Bundespräsident Christian Wulff bei der Informations- und Begegnungsreise des Diplomatischen Korps und der internationalen Organisationen in Thüringen

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Friedenstein in Gotha, , 14. September 2010

Bundespräsident Christian Wulff am Rednerpult

Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.

Ich freue mich, dass Sie heute so zahlreich an unserer Informations- und Begegnungsreise teilnehmen. Bereits gestern konnte ich bei meinem Antrittsbesuch hier in Thüringen Eindrücke von diesem herrlichen Bundesland gewinnen und ich freue mich darauf, diese heute mit Ihnen zu vertiefen.

Thüringen ist ein besonders typischer Teil Deutschlands, gewissermaßen das Ebenbild des romantischen Deutschlands, wie es jedes deutsche Kind aus den Märchen der Gebrüder Grimm kennt: Schlösser und Burgen, dunkle Wälder, alte Handwerkskunst und verwinkelte Altstadtgassen - all das finden wir in der grünen Mitte, im Herzen Deutschlands.

Thüringen ist fest mit Deutschland und seiner Geschichte verwurzelt. Hier wurde Großes bewirkt, was uns Deutsche nachhaltig geprägt hat. Martin Luther, der Reformator, legte mit seiner Bibelübersetzung auf der Wartburg die Grundlagen einer einheitlichen deutschen Hochsprache, die beiden Dichterfreunde Schiller und Goethe wirkten als Vertreter der deutschen Klassik am Weimarer Hof. Die Philosophen Fichte, Schelling und Hegel begründeten an der Universität in Jena den Deutschen Idealismus.

Mit dem Fall der Mauer wurden auch die Hindernisse für einen wirtschaftlichen Aufschwung Thüringens, eines traditionellen Industriestandortes in Deutschland, überwunden. Thüringen kann heute das höchste Wirtschaftswachstum aller Bundesländer seit 1991 vorweisen, das von vielen mittelständischen Betrieben getragen wird. Thüringen ist ein innovativer Wirtschaftsstandort in der Mitte Europas, dessen gute Investitionsbedingungen auch viele internationale Unternehmen für sich entdeckt haben. In keinem anderen Bundesland ist daher die Arbeitslosigkeit innerhalb eines Jahres so stark gesunken.

Im zwanzigsten Jahr der Deutschen Einheit habe ich Sie daher gerne ins Herz Deutschlands eingeladen, um gemeinsam mit Ihnen den Puls dieses vitalen Bundeslandes zu spüren. Ganz unmittelbar wollen wir die großen Fortschritte erfahren, die seit der Überwindung von Mauer und Eisernen Vorhang gemacht wurden. Unsere Reise wird uns nach Ilmenau und Weimar führen, sie stehen beide für den Aufschwung und die dynamische Entwicklung in den neuen Bundesländern.

Die traditionsreiche Technische Universität Ilmenau zeichnet sich durch Innovation, Zukunftsorientierung und hohen Praxisbezug aus: Die Ergebnisse der dortigen Spitzenforschung in Bereichen wie Robotik und Medientechnologie können dank der engen Verzahnung mit Unternehmen unmittelbar wirtschaftlich genutzt werden. Ilmenau steht damit auch für den durch neue Ideen erfolgreich bewältigten Strukturwandel, der auch zu den jüngsten günstigen Konjunkturdaten beiträgt. Durch vorausschauende Bildungspolitik und das Bestreben nach Konsolidierung seines Haushaltes legt Thüringen die Grundlage für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung.

Weimar als UNESCO-Weltkulturerbestätte steht nicht nur für das humanistische Ideal und die künstlerische Moderne des Bauhauses, sondern auch für die deutsche Demokratie: Im Nationaltheater, das wir bei unserem Rundgang sehen werden, wurde die Verfassung der Weimarer Republik verabschiedet. Diese demokratischen Ideale trugen auch die friedliche Revolution von 1989, als Bürger Weimars auf den Straßen für Freiheit und Einheit eintraten.

In den 20 Jahren, die seit dem Fall der Mauer vergangen sind, hat sich nicht nur Thüringen entwickelt, auch Deutschland und Europa haben einen Prozess grundlegenden Wandels durchlaufen. Denn mit der Überwindung der Teilung Europas hat sich nicht nur die deutsche Einheit verwirklicht, sondern auch die europäische Einigung. Heute umfasst die Europäische Union eine halbe Milliarde Menschen, die in 27 Mitgliedsstaaten eine einzigartige wirtschaftliche und politische Partnerschaft leben. Diese Partnerschaft ist bestimmt vom Zusammenwirken gleichberechtigter Mitgliedstaaten, die sich auf der Grundlage gleicher Grundwerte und Überzeugungen zu einer immer engeren Europäischen Union zusammengeschlossen haben. Sie begegnen gemeinsam großen Herausforderungen, die auf der Ebene des einzelnen Mitgliedsstaates nicht mehr erfolgreich behandelt werden können und bleiben bei ihren einzelstaatlichen Regelungen, wo sie national erfolgreich sein können.

Ein ganz besonderer Reichtum der Europäischen Union ist die einzigartige Kultur eines jeden Mitgliedstaates und seiner Regionen: Es fügt sich daher gut, dass unsere Reise hier in dieser historischen Residenz in Gotha beginnt: Schloss Friedenstein steht für die Pracht des deutschen Barock und für die engen politischen und verwandtschaftlichen Beziehungen, die Gotha mit Europa verbunden hat.

Schloss Friedenstein wurde im 17. Jahrhundert am Ende des 30-jährigen Krieges gebaut - eines verheerenden Krieges, der ein Menschenalter andauerte. Das Schloss steht mit seinem Namen und mit der allegorischen Friedenskuss-Darstellung über seinem Eingang auch für die Sehnsucht der Menschen nach Frieden.

Der Wunsch nach einer friedlichen und gerechten Welt ist uns noch heute Verpflichtung und Auftrag: Nur gemeinsam können wir den großen globalen Herausforderungen wie Klimawandel, Armutsbekämpfung und Sicherheit bewältigen. Hierfür wird sich Deutschland in der Europäischen Union und in der Welt weiterhin einsetzen. Ich will daran als Bundespräsident nach Kräften mitwirken.

Für die großen Aufgaben, die vor uns liegen, brauchen wir aber auch "Brückenbauer" - Diplomaten wie Sie, die die Hintergründe, kulturellen Eigenheiten und spezifische Denkweisen ihrer Gastländer ergründen, den jeweils eignen Regierungen vermitteln und so Brücken des Verständnisses bauen. Dies ist der Kern einer guten Außenpolitik, die im gegenseitigen Dialog und Respekt gelingt. Lassen Sie uns daher diesen Tag auch dazu nutzen, "Brücken zu bauen". Ich freue mich auf die Begegnung mit Ihnen und gute Gespräche.

Herr Nuntius, meine Damen und Herren, vor zwanzig Jahren wäre uns diese Reise nicht möglich gewesen. Das macht sie so besonders. Es bedeutet mir viel, Ihnen am Beispiel Thüringens nahezubringen, welchen Weg die Deutschen seitdem gemeinsam zurückgelegt haben. Ich wünsche uns allen eine Reise mit vielen neuen, bleibenden Eindrücken. Ich bitte Sie, mit mir das Glas auf das Wohl des Freistaats Thüringen zu erheben.