Bundespräsident Christian Wulff hat der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung ein Interview gegeben

Schwerpunktthema: Interview

2. August 2010

Bundespräsident Christian Wulff und seine Frau Bettina Wulff bei der Trauerfeier in der Duisburger Salvatorkirche


Herr Bundespräsident, Sie sind erst seit wenigen Wochen im Amt, wie schwer ist Ihnen die Trauerzeremonie in Duisburg gefallen?

Sie hat mich sehr ergriffen, aber anders als der Moment vor einer Woche, in dem ich von dem Unglück erfahren habe: Da stand der Schock im Vordergrund, das blanke Entsetzen, Ratlosigkeit. Die Trauerfeier gehörte dem Abschiednehmen, dem Trauern gemeinsam mit denen, die einen lieben Menschen verloren haben, ein Kind, ein Enkelkind, eine Schwester, einen Bruder. Ich habe die Trauerfeier als ein würdevolles Abschiednehmen erlebt: Die Worte, die gesprochen wurden, die Musik, aber auch die Zeichen: Dass auf dem Altar für jedes Opfer eine Kerze entzündet wurde, das war bei allem Entsetzen, bei aller Fassungslosigkeit, auch ein Moment des Trostes. Wir haben alle gemeinsam getrauert: um jeden einzelnen Menschen, der ums Leben gekommen ist. Es ist extrem, wenn so viele junge Menschen aus dem Leben gerissen werden.

Haben Sie Angehörige der Opfer getroffen?

Ja, aber Sie werden verstehen, dass ich darüber nichts sagen möchte. Nur soviel habe ich auch anschließend in der Begegnung mit den Helfern erzählt: Ein Vater der Opfer, die nicht aus Deutschland kamen und der sein Kind jetzt tot mit in die Heimat nimmt, hat mir bei allem Schmerz berichtet, wie ihn die liebevolle Aufnahme und Betreuung in Duisburg getröstet habe. Er hat darüber geredet, wie sehr ihm unsere Art und Weise, unsere Kultur des Abschiednehmens in diesen schwierigen Stunden helfe. Nach der Trauerfeier hatte ich auch noch die Möglichkeit zum Treffen mit Helfern. Das waren ebenfalls eindrucksvolle Gespräche. Sie dürfen in der Nachsorge nicht vergessen werden. Sie haben Traumatisches erlebt. Auch sie bedürfen unserer Fürsorge. Das ist mir ganz wichtig. Wir müssen sie ermutigen, Hilfe tatsächlich in Anspruch zu nehmen.

Hannelore Kraft hat eine einfühlsame Rede gehalten. Man konnte ihr ansehen, wie aufgewühlt NRW ist. Haben Sie mit ihr geredet?

Wir haben miteinander geredet. Ich habe ihr Mut gemacht und anschließend Anerkennung gezollt. Sie hatte die schwere Last als Ministerpräsidentin, die richtigen Worte zu finden. Die hat Frau Kraft gefunden. Sie hat es in ihrer Rede nur angedeutet, aber wir alle wissen, dass ihr eigener Sohn auf der Love-Parade war. Auch sie hat gebangt und gezittert, bis sie endlich Kontakt zu ihm hatte und gleichzeitig hatte sie als Ministerpräsidentin in einer Katastrophensituation Entscheidungen zu treffen. Auch eine Politikerin muss in einer solchen Situation ihre Emotionen nicht verstecken.

Hier und da zeigt man mit dem Finger auf das Ruhrgebiet. War die Loveparade eine Nummer zu groß fürs Revier?

Nein. Das zeigten Essen und Dortmund. Auch Duisburg hat oft gezeigt, wozu die Menschen in der Lage sind. Die Frage stellt sich aus meiner Sicht so nicht. Wenn man die Entscheidung trifft, eine solche Großveranstaltung zu organisieren, muss alles für die Sicherheit getan werden. Schon Tage zuvor war auch im Internet vor einer Katastrophe gewarnt worden. Auch solche Frühwarnsysteme müssen in Zukunft bei den Verantwortlichen die Alarmglocken läuten lassen. Ich kann gut verstehen, warum es die Menschen im Ruhrgebiet verletzt, wenn sie hören, in Berlin wäre das nicht passiert oder auch in München beim Oktoberfest gehe man ganz anders mit dem Andrang von Tausenden von Menschen um. Eine Katastrophe hat doch nichts mit der Frage zu tun, wo etwas stattfindet, sondern wie.

Psychologen helfen traumatisierten Menschen, wer hilft einer Stadt, ihr Trauma zu verarbeiten?

Eine Stadt muss zusammenrücken, die Menschen müssen zusammenrücken. Da haben wir in anderen Teilen Deutschlands immer voller Bewunderung ins Ruhrgebiet geschaut. Das Ruhrgebiet hat gelernt, in der Not zusammenzustehen. Und Duisburg und seine Bürgerinnen und Bürger haben in der Vergangenheit auch Großes geleistet: Von den Stahlkochern in Hamborn, den Schiffern in Ruhrort, den Spediteuren in Rheinhausen, den Professoren in Neudorf oder den Sportlern an der Wedau. Duisburg ist die Stadt des wirtschaftlichen Wandels, der Migration und der erfolgreichen Integration. Die Duisburger haben allen Grund, darauf stolz zu sein! Wie heißt es so treffend im Vereinslied des MSV Duisburg: "Früher gab's hier nur Kohle, früher war hier nur Stahl. Für die Zukunft kämpfen, das ist für uns normal! Unser Blick geht nach vorne, aber auch mit Stolz zurück. Von uns wartet keiner auf sein Glück!" Das ist für mich mentale Stärke des Ruhrgebietes.

Nun wünscht man sich allerdings, dass Sie das Ruhrgebiet auch mal bei anderen Anlässen besuchen...

Dafür gibt es sogar schon einen Termin. In nicht einmal sechs Wochen, am 12. September, werde ich auf Einladung von Fritz Pleitgen in Duisburg sein: Zur "Sinfonie der Tausend" im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Kulturhauptstadt Europas Ruhr.2010". 100 Jahre nach ihrer Uraufführung wird die Sinfonie Nr. 8 von Gustav Mahler mit hunderten Orchestermusikern und mehr als tausend Chorsängern aus der Region erklingen. Auch das wird den Menschen an Rhein und Ruhr Kraft geben können. Und wir werden uns noch einmal denjenigen zuwenden, für die gemeinsame Trauer und Zuspruch tröstend ist. Den Schmerz und die Verzweiflung können wir den Angehörigen der Opfer nicht abnehmen, aber wir können allen das Gefühl geben, dass wir sie nicht alleine lassen. Und wir sind auch bei denen, die verletzt wurden, noch in Krankenhäusern behandelt werden, bei allen, die nicht nur körperlich, sondern auch seelisch Schaden genommen haben.

Eschede steht für das ICE-Unglück, Winnenden für den Amoklauf, Duisburg für die Love-Parade-Katastrophe. Führen solche Ereignisse zu einer Stigmatisierung?

Sie führen auf alle Fälle dazu, dass die Menschen, die an solchen Unglücksorten wohnen, sich zunächst nicht vorstellen können, wie das Leben in ihrer Umgebung wieder unbeschwert weiter gehen kann. Deshalb ist es umso wichtiger, dass nach der Ersthilfe langfristige Unterstützung organisiert wird. In Form von Hilfsfonds zum Beispiel. Es muss auch jemanden geben, der die Anliegen bündelt, unbürokratisch hilft und individuelle Lösungen sucht, so geschehen nach dem Transrapid-Unglück vor vier Jahren, als wir in Niedersachsen einen Ombudsmann mit solchen Aufgaben betraut haben und sehr positive Erfahrungen damit gemacht haben. Es ist also Aufgabe von uns allen, gegen jede Form von Stigmatisierung anzukämpfen, auch der Medien, die ganz schnell das Interesse an einem Ort verlieren, wenn es keine Katastrophen-Schlagzeilen mehr gibt. Wir alle haben jetzt eine Verantwortung für die Duisburger.

Ist die Trauerarbeit unvollendet, solange die Schuldigen nicht zur Rechenschaft gezogen sind?

Die Frage danach, warum ein junger Mensch so früh sterben musste oder auch so schwer verletzt wurde, dass es sein ganzes Leben beeinträchtigt oder auch seine Seele Schaden genommen hat, lässt sich nie vollständig beantworten. Aber es hilft bei der Verarbeitung, wenn man nachvollziehen kann, wie es zu dem Unglück kam. Ich habe von Anfang an gesagt, dass ich auf eine lückenlose Aufklärung hoffe, und diejenigen, die Fehler gemacht haben, sollten dafür auch die Verantwortung übernehmen.

Verantwortung übernehmen - das klingt schon fast altmodisch. Ist es nicht die Charakterfrage der Politik?

Wir alle müssen Verantwortung für unser Tun übernehmen: Politiker und Nicht-Politiker. Das ist ganz und gar nicht altmodisch und darf auch nicht aus der Mode kommen. Natürlich stehen Politiker besonders in der Verantwortung, weil sie Entscheidungen treffen, die sehr viele Bürgerinnen und Bürger ganz direkt betreffen. Insofern haben Sie Recht, wenn Sie von DER Charakterfrage in der Politik sprechen. Nur was machen wir, wenn immer weniger Menschen an dieser Stelle Verantwortung übernehmen wollen? Ich habe mir für meine Amtszeit vorgenommen, wieder mehr Menschen dafür zu begeistern, mitzugestalten, wenn Sie so wollen, für das Ganze Verantwortung zu übernehmen. Eine Gesellschaft der "Ichlinge" nutzt uns allen nichts, nur zusammen können wir durch schwierige Zeiten oder Ausnahmesituationen wie jetzt in Duisburg einen Weg finden.

Können Sie die Bürger verstehen, die den Rücktritt des Oberbürgermeisters verlangen?

Ich kann verstehen, dass die Menschen wütend sind, dass sie nach Schuldigen suchen, dass sie schnell Antworten auf viele Fragen wollen. Als Staatsoberhaupt bin ich aber kein oberster Richter. Der Oberbürgermeister hat für sich beschlossen, das Ergebnis der Ermittlungen abzuwarten. Wir alle wissen, dass auf jeden Fall nicht einer alleine verantwortlich ist.