gewor-den. Und in dieser Unübersichtlichkeit ist für viele nicht mehr erkennbar, was die eigene Regierung – und damit letztlich die eigene Wahlentscheidung – in dieser Welt noch be-wegen kann. Manches macht auch Angst, etwa brutale Kriege, Flüchtlingsströme, Epidemien, Finanzkrisen und Terror. So flüchten die Einen in eine private Welt, einen Ort des Rückzugs, der sie nicht aufregt und überfordert, sondern beruhigt. Andere tragen ihren Unmut auf die Straße, mit Auswirkungen, die konstruktiv, aber durchaus auch zerstörerisch sein können. Beiden Gruppen ist gemeinsam, dass sie den etablierten Politikbetrieb als unzureichend und sich selbst als ohnmächtige Objekte anonymer Kräfte empfinden.

In einem solchen Klima verlieren traditionelle Institutionen wie Parteien, Gewerkschaften und Kirchen an Bedeutung und an Vertrauen. Es wächst die Sehnsucht nach einfachen Lösungen – eine, wie mir scheint, gefährliche Entwicklung, denn in Zeiten allgemeiner Verunsicherung haben Demagogie, Manipulation, Verschwörungstheorien und Lügen Konjunktur. Was richtig und was falsch ist, wird allzu oft nicht mehr an der Wirklichkeit überprüft. Vielmehr wird für richtig erklärt, was der Gesinnung entspricht.
Die Einen fühlen sich nicht mehr ausreichend verstanden, die Anderen können sich nicht mehr ausreichend verständlich machen.

Für mich ist diese Entwicklung kein Grund, an der repräsentativen Demokratie zu zweifeln. Allerdings steht sie vor einer neuen Bewährungsprobe. Angesichts erschwerter Umstände gilt es, die Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten neu zu beleben und die Beziehungen zwischen Politik und Bürgern durchlässiger zu gestalten. Veränderungsbedarf sehe ich auf beiden Seiten. Genauso, wie man Personal und andere Ressourcen einsetzt, um Sachthemen zu erforschen und in politische Projekte zu verwandeln, muss die Politik mehr Personal und mehr Ressourcen einsetzen, um verständlich zu erklären, was sie zum Wohle der Bevölkerung und im Gesamtinteresse tut. Der einzelne Bürger darf nicht schon durch die Begrifflichkeit abgeschreckt werden und den Eindruck gewinnen, die Politik bewege sich in einer anderen Welt. Es muss wieder deut-lich werden: Politik geht einen jeden an. Und spezielle Mühe ist es wert, sozial Schwache und Jugendliche aus Einwandererfamilien zu erreichen, die sich jetzt häufig ausge-schlossen fühlen und auf Distanz zur Politik gehen.

Andererseits könnten sich unzufriedene Bürger fragen, ob Rückzug ins Private oder Pauschalkritik an der Politik einer Veränderung zum Besseren dient. Der Bürger ist kritischer, anspruchsvoller und selbstbewusster geworden – und das ist gut so. Aber manchmal schwingt da auch Selbstgerechtigkeit gegenüber gewählten Entscheidungsträgern mit. Dabei sind es die Volksvertreterinnen und Volksvertreter in den Gemeinderäten, in den Kreis- und Landtagen oder im Bundestag, die die eigentliche Kärrnerarbeit unseres Politikbetriebs verrichten.

Als Antwort auf die Frage, wie mehr Bürger zur aktiven Teilhabe angeregt werden können, wird häufig auf die direkte Demokratie mit mehr plebiszitären Elementen verwiesen. Als ich vor 25 Jahren in die aktive Politik eintrat, habe auch ich mir viel davon versprochen, mehr als heute. Trotz erkennbarer Vorzüge, etwa für die regionale Verkehrsplanung, lässt sich doch nicht ausblenden, dass eine gut informierte, meist besonders gut ausgebildete, aber zahlenmäßig begrenzte Bevölkerungsgruppe durch einen Volksentscheid überproportionalen Einfluss auf politische Entscheidungen gewinnen kann. Die politische Legitimation basisdemokratisch gefällter Beschlüsse muss keineswegs automatisch größer sein als Entscheidungen gewählter Körperschaften.

Gefährlich ist es, politische Parteien und Bürgerinitiativen im Widerspruch zueinander zu sehen. Zwar erlebt, wer fest im Alltag steht, oft schneller und sensibler als Politiker, was sich in der materiellen Welt und im Denken der Menschen verändert. Doch es bedarf der Parteien, um Einzelphänomene mit dem großen Ganzen in Beziehung zu setzen und widerstreitende Interessen in Politik zu überführen. Monothematisch ausgerichtete Gruppen haben selten überlebt. Zwar wird die Politik oft erst durch die Basis mit beson-deren Mängeln und Missständen konfrontiert. Doch nur die Parteien und die Parlamente halten die Themen anschließend kontinuierlich auf der Agenda und kontrollieren ihre Umsetzung durch die Regierung.

Eine wache Gesellschaft und lebendige Parteien sind die besten Voraussetzungen für die weitere Entwicklung unserer Demokratie. Mag der Diskurs manchmal auch schwierig, kontrovers und langwierig sein, so schafft er doch neue Klarheiten, neue Einsichten und neue Zielvorstellungen.

Wer ein Ziel vor Augen hat, wer die Möglichkeit zur Änderung sieht, erlebt Teilhabe als befriedigend und sinnvoll. Gerade, wenn es um große, richtungweisende Entscheidun-gen geht. Die Wahl vom 18. März 1990 war ohne Zweifel eine große Wahl. Allerdings eröffnet der Blick auf ein historisches Wahlereignis auch den Blick auf die Wahl und das Wählen schlechthin. Jede demokratische Wahl hat Größe. Denn sie verleiht eine doppelte Würde: die Wählenden macht sie zum Souverän; und den Gewählten verleiht sie die Würde der Legitimität.