Interview mit der italienischen Tageszeitung "Corriere della Sera" anlässlich des Besuchs in Italien

Schwerpunktthema: Interview

Rom/Italien, , 7. Juli 2011

Besuch in Italien - Bundespräsident Christian Wulff diskutiert mit Jugendlichen im deutsch-italienischen Begegnungszentrum Villa Vigoni am Comer See über die Zukunft Europas

Herr Bundespräsident, wie beurteilen Sie das Verhältnis zwischen Deutschland und Italien? Viele behaupten, dass die Verbindung weniger stark als früher ist.

Unsere Zukunft und die unserer Kinder und Enkel hängt von Europas Selbstbehauptung im globalen Wettbewerb ab. Kein europäisches Land wird allein stark genug sein, Stabilität und Prosperität für seine Bürger in einer sich schnell wandelnden Welt zu garantieren. Deshalb müssen die Europäer zusammenstehen und gute und freundschaftliche Beziehungen untereinander pflegen. Deutschland und Italien haben als Gründungsstaaten hier eine besondere Verantwortung, und sie sind ihr gerecht geworden. Unsere Beziehungen stehen auf einer soliden freundschaftlichen Basis stehen und werden durch viele Besuche, Gespräche und persönliche Kontakte gefestigt. Die bestehende Dichte und Vielschichtigkeit der Kontakte in Wirtschaft, Kultur, Tourismus, Sport, und zahlreiche persönliche Anknüpfungspunkte zeugen davon, dass die Verbindung von Italien und Deutschland zu den Säulen in Europa gehört.

Gibt es einen bestimmten Grund für Ihre Reise nach Rom und Ihre Begegnung mit Staatspräsident Napolitano?

Präsident Napolitano und ich beraten die bilateralen Beziehungen, europäische Fragen und mit einem Konzert möchte ich Italien zum 150. Geburtstag gratulieren. Im vergangenen Jahr haben wir Deutsche für 20 Jahre Deutsche Einheit gedankt und auf einen Zeitabschnitt der Geschichte unseres Landes zurückgeblickt, der uns Einheit in Frieden und Freiheit gebracht hat - und ebenso unserem Kontinent. Daneben gibt es eine Vielzahl an Gesprächsthemen und manche politische Initiativen, die wir diskutieren und gemeinsam voranbringen wollen.

Seit einiger Zeit unterhält Deutschland immer engere Beziehungen zu den Schwellenländern und scheint sich weniger für die NATO und die EU zu interessieren.

Das eine schließt das andere nicht aus. Unsere europäischen und transatlantischen Partner sind nach wie vor der Anker der deutschen Außenpolitik, weil wir eine Wertegemeinschaft bilden. Wir stehen gegenseitig für unsere Sicherheit ein. EU und NATO sind und bleiben für Deutschland der zentrale Bezugsrahmen unserer Außenpolitik. Aber Europa als Wirtschaftsunion ist gut beraten, sich intensiv mit den Schwellenländern zu beschäftigen und sie in die Gestaltung einer künftigen Weltordnung einzubinden. Wir Europäer werden uns dann in der Welt von morgen wohlfühlen, wenn wir häufiger mit einer Stimme sprechen und wenn sie geschlossen für ihre Werte eintreten.

Einige bemerken, Deutschland habe einen Sonderweg in der Weltpolitik eingeschlagen, einen „dritten Weg“ zwischen Ost und West.

Deutschland liegt in der Mitte Europas und ist ein Land mit vielen Nachbarn. Nach dem Fall der Mauer und der dann endlich möglichen Vereinigung unseres Kontinents hat Deutschland – wie die anderen europäischen Länder auch – die Beziehungen zu seinen Nachbarn im Osten entwickelt. Wir sind sehr glücklich, dass die Mittel- und Osteuropäer nach der künstlichen Trennung des Kalten Krieges wieder Teil der europäischen Familie sind. Wir fühlen uns mit ihnen seit Jahrhunderten eng verbunden und sind glücklich, dass sie uns trotz der Schrecken der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft die Hand zur Versöhnung gereicht haben. Darüber hat Deutschland seine europäische Verantwortung und seine westlichen und südlichen Nachbarn nicht vernachlässigt. Ich halte nichts davon, einen künstlichen Gegensatz zwischen den Interessen Europas im Osten und im Süden zu schaffen. Die Osterweiterung der Union war allen Europäern ein historischen Anliegen. Welche gewichtigen Interessen wir im Süden haben, ist gerade erst wieder durch den Arabischen Frühling deutlich geworden.

In Libyen ist keine Lösung in Sicht. Sind Sie beunruhigt?

Die anhaltende Gewalt gegen die Zivilbevölkerung muss jeden beunruhigen. Alle Beteiligten müssen weiter mit Hochdruck an einer Lösung arbeiten. Der internationale Konsens wird immer stärker, dass Gaddafi nicht Teil der Verhandlungen über die Zukunft eines neuen Libyens sein kann. Er muss abtreten, denn er führt Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Deutschland wird sich weiter engagieren.

Wie sehr beunruhigt Sie die Schuldenkrise Europas? Besteht ein Risiko des Zusammenbruchs der Währungsunion?

Ich bin mir sicher, Europa kann die Krise als Chance nutzen. Wir dürfen aber nicht länger auf kurzfristige Lösungen setzen, die schon bald wieder nachgebessert werden müssen, sondern wir brauchen ein europäisches Konzept, das dauerhaft tragfähig ist. Europa, einschließlich des Euro, ist eine große Erfolgsgeschichte, deren Verteidigung uns allen alle Anstrengungen wert sein muss. Europa ist eine Schicksalsgemeinschaft, deren wichtige Grundlage die Solidarität ist. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger, nicht nur in Deutschland, haben jedoch das Gefühl, dass es nicht fair, nicht gerecht zugeht und dass Lasten einseitig verteilt werden. Einzelne in Europa haben über Jahre falsche statistische Zahlen geliefert, andere haben sich der fairen Besteuerung entzogen, wiederum andere haben über die zunehmend schlechteren Finanzen und wirtschaftlichen Grundlagen hinweggeschaut. Dazu kommen Trittbrettfahrer in der Finanzwelt, die davon ausgegangen sind und noch jetzt darauf setzen, dass sie von der Politik und damit von den Steuerzahlern aufgefangen werden. Menschen reagieren empfindlich, wenn Fairnessprinzipien verletzt werden. Im schlimmsten Fall bricht Kooperation ganz zusammen. Deswegen muss Unfairness, muss falsches Haushalten und Wirtschaften klar und schnell sanktioniert werden. Dass es dazu in der Vergangenheit nicht kam, hat vor einigen Jahren leider auch Deutschland mitverschuldet, als es die Stabilitätskriterien verletzte.

Halten Sie die Gründung einer populistischen rechtsextremen Partei in Deutschland für möglich?

In vielen europäischen Ländern ist die Angst vor sozialem Abstieg gestiegen. Stärker als vor der Finanz- und Wirtschaftskrise rufen Menschen nach Renationalisierung. Manche glauben, eine ehemals heile Welt, die ja so heil gar nicht war, könne wiederentstehen, wenn man nur die europäischen Binnengrenzen stärker kontrolliert und Fremde und Fremdes abwehrt. Politische Kräfte, die hier allzu einfache Antworten vorgaukeln, spielen in Deutschland zum Glück keine große Rolle. Ich bin davon überzeugt, dass in einer kosmopolitischen Welt Antworten von gestern nicht weiterführen. Zukunftsfähigkeit erreicht man, indem man für gesellschaftliche Vielfalt, für Fremde und Fremdes offen ist. In meinem Amtszimmer im Schloss Bellevue hängt ein Bild des italienischen Malers Canaletto mit einem Blick auf Dresden und ein Bild von einer italienischen Landschaft gemalt von dem deutschen Maler Adolf Friedrich Harper. Mit fremden Augen sieht man mehr.

Die Diskussion über einen ständigen Sitz für Deutschland im UN-Sicherheitsrat wird in Berlin und Rom unterschiedlich beurteilt.

Der Sicherheitsrat muss reformiert werden, wenn er das Herzstück der internationalen Friedensordnung bleiben soll. Um die dafür notwendige breite Zustimmung in der UN-Mitgliedschaft zu erzielen, bedarf es der Flexibilität aller Beteiligten. Im Kern geht es darum, dass die Zusammensetzung des Sicherheitsrats nicht mehr die geopolitischen Realitäten der heutigen Welt reflektiert. Dies muss korrigiert werden, sonst sinkt die Schlagkraft der UN.

Deutschland und Italien teilen im Übrigen die langfristige Vision, dass ein geeintes Europa auch im Sicherheitsrat mit einer Stimme sprechen soll. Solange dieses Fernziel weder in New York noch in Brüssel realisierbar ist, bleibt Deutschland ein Kandidat für einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat: Wir sind drittgrößter Beitragszahler zu den UN, viertgrößter Geber von Entwicklungshilfe weltweit und einer der wichtigen politischen Akteure in allen UN-Bereichen.

Herr Bundespräsident, war es für Deutschland schwierig, einen italienischen Bankier, Mario Draghi, als Präsidenten der Europäischen Zentralbank zu akzeptieren?

Nein. In der Pressekonferenz gemeinsam mit Präsident Napolitano hatte ich mich bereits vor Monaten positiv in Berlin zu Mario Draghi eingelassen. Mario Draghi ist ein international erfahrener und hoch geschätzter Notenbanker und zugleich ein überzeugter Europäer. Ihm eilt der begründete Ruf voraus, ein Verfechter einer nachdrücklichen Stabilitätspolitik zu sein. Darauf bauen wir und deshalb vertrauen wir darauf, dass Mario Draghi in schwierigen Zeiten der richtige Mann für die Spitze der Europäischen Zentralbank ist.