Interview mit der Süddeutschen Zeitung anlässlich des Staatsbesuchs des türkischen Präsidenten Abdullah Gül

Schwerpunktthema: Interview

Berlin, , 17. September 2011

Bundespräsident Christian Wulff in Schloss Bellevue (Archivbild)

Herr Bundespräsident, der türkische Taxifahrer, der mich gerade zu Ihnen bringen sollte...

...hat gesagt, grüßen Sie meinen Präsidenten.

Nein, er konnte mit dem Schloss Bellevue als Amtssitz des deutschen Präsidenten nichts anfangen. Da scheint noch Aufklärungsarbeit nötig zu sein.

Wahrscheinlich konnte er sich einfach nicht vorstellen, dass der deutsche Präsident in einem Schloss residiert. Wir sollten den Taxifahrer einmal zu einer unserer vielen Veranstaltungen in Bellevue einladen.

Am Sonntag werden Sie hier den türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül empfangen. Kommt da ein Europäer zu Besuch?

Ich begrüße Präsident Gül als Freund und als einen guten Freund Deutschlands, dazu als den Präsidenten des westlichsten Landes im Orient und des östlichsten im Okzident, das als zentrale Brücke zwischen Europa und Vorderasien fungiert. Geographisch hat die Türkei einen europäischen Teil. Die Türkei ist Mitglied des Europarates, seit 1963 mit den Europäischen Gemeinschaften assoziiert und heute Beitrittskandidatin für die EU. Die Türkei hat erfreulicherweise viele starke Bindungen an Deutschland und Europa, und sie bewegt sich Richtung Europa.

Sie argumentieren vor allem geographisch. Das klingt ziemlich nüchtern.

Geographisch und aufgrund gemeinsamer Wertvorstellungen. Wir in Europa sind geprägt von christlich-jüdisch-abendländischen Traditionen und Werten. Von Demokratie, von Recht, von Menschenrechten. Die Türkei kann zeigen, dass diese Werte auch von einem mehrheitlich muslimischen Land geteilt werden können. Die Türkei ist ein Beispiel dafür, dass Islam und Demokratie, Islam und Rechtsstaat, Islam und Pluralismus kein Widerspruch sein müssen. Das ist von überragender Bedeutung für den Frieden in der Welt.

Die Türkei hat derzeit ein höheres Wirtschaftswachstum als alle EU-Staaten. Die Vorstellung, da steht ein armer Schlucker bettelnd vor der EU-Tür, stimmt nicht mehr.

Richtig. Die Türkei ist auch nach wirtschaftlichen Maßstäben an Europa herangerückt. Es gibt in der Türkei Zweifel, ob Europa es ernst meint mit fairen und ergebnisoffenen Beitrittsverhandlungen. Und es gibt auch in Teilen der türkischen Gesellschaft ein wachsendes Selbstbewusstsein. Einige sagen, dass ihr Land nicht unter allen Umständen in die EU müsse. Auch deshalb pflege ich das Verhältnis zu Präsident Gül intensiv, tausche mich auch regelmäßig telefonisch über Probleme aus und verliere bei all dem das große Ganze nicht aus den Augen.

Das große Ganze?

Die Türkei ist die Brücke zu Europa und Nahost. Sie kann eine vermittelnde Rolle spielen, gerade angesichts der Veränderungen in der arabischen, in der muslimischen Welt. Darin liegen Chancen, aber auch eine große Verantwortung. Deswegen hat mich von Anfang an die Eintrübung des türkisch-israelischen Verhältnisses im Zusammenhang mit den Vorfällen um die Gaza-Flottille sehr beschäftigt. Es ist wichtig, dass sich dieses Verhältnis wieder verbessert. Wir brauchen eine Türkei mit einer überzeugenden, positiven Rolle im Nahostkonflikt.

Deutschland hat gute Beziehungen zu Israel und zur Türkei. Kann Berlin da helfen, den aktuellen Konflikt zu entschärfen?

Wir haben hervorragende Beziehungen sowohl zu Israel als auch zur Türkei. Deshalb liegt uns so daran, dass beide wieder zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zurückfinden. Den Weg dahin müssen beide Länder aber vor allem untereinander finden. Deutschland genießt großes Vertrauen in der Region. Bei Israelis wie bei den Palästinensern, in der Türkei und in den Staaten Nordafrikas. Das ist eine große Aufgabe für die deutsche Diplomatie. Mit dem Ansehen, das Deutschland über Jahrzehnte durch die Aufarbeitung seiner eigenen Fehler in der Geschichte erlangt hat, müssen wir pfleglich umgehen. Das heißt, unseren Beitrag als Partner dieser Länder im Rahmen der EU leisten, aber uns auch nicht aufdrängen, uns nicht überschätzen, sondern mit ganzer Kraft alles tun, was wir tun können.

So bescheiden, dass man sich auch enthalten sollte, wie im Fall Libyen?

Es muss ein ganz hohes Gut sein, dass Europa mit einer Stimme spricht, auch zum Nahost-Friedensprozess. Nur wenn Europa einig ist, wird es eine Rolle spielen hin zu notwendigen Friedensverhandlungen zwischen Israel und Palästina, damit am Ende zwei unabhängige, langfristig lebensfähige Staaten stehen, die in guter Nachbarschaft miteinander auskommen. Wenn das gelingen würde, könnte diese Region mehr als jetzt davon profitieren, dass Millionen Touristen die Heiligtümer der Muslime, der Juden und der Christen in Jerusalem und anderswo besuchen wollen.

Sie bezeichnen Präsident Gül als Freund. Welche Erwartung haben Sie an diesen Freund?

Dass wir die außergewöhnlichen deutsch-türkischen Beziehungen auf verschiedensten Feldern ausbauen und intensivieren und sie mit gegenseitiger Sympathie unterlegen. Die Türkei ist das einzige Land, aus dem drei Millionen Menschen bei uns leben, von denen inzwischen etwa die Hälfte Deutsche sind. Millionen Deutsche reisen in die Türkei. Viele leben dort für längere Zeit. Es gibt gegenseitige kulturelle Befruchtungen über Jahrhunderte, viele deutsch-türkische Partnerschaften. Wenn ich an den früheren Regierenden Bürgermeister von Berlin, Ernst Reuter, denke, der in Ankara einst Exil gefunden hat, wenn ich an Filmemacher wie Fatih Akin denke, an Komponisten, Pianisten, Sportler, bis hin zu unserem Nationalspieler Mesut Özil, dann haben wir viel Anlass, uns aneinander zu freuen.

Wenn man Sie schwärmen hört, denkt man: Eigentlich muss Deutschland für einen EU-Beitritt der Türkei werben.

Zu den Beitrittsverhandlungen habe ich schon bei meinem Staatsbesuch im vergangenen Jahr in Ankara gesagt, dass diese fair und ergebnisoffen geführt werden müssen. Darüber hinaus schwärme ich in der Tat für die guten deutsch-türkischen Beziehungen. Auch, weil wir der Türkei historisch viel zu verdanken haben. Denken Sie daran, dass die Türkei zu Zeiten des Eisernen Vorhangs ein verlässlicher Partner in der Nato war. Auch im Europarat arbeiten wir gut zusammen. So etwas gerät leider allzu schnell in Vergessenheit, deswegen muss man gelegentlich daran erinnern.

Sieht das die türkische Seite genauso?

Präsident Gül hat immer wieder gesagt, wie sehr ihm das türkisch-deutsche Verhältnis am Herzen liegt, und die Türkei hat entsprechende Signale gesendet. Präsident Gül ruft dazu auf, dass die Türken hier in Deutschland akzentfrei Deutsch lernen sollen. Ministerpräsident Tayyip Erdogan hat erklärt, dass die religiösen Minderheiten, also auch die griechisch-orthodoxen und die armenischen Christen in der Türkei, ihre vom Staat konfiszierten Besitztümer zurückerhalten werden. Das muss noch umgesetzt werden, und wir wünschen uns noch mehr Schritte in diese Richtung, zum Beispiel zur Bewahrung des Klosters Mor Gabriel. Aber in einer Situation, in der türkische Nationalisten gegen eine Rückgabe von Kirchenbesitz wettern, ist das ein gutes Zeichen, das wir seit langem angemahnt haben und das wir jetzt entsprechend würdigen.

Trotz der von Ihnen gelobten engen Beziehungen brauchen Türken seit 1980 ein Visum für Reisen nach Deutschland, Deutsche für die Türkei aber nicht. Präsident Gül hat dies gerade erst wieder in einem SZ-Interview kritisiert.

Dies liegt in der Zuständigkeit der Bundesregierung. Für Geschäftsreisende, für Repräsentanten türkischer Unternehmen in Deutschland hat sie mit Dauervisa schon Erleichterungen geschaffen. Es ist zu wünschen, dass hier weitere Fortschritte erzielt werden können.

Für fast alle Balkanländer wurde die Visapflicht inzwischen abgeschafft, ohne größere Probleme.

Die Lage der Türkei ist nicht ganz vergleichbar. Aber wir versuchen über Vereinfachungen und Erleichterungen, beispielsweise bei der Vorsprache in den Konsulaten, voranzukommen.

Nach einem richtigen Gastgeschenk für Gül klingt das nicht.

Wir bemühen uns um besondere Gesten. Meine Frau und ich werden Präsident Gül und seiner Frau meine Heimatstadt Osnabrück zeigen. Dort gibt es einen Platz, der nach einem der ersten Türken in Osnabrück benannt ist, der sich um das Zusammenleben verdient gemacht hat und dessen große Familie heute dort hoch anerkannt lebt. Da sieht man an einem konkreten Beispiel, wie stark die zu uns Gekommenen, ihre Kinder und Enkelkinder am Wachstum, am wirtschaftlichen Erfolg, aber auch am kulturellen und gesellschaftlichen Leben beteiligt sind. Die vielen Erfolgsgeschichten verlaufen meistens im Stillen ohne die Aufmerksamkeit, die sie verdient hätten.

Das ist noch keine Geste an die Türkei.

Meine Botschaft vom 3. Oktober 2010 - 'der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland' - ist in der Türkei gut aufgenommen worden. Das gilt auch für meine Entscheidung, noch als Ministerpräsident in Niedersachsen, eine türkischstämmige Deutsche als Landesministerin in ein ganz wichtiges Ressort zu berufen. Die Türkischstämmigen in Deutschland stärken auch die deutsch-türkischen Beziehungen. Die türkische Gesellschaft weiß, dass es mir ein Anliegen ist, diese Beziehungen noch weiter zu verbessern. Ich sehe darin ein großes Potential.

Welches?

Die Türkei ist eine dynamisch wachsende Volkswirtschaft, und wir sind das wettbewerbsfähigste, innovativste Land in Europa. Aus unserer Zusammenarbeit ergibt sich vieles. Die Zahlen sind beeindruckend: 4500 deutsche Unternehmen in der Türkei und 75 000 Unternehmer türkischer Herkunft mit etwa 370 000 Mitarbeitern in Deutschland. Dass Türkischstämmige zukünftig mehr Ausbildungsplätze bereitstellen, dass sie eine größere Bedeutung bekommen innerhalb der Wirtschaftsorganisationen, ist wichtig. Schauen wir uns doch um, wir haben heute türkischstämmige Ministerinnen in Baden-Württemberg und Niedersachsen, einen türkischstämmigen Parteivorsitzenden auf Bundesebene. Es gibt eine Vielzahl deutsch-türkischer Erfolgsgeschichten auf technologischen und industriellen Feldern.

Der Bundespräsident outet sich als oberster Türkei-Fan.

Sie haben bisher nach den Chancen, Gesten und Entscheidungen gefragt. Ich spreche auch die Probleme an. Ja, unsere Beziehung ist so gut, weil Vertrauen gewachsen ist. Einwanderer aus der Türkei haben Deutschland vielfältiger, offener und der Welt zugewandter gemacht. Gleichzeitig habe ich nie die Schwierigkeiten verschwiegen. Am 19. Oktober 2010 in der Türkischen Nationalversammlung in Ankara habe ich auch über Kriminalitätsraten, Machogehabe männlicher Jugendlicher, Bildungs- und Leistungsverweigerung gesprochen. Aber das sind beileibe nicht nur Probleme von und mit Einwanderern, die haben wir auch mit Einheimischen, die seit vielen Generationen in Deutschland leben. Der offene und respektvolle Umgang ist Voraussetzung für erfolgreiche Integration. Da müssen Gesetze geachtet werden. Werte wie Menschenwürde, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung von Mann und Frau. Der religiös und weltanschaulich neutrale Staat steht nicht zur Disposition. Für mich war es wichtig, auch dies im türkischen Parlament anzusprechen.

Im Oktober wird das 'Gastarbeiterabkommen' mit der Türkei 50 Jahre alt. Viele Türken, vor allem aus der Anfangszeit, sehen ihren Beitrag zum deutschen Wohlstand immer noch nicht gewürdigt.

Ich danke den Türken, die vor 50 Jahren zu uns gekommen sind und den Wohlstand und das Wirtschaftswunder mitgestaltet haben. Sie haben tatkräftig angepackt und unser Land mit vorangebracht. Längst sind aus ihnen Mitbürgerinnen und Mitbürger geworden, die leistungsfähige Arbeitnehmer und Arbeitgeber sind und so weiter zum Erfolg Deutschlands beitragen. Auch deshalb war mir meine Rede am 3. Oktober 2010 in Bremen so wichtig, weil viele bestens integrierte türkischstämmige Mitbürgerinnen und Mitbürger das Gefühl hatten, im falschen Land zu leben oder nicht mehr gewollt zu sein. Die Reaktionen aus der Türkei und von Türkischstämmigen in Deutschland waren sehr positiv. Manche haben mir geschrieben, dass sie das als Ermutigung empfanden, sich mehr zu engagieren und mehr Verantwortung zu übernehmen. Genau das sehe ich als meine Aufgabe an, etwas für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu leisten.

Können Sie verstehen, dass sich viele unwohl fühlen, wenn sie an den Erfolg von Thilo Sarrazins Thesen denken?

Man sollte sich die Wirklichkeit anschauen. Ich habe schon in meiner Antrittsrede gesagt: Was für eine schönere Geschichte kann man sich denken, als die des Vaters der Ministerin Aygül Özkan, dass jemand ungelernt kommt, das Schneiderhandwerk erlernt, eine Schneiderwerkstatt in Hamburg eröffnet, sie bis heute betreibt und seiner Tochter eine Karriere bis zur Ministerin ermöglicht? Sie ist eine der beliebtesten niedersächsischen Politiker. Ein schönes Zeugnis für die Offenheit der Menschen.

Eines der größten Themen in der Türkei war zuletzt die Entmachtung des lange politisch so einflussreichen Militärs durch die Regierung. Wie haben Sie das wahrgenommen?

Auch damit nähert sich die Türkei europäischen Standards an. Andererseits müssen wir genau hinschauen, ob die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird. Das gilt vor allem für Verfahren gegen Journalisten. Die Zahl der Inhaftierten und die Verfahrensdauer geben Anlass, immer wieder Nachfragen zu stellen.

Europa ist in der Krise, ist die europäische Idee überhaupt noch attraktiv?

In meiner Präsidentschaft ist das Jahr 2014 von großer Bedeutung, weil wir dann zurückschauen: auf 100 Jahre Ausbruch des Ersten Weltkriegs, 75 Jahre Beginn des Zweiten Weltkriegs, 25 Jahre Fall des Eisernen Vorhangs. Da kann jedem in Europa deutlich werden, wie die erste Hälfte der vergangenen 100 Jahre aussah, mit zwei Weltkriegen, Weltwirtschaftskrise, Shoah - und wie die zweite Hälfte aussieht mit Demokratie, mit Rechtsstaatlichkeit, Wohlstand, Wachstum, mit der Einheit Europas. Und wenn wir dann fragen, was daraus für die Zukunft erwächst, dann sage ich, es ist die Verpflichtung für mehr als die nächsten 100 Jahre, Europas Fundament zu festigen und darauf Europa weiterzubauen. Weil nur ein einiges, ein freiheitliches, ein solidarisches Europa eine Chance hat, gehört zu werden in der Welt, die sich so dramatisch verändert, mit Brasilien, China, Indien, Indonesien und anderen, die immer mehr Gewicht bekommen, wegen ihrer wachsenden Bevölkerung, ihrer Rohstoffe und wirtschaftlichen Entwicklungen.

Brauchen wir also mehr und nicht weniger Europa?

Unsere Zukunft liegt in Europa und in weiterer Integration. Aber wir müssen es richtig machen. Verträge und Regeln müssen gelten. Mit Regelverletzungen wird man Europa nicht bauen können. Weil dann die Leute das Gefühl haben, dass es unfair zugeht. Es ist ein Grundbedürfnis der Menschen, dass es fair zugehen soll.

Was heißt das für Griechenland?

Es geht keineswegs nur um Griechenland. Deutschland hat selbst die Maastricht-Kriterien nicht eingehalten und 2004/2005 den Stabilitätspakt aufgeweicht. Es geht etwa auch um die Regulierung der Finanzmärkte. Wenn die Menschen das Gefühl bekommen, die Großen lässt man laufen, die Kleinen fängt man, dann liegt darin gewaltiger Sprengstoff.

Aber das Gefühl von Unfairness haben ja auch Menschen in Griechenland, denen Renten und Gehälter gekürzt wurden, während Steuersünder nicht angetastet werden. Und viele Europäer wollen nicht mehr für die Fehler der anderen zahlen. Sprengstoff für Europa?

Europa hat nur dann eine gute Zukunft, wenn jeder Nationalstaat sich zur Decke streckt und Zusagen auch einhält und sich zusätzlich alle anderen einbringen und ebenfalls zur Decke strecken. Nur so kann sich der Solidaritätsgedanke entfalten. Wir sind gemeinsam stark. In einer Welt, in der mehr als jemals zuvor um Einfluss und wirtschaftliche Macht gerungen wird, kann Europa seine Werte nur verteidigen, wenn es gemeinsam auftritt. Unsere Währung Euro ist in diesem Zusammenhang eine Erfolgsgeschichte.

Was heißt das für Deutschland?

Es ist wichtig, dass nicht mehr so stark bilateral hektisch verhandelt wird, sondern dass Europa gemeinschaftlich entschlossen handelt und in den einzelnen Ländern auch schmerzhafte Entscheidungen getroffen werden. Schuldenbremsen in Italien, Spanien und anderswo: Wer hätte das vor drei Monaten für denkbar gehalten? Deutschland muss solidarisch bleiben. Wir sollten nicht vergessen, dass einst Felipe Gonzáles Helmut Kohl angerufen und gesagt hat: Ihr könnt die Einheit erreichen, wie können wir Spanier euch dabei helfen? Ohne Europa hätten wir die deutsche Einheit nicht bekommen. Daran sollten wir uns erinnern, wenn jetzt Europa die Hilfe der Deutschen braucht. Es wird auch mal wieder andersherum gehen.

Sind die Vereinigten Staaten von Europa für Sie auf längere Sicht eine Perspektive, gar eine Herzensangelegenheit?

Die europäische Einigung war für mich ein ganz wichtiger Antrieb, in die Politik zu gehen. Ich habe einst mit der Europa-Union einen Schlagbaum an der holländischen Grenze symbolisch zerlegt. Heute können wir Deutsche überall in der Europäischen Union eine Ausbildung absolvieren, studieren und arbeiten. Schüleraustausch quer durch Europa ist selbstverständlich. Davon hat beispielsweise auch meine Tochter profitiert. Wir reisen ohne Grenzkontrollen. Wir haben Souveränität abgegeben und schon einen hohen Stand der Integration in der EU erreicht. Aber ich wünsche mir noch mehr Europa, zum Beispiel bei der Verteidigung. Der Prozess geht weiter, aber er muss transparent und demokratisch sein. Er muss erklärt werden. Die europafeindlichen Populisten nutzen Ängste. Ängste bekämpft man durch Erklärung, Führung, klaren Kompass und Mut. Die Krise als Chance nutzen: Das gab es oft in Europa, zu unser aller Vorteil.

Die Fragen stellten Stefan Braun und Christiane Schlötzer