Grußbotschaft des Bundespräsidenten zum Jüdischen Neujahrsfest 5776

Schwerpunktthema: Pressemitteilung

9. September 2015


Im jüdischen Kalender beginnen mit dem Neujahrsfest, Rosch ha-Schana, die zehn ehrfurchtsvollen Tage. Es sind Tage der Rechenschaft und des Gebets. Wir schauen zurück auf Vergangenes und blicken erwartungsvoll in die Zukunft. Mit Rosch ha-Schana, dem Tag der Schöpfung, beginnt eine Zeit der Besinnung und der Hoffnung.

Ich blicke zurück auf viele hoffnungsvolle Begegnungen in und mit der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und denke dabei in diesem Jahr besonders an einen Nachmittag mit Studierenden der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg. Die Martin-Buber-Gesellschaft hatte mich eingeladen, um ihres Namensgebers zu gedenken, der vor fünfzig Jahren starb. Martin Buber war es, der uns lehrte, dass jedes wirkliche Leben Begegnung ist. Er verstand diese Begegnung als Dialog zweier einander zugewandter, aufgeschlossener Personen – als ein antitotalitäres Denken, das die Begegnung von Ich und Du in den Mittelpunkt rückt, ein dialogisches Prinzip, das jeder Vereinnahmung durch Ideologien Widerstand leistet. Gesellschaften, die menschlich sein wollen, müssen diese Begegnung freier Individuen ermöglichen.

Dass mir Begegnungen wie diese in Heidelberg möglich sind, ist keine Selbstverständlichkeit, und ich bin tief dankbar und empfinde sie als Geschenke, die mir, die unserem Land zuteil werden. Gern denke ich auch an die fröhlichen Tage der European Maccabi Games in Berlin in diesem Sommer.

Mein Rückblick aber ist auch in diesem Jahr nicht unbeschwert. Dass die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland um mehr als ein Viertel zugenommen hat, empört mich. Ich bin mit der großen Mehrheit der Menschen in unserem Land dankbar dafür, dass die jüdische Gemeinschaft in Deutschland wächst, und ich weiß, dass diese große Mehrheit antijüdische Angriffe nicht duldet. Wir wollen ein starkes und selbstbewusstes jüdisches Leben in unserem Land. Einen Anschlag auf dieses Leben begreifen wir als einen Angriff auf unser ganzes Gemeinwesen.

Das ist nicht nur eine Frage der Solidarität. Es ist eine Frage des Selbstschutzes, denn unser Gemeinwesen ist der Raum, den es zu schützen gilt. Es ist der Ort und die Voraussetzung jeder Begegnung, die wir uns wünschen, so wie Martin Buber sie verstanden hat: als Aufeinandertreffen freier Menschen, die einander als gleich gut, gleich offen und wahrheitssuchend annehmen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein Jahr voller guter und gelingender Begegnungen. Ein gesegnetes Neues Jahr, Schana tova!