Bundespräsident Christian Wulff hat der Sächsischen Zeitung ein Interview gegeben

Schwerpunktthema: Interview

1. September 2010

Ehepaare Wulff und Tillich in Dresden vor einem Dienstwagen mit der Standarte des Bundespräsidenten und der Kathedrale St. Trinitatis

Herr Bundespräsident, Sie besuchen heute als erstes Bundesland Sachsen. Warum?

Es ist keine Zurücksetzung der anderen, dass ich meine Antrittsbesuche in den Ländern jetzt mit Sachsen und zwei Wochen später mit Thüringen beginne. Ich verspreche mir 20 Jahre nach der Einheit viele Anregungen. Von den Sachsen kann man vor dem historischen Hintergrund als Freistaat viel über die landsmannschaftliche Identität und über Zusammenhalt lernen, etwa bei der Krisenbewältigung des Elbhochwassers. Die Sachsen sind erfolgreich unterwegs. Mit meinem Besuch will ich außerdem die Freiheitsbewegung in Sachsen vor zwei Jahrzehnten würdigen, die mit den Montagsdemonstrationen in Leipzig und Dresden, aber - nicht zu vergessen - auch in Plauen den Fall des SED-Regimes möglich gemacht hat.

Welches persönliche Verhältnis haben Sie zu Sachsen?

Zum einen gibt es die historische Beziehung, dass die Sachsen und die Niedersachsen gemeinsamen Ursprungs sind. Ich war in den vergangenen 20 Jahren sehr oft in Sachsen. Dabei habe ich vor allem die Menschen bewundert, mit wie viel Elan sie voran gekommen sind: in der Bildung mit nachahmenswerten Ergebnissen bei der Pisa-Studie, beim Aufbau von Industriestandorten in der Automobilindustrie, im High-Tech-Bereich, in der Biotechnologie oder der Mikroelektronik. Ich habe mir immer gedacht: Von den Sachsen kann man eine Menge lernen. Und deshalb habe ich als Ministerpräsident mit Johanna Wanka auch eine Sächsin als Wissenschaftsministerin in Niedersachsen berufen.

Hatten Sie überhaupt mal die Gelegenheit, Dresden oder andere Städte privat, ohne Protokoll zu sehen?

Ja, immer wieder. Und wenn ich sehe, was Sachsen auch im kulturellen Bereich geschafft hat, komme ich regelrecht in Schwärmen- auch und besonders in Dresden. Die wiederaufgebaute Frauenkirche ist eine ganz besondere Leistung. Sachsen ist eben ein Land der Kultur mit alten Traditionen und einer mehrhundertjährigen Geschichte, die andere Bundesländer so nicht haben. Sachsen war immer eine weltoffene Drehscheibe, es hat gleich nach 1989/90 eine phänomenale Entwicklung genommen. Ich erinnere mich gerne an Besuche in Leipziger Künstlerateliers vor 20 Jahren. Damals habe ich vor allem mit vielen jungen Leuten Gespräche geführt.

Heute haben Sie in Dresden ein dichtes Programm. Worauf freuen Sie sich besonders?

Am meisten freue ich mich auf die Begegnungen mit den Bürgerinnen und Bürgern. Das ist mir besonders wichtig . Ich möchte wissen, was die Menschen denken, was sie bewegt und was sie sich von ihrem Bundespräsidenten erwarten. Vor allem bei der Dampferfahrt auf der Elbe wird ausreichend Gelegenheit für solche Gespräche sein. Das war mein Wunsch. Mit ganz besonderer Neugier besuche ich zusammen mit meiner Frau das Pilotprojekt einer Kindertagesstätte in Moritzburg. Nach allem, was ich gehört habe, lernen dort schon die 3- bis 5-jährigen, wie Demokratie funktioniert. Das Projekt ist weltweit ziemlich einzigartig. Der Freistaat ist ohnehin führend bei frühkindlicher Bildung. Sachsen macht schon die Kleinsten schlau. Das sollte in ganz Deutschland Schule machen.

Seit fast 20 Jahren sind Ost und West wieder ein Land. Wie beurteilen Sie den Stand der Einheit?

Für mich bleibt die Einheit Deutschlands eine Erfolgsgeschichte, ein Anlass zu großer Freude und Stolz über das, was wir gemeinsam alles erreicht haben. Aber es gibt natürlich Unwuchten, gefühlte Ungerechtigkeiten und noch zu lösende Aufgaben.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Das Bundespräsidialamt bekommt zum Beispiel besonders viel Post zum Thema Angleichung der Rentenberechnung. Das ist ein schwieriges und sehr komplexes Thema. Und jeder sieht in der Diskussion natürlich erst einmal seine eigene Situation. Für mich ist das ein klassisches Beispiel, dass wir immer in der Lage sein müssen, uns in die jeweils anderen hinein zu versetzen.

Ist es das, was Sie Sie in Ihrer Antrittsrede mit "Brücken bauen" gemeint haben?

Ich möchte mich vor allem dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft widmen. Dazu gehört ganz zentral die Frage, was uns im Inneren zusammenhält, welche Werte, welche Überzeugungen, welche Tugenden unser Land erfolgreich gemacht haben. Und dazu gehört auch, mehr Verständnis hinzubekommen zwischen Ost und West, zwischen Alt und Jung, zwischen Menschen, die ihre Wurzeln seit Generationen hier haben und denen, die hier geboren sind, deren Eltern aber aus dem Ausland zu uns gekommen sind oder die sich jetzt entscheiden, aus anderen Ländern zu uns zum Leben und Arbeiten zu kommen.

Jammert der Osten zu viel?

Nein. Es ist aber oft so, dass Kritiker die volle Aufmerksamkeit bekommen und Menschen, die sich freuen, weniger Aussicht auf Beachtung haben. Dinge, die funktionieren, sind eben nicht schlagzeilenträchtig. So werden Sie kaum in ihrer Zeitung darüber berichten, dass jeden Tag viele Züge nach Plan fahren.

Aber manchmal scheint auch der ganze Fahrplan durcheinander zu geraten. Studien etwa sagen, dass sich weit mehr als die Hälfte der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse im eigenen Land fühlen. Und auch jeder vierte Westdeutsche stimmt zu. Was ist da schief gelaufen?

Mir fällt bei diesen Umfragen immer wieder auf, dass die Beurteilung der persönlichen Situation und die des großen Ganzen so augenfällig auseinanderfallen. Viele Menschen finden ihre Wohnungen prima, schön renoviert, mit ausreichend vielen Zimmern. Und dieselben Leute sagen dann häufig bei solchen Befragungen, dass die Wohnraumversorgung in Deutschland insgesamt katastrophal sei. Also: Die Wahrnehmung des Ganzen fällt häufig ganz anders aus als die individuelle Bewertung.

Erklärt aber nicht alles...

Nein. Es lehrt uns aber alle, genauer hinzusehen. Viele erfolgreiche Ostdeutsche werden als solche gar nicht mehr wahr genommen: Steffi Nerius, die Superspeerwerferin, stammt von der Insel Rügen, und wird plötzlich Leverkusenerin, Michael Ballack gilt, obwohl in Görlitz geboren, inzwischen als Bayer-Fußballer, Yvonne Catterfeld vielleicht noch ein bisschen als Erfurterin. Aber viele, die sich durchgesetzt haben, und auf die die Ostdeutschen stolz sein können, werden gar nicht unbedingt mehr mit Ostdeutschland verbunden. Vielleicht auch, weil sie ihren Lebensmittelpunkt häufig verlagert haben.

Und was folgt daraus?

Das große Thema ist, wie holen wir viele von denen zurück in die ostdeutschen Länder, die aus welchen Gründen auch immer weggegangen sind. In den ostdeutschen Bundesländern gibt es ein höheres Maß an Flexibilität, an Mobilität als im Westen. Wenn ich irgendwo in der Welt in einem Hotel bin und frage, ob es Mitarbeiter aus Deutschland gibt, bekomme ich fast immer die gleiche Antwort: mindestens ein Mitarbeiter kommt aus Sachsen oder aus Thüringen, manchmal auch aus dem Urlaubsland Mecklenburg-Vorpommern.

Raten Sie jungen Leuten, die in der Lausitz oder der Uckermark keine Zukunft sehen oder haben, ihr Glück im Westen zu suchen?

Ich rate zu zweierlei: Die Kommunalpolitiker müssen alles unternehmen, um ihren jungen Menschen Perspektiven zu geben. Wenn es dafür im Moment aber nicht die Möglichkeiten gibt, sollten wir der jungen Generation nicht abraten, Erfahrungen andernorts zu sammeln im Inland, im Ausland, zu studieren, sich weiterzubilden. Danach muss es aber Anreize geben, zurückzukehren und eine Existenz in der alten Heimat aufzubauen.

Halten Sie das Ziel der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse noch für zeitgemäß?

Es wird immer Unterschiede zwischen verschiedenen Bundesländern in Nord und Süd, in Ost und West geben. Aber das Finanzausgleichsystem muss das Ziel haben, dass die Unterschiede kleiner und nicht größer werden und dass Wettbewerbsnachteile ausgeglichen werden. Ein 100-Meter-Lauf ist ungerecht, wenn der Eine barfuß, der Zweite in Sandalen und der Dritte in Marken-Turnschuhen an den Start geht. Die Bereitstellung von gleichwertigem Schuhwerk für alle ist eben auch eine Frage der Fairness im Wettbewerb. Ein Bundesland wie Baden-Württemberg zum Beispiel hat durch seine Exportstärke, durch den Maschinenbau, durch die vielen Tüftler und Erfinder eine besondere Wirtschaftskraft. Dafür zahlt das Land denen, die weniger Wirtschaftskraft haben, einen gewissen Ausgleich. So funktioniert unser Solidarsystem, der Länderfinanzausgleich. Außerdem gibt es bis einschließlich 2019 den Solidarpakt Ost.

Nach 20 Jahren Einheit ist eine Generation herangewachsen, die die Teilung nicht mehr aus eigener Anschauung kennt. Kann Ihre in Niedersachsen aufgewachsene Tochter noch etwas mit der DDR anfangen?

Meine Tochter ist 1993 geboren. Es liegt nun an mir, mit ihr an besondere Orte in Ost-, aber auch in Westdeutschland zu reisen, um ihr die Geschichte zu erklären. Sie ist wie viele junge Menschen politisch äusserst interessiert und wir diskutieren viel miteinander, zum Beispiel nach Filmen wie "Das Leben der Anderen". Da komme ich manchmal ganz schön ins Schwitzen.

Warum?

Was für uns gelebte Geschichte der Teilung, der Wiedervereinigung und des Aufbaus Ost ist, sehen unsere Kinder als Geschichte aus dem letzten Jahrhundert. Und jetzt ist unsere Aufgabe, diese Geschichte für die nächsten Generationen noch erlebbar zu machen. Das ist gar nicht so einfach. Aber diese Mühe müssen wir uns machen, denn wir haben die Möglichkeit, aus den Erfahrungen zweier Diktaturen Lehren zu ziehen. Und diese müssen wir für die Entwicklung unseres Gemeinwesens nutzen.

Und: Was kommt dabei raus?

Die Überzeugung, dass unsere Demokratie ein hohes Gut ist. Meine Amtszeit soll sich deshalb auch dem Thema Zukunft der Demokratie widmen. Wie können wir wieder mehr Menschen motivieren, bei der demokratischen Willensbildung mitzumachen. Wie organisieren wir solche Prozesse, möglicherweise auch im Internet. Wir dürfen uns auf keinen Fall bequem zurücklehnen in dem Glauben, unsere Demokratie sei unerschütterlich, so ist das nämlich nicht.

Woran machen Sie das fest?

Die Wahlbeteiligung nimmt ab, die Mitgliederzahlen der Parteien schrumpfen, die Bereitschaft nimmt ab, sich kommunal einzubringen, Verantwortung zu übernehmen. Es gibt eine mangelnde Anerkennung für die, die Verantwortung übernehmen. Der Graben zwischen Wählern und Gewählten wird größer. Und es gibt auch extremistische rechtsradikale Neigungen.

Auch in Sachsen...

Es gibt das Phänomen bundesweit und es beunruhigt mich. Mein Vater hat zu mir gesagt: Ein Land braucht zehn, 15 Prozent Menschen mit Zivilcourage, die sich aktiv einsetzen und nicht nur andere machen lassen. Und er bat mich inständig darum, mir die demokratischen Parteien später interessiert anzuschauen. Da war ich zehn Jahre alt, das war am Tag der Bundestagswahl 1969. Ein paar Jahre später fiel meine Entscheidung für die CDU - sicherlich nicht zur Freude meines Vaters, der Sozialdemokrat war. Aber es hat ihn schon gefreut, dass ich seinem Wunsch, sich politisch zu engagieren, gefolgt bin. Wir brauchen Menschen, die sich bewusst entscheiden, etwas für das Gemeinwesen zu tun.

Sie wurden Ende Mai gewählt. Was war für Sie die größte Überraschung im neuen Amt?

Der Bundespräsident genießt großen Respekt. Daraus ergibt sich aber auch ein Stück Distanz. Objektiv besteht deshalb die Gefahr, sich im Amt abzuschotten. Das will ich auf keinen Fall. Ich schätze die Nähe zu den Menschen, ich stehe mit meiner Familie mitten im Leben und möchte auch entsprechend wahrgenommen werden. Was mit Sicherheit zu den schönen Erfahrungen in den ersten Wochen meiner Amtszeit gehört, sind die Begegnungen mit Politikern und Botschaftern aus der ganzen Welt, bei denen man die hohe Anerkennung gegenüber unserem Land spürt. Deutschland hat heute mit allen Ländern sehr gute Beziehungen und ist hochgeschätzt. Das kann man angesichts unserer Geschichte nicht hoch genug werten. Und das macht mich glücklich.

Hand aufs Herz: Haben Sie jemals von diesem Amt geträumt oder sogar darauf hingearbeitet?

Auf das Amt des Bundespräsidenten kann man nicht hinarbeiten. Dafür kann man sich nicht bewerben. Man kann dann, wenn sich die Chance bietet, beherzt zugreifen: Das habe ich gemacht und es bisher keine Sekunde bereut.

Und der Gedanke, ich bin noch so jung und das waren bislang doch immer ältere Herren...

Die Voraussetzung für das Amt ist laut Verfassung, mindestens 40 Jahre alt zu sein. Diese Altersgrenze habe ich nun auch schon elf Jahre überschritten. Ich habe Kontakt zur älteren, zur mittleren Generation und auch zu vielen Jüngeren. Wenn man selbst Kinder hat von zwei, sieben und 16 Jahren- dann ist man auch sehr nah dran an Kita- und Schulproblemen, an Fragen von Beruf und Familie. Man erfährt eben nicht von anderen, dass die Kita eine Warteliste hat, sondern steht selbst auf dieser Liste. Aber es ist auch nicht von Bedeutung, jünger zu sein. Zumal sich das ja auch jeden Tag ändert.


Die Fragen stellten Peter Heimann, Sven Siebert, Uwe Vetterick.