Bundespräsident Christian Wulff bei der zentralen Eröffnungsveranstaltung zum "Tag des offenen Denkmals"

Schwerpunktthema: Rede

Lüneburg, , 12. September 2010

Bundespräsident Christian Wulff

Stellen wir uns - einen kurzen Moment lang jedenfalls - Lüneburg ohne diesen wunderschönen Marktplatz vor. Ohne die schönen kleinen Gassen mit Kopfsteinpflaster. Ohne die so liebevoll restaurierten alten Häuser. Undenkbar, werden Sie sagen! Für uns jedenfalls heute undenkbar.

Aber die berühmte Altstadt von Lüneburg hätte auch anders aussehen können, wenn es nicht Menschen gegeben hätte, erst Einzelne, dann immer mehr, die gekämpft haben für die Erhaltung der historischen Bauten. Uns mag es fraglos so erscheinen, dass man ein Kaufmannshaus aus Zeiten der Hanse nicht einfach so abreißt. Aber gerade in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg war das alles andere als selbstverständlich. Man machte sich seine Sorgen um die Standfestigkeit der Häuser - wie Sie wissen, in Lüneburg durchaus mit guten Gründen. Man wollte Platz für Autos, Parkplätze. Man hatte weder die Mittel, noch kannte man die Techniken, um die alten Schätze zu wahren. Man hatte andere Sorgen - anfangs ging es ums nackte Überleben und später um Visionen, die vielleicht eher Utopien als realistische Vorschläge für die Zukunft waren. Vor allem aber fehlte oft der Sinn für den historischen Wert der alten Gebäude.

Heute sind wir doch allesamt dankbar dafür, dass es Menschen gab, die den Wert dieser Denkmale rechtzeitig erkannt haben. Dankbar dafür, dass sie ihre Zeit, ihr Geld, ihr Herzblut dafür eingesetzt haben, dass die wunderschönen historischen Gebäude gerettet und wieder genutzt werden. Wir können alle stolz sein, dass durch diese Restaurierung auch alte Handwerkstechniken neu entdeckt wurden. Und wir sind froh, dass es heute - auch dank der Deutschen Stiftung Denkmalschutz - überall in unserem Land eine breite Bewegung für den Erhalt von Kulturgütern gibt. Die Stiftung lebt vom gemeinsamen Engagement vieler Einzelner in Behörden, die ich hier ausdrücklich loben möchte, in Verbänden, Vereinen, Bürgerinitiativen und von privaten Eigentümern, denen eine große Rolle zukommt. Als Bundespräsident möchte ich meinen Teil dazu beitragen, indem ich - wie alle meine Vorgänger - gerne die Schirmherrschaft über die Stiftung übernommen habe.

Der Erfolg von Initiativen wie dem "Tag des offenen Denkmals" zeigt: Viele Menschen wollen wissen, woher sie kommen und worauf sie aufbauen, auch im wörtlichen Sinne. Dafür braucht es Orte, an denen man - auch das im wörtlichen Sinne - begreifen kann, welche Fähigkeiten, welche Ideen und welchen Sinn für Schönheit unsere Vorfahren hatten. Wer Kinder hat, weiß, wie spannend es ist ihnen zu erklärt, wie das früher funktionierte oder auch nicht funktionierte oder noch nicht funktionierte und wie unsere Vorfahren ihr Leben unter schwierigen Bedingungen gemeistert haben. Um uns herum wandelt sich so vieles so rasant, manches droht verloren zu gehen und darum ist es so besonders wichtig, die gewonnenen Erfahrungen vergangener Generationen auch den nachfolgenden Generationen zu überliefern. Mit diesem Reichtum pflegen wir auch einen Teil unserer Kulturnation und damit unserer eigenen Identität.

Wir sollten das Vergangene natürlich auch nicht idealisieren oder alles um uns herum zu einem Museum machen. Denn die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte des Wandels. Altes verging, Neues kam hinzu. Kulturen sind nie statisch gewesen. Das klingt ja auch im diesjährigen Motto an: "Kultur in Bewegung - Reisen, Handel und Verkehr". Menschen und Dinge, Techniken und Moden, Sitten und Gebräuche zirkulieren nicht erst seit dem Zeitalter der Globalisierung. Fernreisen, Fernhandel, Migration hat es immer gegeben. Und ich finde es gut, dass man am "Tag des offenen Denkmals" zum Beispiel auch erfahren kann, wie frühere Einwanderergenerationen oder Baumeister und Handwerker aus der Fremde das Gesicht unserer Städte positiv und oft entscheidend geprägt haben. Vielleicht schärft das auch unser Verständnis für die heutigen Wandlungsprozesse in unserem Land.

Aber man soll auch nicht Drumherum reden. Wandel geht fast immer mit Gewinn und Verlust einher. Denkmalpflege reflektiert den Geist der Zeit. Auch das kann man am "Tag des offenen Denkmals" erleben. Denken Sie an Ihren "Alten Kran", eines der Wahrzeichen Lüneburgs, einstmals Symbol für Handel, Prosperität. Als Mitte des 19. Jahrhunderts die Eisenbahnlinie Hamburg-Hannover entstand und der Lüneburger Hafen verwaiste, wurde der Kran gewissermaßen zum Denkmal einer vergangenen Epoche. Heute bestaunen wir die damals so revolutionären Dampflokomotiven im Museum - wenn sie denn erhalten blieben.

Am Beispiel Lüneburgs und seiner wunderbaren Altstadt sehen wir auch, dass sich nicht nur die Zeiten ändern, sondern mit ihnen auch die Ansichten darüber, was bewahrenswert ist. Wie oft haben Denkmalschützer, auch in Ihrer Stadt, als einsame Rufer in der Wüste begonnen, wie froh sind wir inzwischen über ihren Einsatz. Lassen Sie uns also fragen, was übersehen wir heute? Wie können wir gegen Ignoranz im Umgang mit unwiederbringlichen Kulturgütern vorgehen? Gegen übertriebenes privates Gewinnstreben und die dadurch motivierte Rücksichtslosigkeit? Wie können wir Überliefertes so bewahren, dass mehr bleibt als bloß die Fassade? Wie schaffen wir es, trotz schwindender Mittel das Wichtige zu unterstützen?

Ohne Sie alle, ohne die tätige Mitarbeit und Hilfe der Bürgerinnen und Bürger für unser gemeinsames Kulturerbe, wird es jedenfalls nicht gehen. Mehr denn je kommt es darauf an, das Engagement zu bündeln und zu kanalisieren. Darum ist letztlich die Deutsche Stiftung Denkmalschutz so überragend wichtig. Denn Stiftungen, Bürgerinitiativen, Einzelpersonen und die öffentliche Hand können durch kluges gemeinsames Handeln erreichen, was allein nur von der Stadt, die sich hier großartige Verdienste erworben hat, allein von einzelnen Bürgern oder Denkmalschutzinitiativen wohl niemals zu schaffen wäre.

Denkmalschutz wird auch weiterhin, da sollten wir uns auch nichts vormachen, ein fortwährender Kampf sein: gegen den Zahn der Zeit, gegen Unkenntnis und leere Kassen. Aber wenn ich mich hier bei Ihnen umsehe, wenn ich sehe, was alles erhalten, zugänglich, lebendig gemacht wurde durch diesen Kampf, wenn ich erlebe, wie stolz die Lüneburgerinnen und Lüneburger auf ihre Häuser und ihre Altstadt sind und wie viele begeisterte Besucherinnen und Besucher man hier erlebt, nicht nur aus Niedersachsen, sondern aus allen Ländern, aus Deutschland und darüber hinaus, dann sage ich mir: Wir müssen uns - wohl frei nach Albert Camus' Sisyphos - den Denkmalschützer, die Denkmalschützerin als einen zutiefst glücklichen Menschen vorstellen. Ja, davon bin ich überzeugt, Denkmalschutz lohnt sich! Vielen Dank!