Bundespräsident Christian Wulff zu Staatsbesuch in Russland - vor seiner Reise hat der Bundespräsident der russischen Tageszeitung "Kommersant" ein Interview gegeben

Schwerpunktthema: Interview

11. Oktober 2010

Christian Wulff besteigt das Flugzeug

Herr Bundespräsident, was sind die Ziele Ihres Staatsbesuchs in Russland?

Ich freue mich sehr, so bald nach Amtsantritt zusammen mit meiner Frau zu einem Staatsbesuch nach Russland zu reisen. Dieser Besuch soll deutlich machen, wie viele gemeinsame Interessen in Politik und Wirtschaft Deutschland und Russland im Rahmen unserer strategischen Partnerschaft miteinander verbinden. Außerdem ist mir wichtig, bei meinem Staatsbesuch die freundschaftlichen Gefühle Deutschlands für das russische Volk zum Ausdruck zu bringen. Ich werde Gelegenheit haben, in Moskau mit Präsident Medwedew und Ministerpräsident Putin die breite Agenda unserer zwischenstaatlichen Zusammenarbeit zu besprechen. Daneben möchte ich mir in den russischen Regionen, konkret in Twer und Uljánowsk, einen Eindruck über die Entwicklung vor Ort verschaffen. In beiden Orten sind deutsche Firmen ansässig, die ich zum Teil auch besuchen werde. Außerdem ist es mir wichtig, in Sankt Petersburg an die Schrecken des Krieges zu erinnern, der vor fast 70 Jahren so viel Leid über Russland und seine Völker gebracht hat.

Während der fürchterlichen Waldbrände des vergangenen Sommers haben die Menschen in Deutschland gemeinsam mit dem russischen Volk gelitten. Deutschland möchte außerdem mit Russland Erfahrungen über neue Konzepte des Brandschutzes und der Brandvorsorge austauschen.

Wie bewerten Sie den gegenwärtigen Stand der russisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen? Welches sind die Hauptgebiete der Zusammenarbeit und die wichtigsten bilateralen Projekte?

Russland und Deutschland sind traditionell füreinander wichtige Wirtschaftspartner. Gegenwärtig sind etwa 6.500 deutsche Unternehmen in Russland aktiv. Viele Firmen beabsichtigen ihr Engagement weiter auszubauen. Besonders freut es mich, dass die deutsche Wirtschaft auch in Krisenzeiten, wie wir sie in den letzten zwei Jahren erleben mussten, dem russischen Markt treu geblieben ist. Das zeugt von Vertrauen in die Entwicklung Russlands sowie dem Wunsch, sich für bessere ökonomische Zeiten noch besser als bislang zu positionieren.

Unsere bilateralen Wirtschaftsbeziehungen mit Russland sind vielfältig. Zunehmend wichtiger werden neben den Sektoren Energie, Automobil und Infrastruktur auch innovative Branchen, etwa aus dem Bereich der Gesundheitsökonomie. Aus meiner Sicht sind neben großen Infrastrukturprojekten, wie dem Ausbau von Flughäfen oder den Vorbereitungen für die Olympischen Spiele 2014 in Sotschi, auch kleinere Projekte wichtig. Diese wirken in die russischen Regionen und schaffen dort Arbeitsplätze, die die Lebensqualität der Bevölkerung erhöhen oder die lokalen Produzenten stärken. Ein schönes Beispiel dafür ist ein Ausbildungszentrum der Robert Bosch GmbH in Uljanowsk, das mit Know-how und modernster Technologie ausgestattet ist, welches ich mir während meines Staatsbesuches anschauen werde. Hier wird in Russlands und unsere gemeinsame Zukunft investiert.

Welche Faktoren behindern Ihrer Meinung nach eine Verbesserung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern?

Zunächst sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache denn diese befinden sich fast schon wieder auf dem Vor-Krisen-Niveau. Deutsche Unternehmen nehmen den russischen Markt als dynamisch wachsend wahr. Ich sage aber auch: Mangelnde Rechtssicherheit und bürokratische Unzulänglichkeiten schrecken deutsche Unternehmen bisweilen ab, sich noch stärker in Russland zu engagieren. Wirtschaftliche Modernisierung heißt für mich, klare marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen und bestehende Hemmnisse zu beseitigen, um den gegenseitigen wirtschaftlichen Austausch zu fördern. Wichtig ist, dass wir unsere Wirtschaft nicht durch Abschottung behindern, sondern durch Wettbewerb und offene Märkte stärken.

Wie hat sich die Wirtschaftskrise auf das Niveau der bilateralen Beziehungen ausgewirkt? Sind Sie der Meinung, dass wir den Höhepunkt der Krise überschritten haben?

Sowohl Russland als auch Deutschland sind gut durch die Krise gekommen und profitieren besonders von der weltwirtschaftlichen Erholung. Unsere politischen Beziehungen haben unter der Wirtschaftskrise nicht gelitten.

Ist Deutschland bereit, sich am Prozess der Modernisierung der russischen Wirtschaft zu beteiligen? In welcher Form?

Ein modernes und wirtschaftlich starkes Russland ist für Deutschland und die Welt wünschenswert. Enge wirtschaftliche Verflechtungen bedeuten auch Stabilität und Wohlstand für die Bevölkerung. Das unterstützen wir mit ganzer Kraft. Nicht umsonst ist Deutschland Vorreiter auch für eine breite Zusammenarbeit der Europäischen Union mit Russland in Zukunftsbereichen. Ich begrüße auch das starke Engagement der Wirtschaft in Russland und Deutschland. Hier gibt es viele Sektoren, nicht nur im viel beachteten Energiebereich, sondern auch in den Branchen Handel, Konsumgüter und Hochtechnologie, in denen noch große Potenziale für die Unternehmen bestehen.

Unter dem Dach der deutsch-russischen Modernisierungspartnerschaft, die über den Bereich der Wirtschaft weit hinausreicht, wurde zum Beispiel die Deutsch-Russische Energieagentur RUDEA gegründet und damit eine noch engere Zusammenarbeit auf diesem für beiden Länder wichtigen Sektor, unter Einschluss des Gedankens von Energieeffizienz, etabliert. Die zwischen Deutschland und Russland bestehende Modernisierungspartnerschaft dient auch unserer Zusammenarbeit bei der Stärkung demokratischer, pluralistischer Gesellschaftsordnungen mit diversifizierten Marktwirtschaften und einem hohen Lebensstandard. Dazu kommt gewissermaßen als Klammer zwischen den Akteuren Staat, Bürger und Unternehmen das Thema Rechtssicherheit. Auf dem Feld der Rechtsstaatskooperation kann Deutschland besonders viel anbieten und dies deckt sich mit den Prioritäten, die sich Präsident Medwedew für seine Amtszeit gesetzt hat.

Auf welchem Niveau befinden sich unsere politischen Beziehungen? Zu welchen Fragen haben Ihrer Meinung nach Moskau und Berlin noch kein Einvernehmen erzielen können? Was steht dem im Weg?

Der politische Dialog zwischen Deutschland und Russland ist eng und vertrauensvoll - dem Leitbild einer strategischen Partnerschaft verpflichtet. Für mich sind ein konstruktiv-kritischer politischer Meinungsaustausch, enge Wirtschaftsbeziehungen, ein lebendiger zivilgesellschaftlicher Dialog und eine intensive Zusammenarbeit bei Bildung, Forschung und Kultur gleichermaßen wichtig.

Ich bin davon überzeugt, dass Präsident Medwedew es ernst damit meint, die Zivilgesellschaft in Russland zu stärken und die Rechtsstaatlichkeit zu verbessern. Verbrieftes Recht und Rechtswirklichkeit klaffen mitunter in Russland noch zu weit auseinander. Menschenrechtsverteidiger und kritische Journalisten arbeiten oft unter Bedingungen, die ihnen großen persönlichen Mut abverlangen. Nur ein Staat, der das Vertrauen seiner Bürger genießt, kann die Kräfte und die Kreativität mobilisieren, die gerade in einem Land wie Russland stecken. Hier schließt sich der Kreis zum Modernisierungsthema. Kein Staat der Welt ist in der Lage, Modernisierung alleine zu schultern. Ohne den aktiven Beitrag einer sich für das Ganze verantwortlich fühlenden Zivilgesellschaft geht das nicht.

Wie sieht die deutsche Haltung zu den Vorschlägen des russischen Präsidenten Dmitri Medwedew bezüglich der Schaffung einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur aus?

Präsident Medwedew hat mit seinen Vorschlägen zu einer europäischen Sicherheitsarchitektur einen neuen sicherheitspolitischen Diskussionsprozess angestoßen, der zur richtigen Zeit gekommen ist. Mit dem sogenannten "Korfu-Prozess" ist dieser auf dem informellen OSZE-Außenministertreffen auf Korfu im Juni 2009 aufgegriffen und seitdem in verschiedenen Formaten - insbesondere in der OSZE - diskutiert worden. Mit dem OSZE-Gipfel in Astana Anfang Dezember dieses Jahres verbinden wir nun die Erwartung, diesen bisher informellen Diskussionsprozess in konkrete Arbeitsaufträge umzuwandeln. Dabei wird es insbesondere um Fragen der Vertrauensbildung, der friedlichen Konfliktlösung, der praktischen Zusammenarbeit, der Abrüstung und Rüstungskontrolle gehen. Auch die menschliche Dimension der OSZE wird dabei eine wesentliche Rolle spielen.

Ich bin froh darüber, dass sich auch das Verhältnis zwischen der NATO und Russland wieder erheblich entspannt hat. Deutschland sieht in Russland einen wichtigen Partner, etwa bei unseren Anstrengungen zur Stabilisierung Afghanistans oder zur Bekämpfung der Piraterie.

Deutschland verhält sich recht zurückhaltend gegenüber der Frage einer Abschaffung der Visumspflicht zwischen Russland und der EU. Aus welchem Grund? Wie schätzen Sie die Perspektive einer Abschaffung der Visumspflicht ein?

Deutschland steht, gemeinsam mit seinen europäischen Partnern, zum langfristigen Ziel der Aufhebung der Visumpflicht, wie dies die Europäische Union bereits in der St. Petersburger Erklärung vom 31. Mai 2003 und in der Präambel des Visumerleichterungsabkommens vom 25. Mai 2006 gegenüber Russland bekundet hat. Die Entscheidung, ob russische Staatsangehörige in Zukunft für kurzfristige Aufenthalte ohne Visum in den Schengen-Raum werden einreisen können, wird auf EU-Ebene zu treffen sein. Ich freue mich, dass sich die Europäer im Mai auf die Ausarbeitung "gemeinsamer Schritte" zur Visumfreiheit mit Russland haben einigen können. Jetzt gilt es, diese Vereinbarung mit Leben zu füllen und Kriterien zu bestimmen, die von Russland auf dem Weg zur Visumfreiheit zu erfüllen sind. Wie schnell mit einer Aufhebung der Visumpflicht gerechnet werden kann, hängt von konkreten Verhandlungsfortschritten ab.

In Deutschland gibt es eine recht große russischsprachige Gemeinde. Wie schätzen Sie deren Rolle im Leben des Landes ein?

Ich stelle selbst immer wieder fest, an wie vielen Orten des Alltags in Deutschland heute Russisch gesprochen wird. Dies gilt besonders für unsere Hauptstadt Berlin. Damit knüpfen wir an Zeiten an, in denen der deutsch-russische Austausch nicht nur im kulturellen Bereich schon einmal eng und von gegenseitigem Interesse geprägt war. Heute erfreut sich Deutschland an jüngeren russischen Autoren wie Wladimir Kaminer oder an dem Intendanten des Berliner Staatsballetts, Wladimir Malakhow. Insgesamt ist die russischsprachige Gemeinde in Deutschland gut integriert und ein geschätzter Teil unserer modernen deutschen Gesellschaft geworden.

Wie ist gegenwärtig das Image Russlands in Deutschland? Meinen Sie, dass es dieses zu korrigieren gilt?

Meine Landsleute schätzen Russland und die Russen und ich glaube, dass dies auch umgekehrt der Fall ist. Dazu tragen wesentlich die engen Kontakte zwischen den Menschen im Rahmen der bestehenden über 90 Städtepartnerschaften und der Jugendaustausch bei. Nichts ist aber so gut, dass es nicht noch besser werden kann. Deshalb müssen wir ein gemeinsames Interesse daran haben, der Welt zu kommunizieren, dass Russland und Deutschland enge Partner sind, die einander vertrauen. Daran müssen sich selbstverständlich auch die Handlungen unserer beiden Regierungen messen lassen.

Vor wenigen Tagen haben wir in Bremen und Berlin den 20. Jahrestag der Herstellung unserer staatlichen Einheit feiern dürfen, der auch zur Überwindung der Spaltung Europas führte. Unser Land wird nicht vergessen, welchen Beitrag insbesondere Michail Gorbatschow dafür geleistet hat. Dies erfüllt mich auch persönlich mit großer Dankbarkeit.

Sie sprachen gerade von den Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung. Sind Sie persönlich und die deutsche Bevölkerung zufrieden mit dem Verlauf der Wiedervereinigung? Sind die Unterschiede zwischen dem West- und dem Ostteil des Landes überwunden? Was muss noch für eine weitere Festigung der inneren Einheit Deutschlands unternommen werden?

Der Prozess der "inneren Einheit" ist nach innen und außen eine Erfolgsgeschichte. Die Menschen in unserem Land möchten nicht mehr nach Himmelsrichtungen "skaliert" werden, sondern fühlen sich in ihren Regionen, in Deutschland und in Europa zuhause. Die Menschen in der DDR haben mit ihrem friedlichen Protest die Maßstäbe für die Veränderung gesetzt und die Wiedervereinigung maßgeblich mit herbeigeführt. Wesentlichen Anteil am Gelingen der staatlichen Einheit hatten aber auch unsere Partnerländer - siehe den Zwei-Plus-Vier-Vertrag. Dies ist im Gedächtnis der Deutschen dauerhaft verankert. Es ist ein Segen, dass wir mit unseren Nachbarn in Frieden und Freundschaft leben. Wichtig für die weitere Festigung des Zusammenhalts in Deutschland ist heute weniger das Ost-West-Verhältnis als vielmehr die Chance auf gleiche gesellschaftliche Teilhabe aller auch durch Arbeit.

Herr Bundespräsident, der ehemalige deutsche Bundeskanzler Kohl hat seinerzeit festgestellt, dass Sie kein Kurzstreckenläufer sind. Seinen Worten zufolge sind Sie ein Marathonmann und werden deswegen ans Ziel kommen. Wie also sehen Ihre Ziele für das Amt des Bundespräsidenten aus?

Ich möchte den Zusammenhalt der Gesellschaft fördern, Menschen Mut zum Wandel machen und die Demokratie stärken. Der Begriff, den Helmut Kohl geprägt hat, wurde offenbar für so treffend gehalten, dass er sogar den Titel einer Biografie über mich bildet.