Bundespräsident Christian Wulff bei der Enthüllung des ersten Steins der Deutsch-Türkischen Universität

Schwerpunktthema: Rede

Istanbul, , 22. Oktober 2010

Bundespräsident Christian Wulff bei seiner Ansprache zur Grundsteinlegung der ersten Deutsch-Türkischen Universität in Istanbul

Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.

Die lange Tradition der wissenschaftlichen Zusammenarbeit, die uns Deutsche und Türken verbindet, wird heute von einem ganz besonderen Anlass gekrönt: Wir enthüllen den ersten Stein für die erste Deutsch-Türkische Universität. Damit setzen wir ein Zeichen für die Zukunft. Denn Bildung und Forschung sind nicht nur unverzichtbar, um die großen Fragen unserer Zeit zu stellen und Antworten zu finden. Investitionen in Bildung und Forschung helfen uns auch, uns gemeinsam auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten. Die Türkei und Deutschland sind heute mehr denn je Partner für die Wissenschaft.

Wir stützen uns dabei auf eine lange gemeinsame Geschichte. Der Gründer der Türkischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk, lud deutsche Wissenschaftler und Intellektuelle ein, Reformen im türkischen Hochschulwesen zu realisieren. Atatürk erkannte früh die große Bedeutung, die wissenschaftliche Exzellenz und akademische Forschung für den Aufbau eines modernen Staats haben. Manche Wissenschaftler, Politiker und Künstler, die in dieser Zeit hierher kamen, hatten aber auch andere Gründe: Sie wurden wegen ihrer Herkunft oder ihrer Überzeugung vom Regime der Nationalsozialisten verfolgt. Hier in der Türkei fanden viele Deutsche wie der Naturwissenschaftler Friedrich Dessauer oder der Ökonom Fritz Baade einen sicheren Zufluchtsort und nicht selten eine neue akademische Heimstatt. Diese Bereitschaft der Türkei, die Verfolgten aufzunehmen, werden wir nie vergessen!

In den vergangenen 50 Jahren haben sich unsere akademischen Beziehungen stark intensiviert. An den europäischen Förderprogrammen ist die Türkei bereits jetzt als assoziiertes Mitglied beteiligt. Die Schwerpunkte unserer Forschungskooperation liegen heute in den Bereichen Geowissenschaften, Umweltforschung, Softwaresysteme, Biowissenschaften sowie Gesundheit und Medizin. Die durch gemeinsames Forschen erzielten Erkenntnisse helfen, unsere Wettbewerbsfähigkeit gegenüber aufstrebenden Ländern wie Brasilien, Indien oder China zu wahren. Vor allem aber haben Deutschland und die Türkei ein starkes gemeinsames Interesse: Es gilt, Ernährung, Gesundheit und Wohlstand einer bis 2050 auf vielleicht mehr als neun Milliarden Menschen wachsenden Weltbevölkerung zu sichern und deren Umwelt und Klima zu schützen. Gewiss, wissenschaftlicher und technischer Fortschritt ist auch mit Risiken verbunden, aber: Reden wir die Chancen, die sich durch neues Wissen und neue Technologien ergeben, nicht klein!

Es ist sehr zu begrüßen, dass die Türkei in jüngster Zeit wichtige Schritte auf dem Weg zur Verankerung von Mehrsprachigkeit an den Schulen unternommen hat. Die Stärkung des Unterrichts in der ersten und zweiten Fremdsprache ist eine wichtige Voraussetzung für eine intensive Beteiligung türkischer Studierender an europäischen Bildungsprogrammen. Nicht zuletzt ist Mehrsprachigkeit auch entscheidend für eine Zugangsberechtigung zur Deutsch-Türkischen Universität.

Zu meiner großen Freude sind türkische Studentinnen und Studenten an den deutschen Hochschulen sehr präsent. Sie stellen unter allen bei uns studierenden Ausländern die zweitgrößte Gruppe. 70 Prozent von ihnen haben auch ihre Hochschulzugangsberechtigung in Deutschland erworben. Auf diesem Weg sollten wir weiter voranschreiten. Ich ermutige alle jungen Frauen und Männer türkischer Herkunft, die in Deutschland leben, ihre Chancen wahrzunehmen und einen Hochschulabschluss zu erwerben. Gleichzeitig betone ich auch, dass wir uns gerade im Hochschulbereich noch stärker öffnen müssen. Ziel muss es sein, die besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Europa und der Welt davon zu überzeugen, wie attraktiv das Forschen in Deutschland heute ist.

Die besonderen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei wollen wir nun mit der Deutsch-Türkischen Universität, DTU, gemeinsam weiterentwickeln. Ziel ist es, eine Universität mit fünf Fakultäten und unter Mitarbeit deutscher Partneruniversitäten aufzubauen. Ich freue mich sehr, dass das türkische Parlament das Gründungsgesetz für die Universität am 1. April 2010 beschlossen hat. Sie, sehr geehrter Herr Professor Sanal, sind vor wenigen Tagen durch Herrn Staatspräsidenten zum Gründungsrektor ernannt worden.

Die DTU stößt auf großes Interesse bei deutschen und türkischen Hochschulen. Das Engagement des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und von 26 deutschen Mitgliedshochschulen, darunter große, bedeutende Universitäten, zeigt diese Entschlossenheit. Und wir freuen uns, dass auch die türkischen Universitäten und ihre Partner sich stark für eine intensive Zusammenarbeit engagieren.

Herr Staatspräsident, Sie und ich eröffnen heute symbolisch die DTU. Sie ist ein herausragendes Projekt der deutsch-türkischen Wissenschaftskooperation. Als gemeinsam verantwortete Universität bringt sie die Stärken beider Hochschulsysteme zusammen. Sie verbindet unterschiedliche wissenschaftliche und kulturelle Traditionen und ermöglicht gerade dadurch gemeinsames Handeln. In diesem Sinne soll diese Universität auch eine Plattform sein, auf der sich türkische und deutsche Studierende, junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler austauschen und in Lehre und Forschung miteinander kooperieren.

Voraussichtlich im nächsten Jahr werden die ersten Studierenden und Wissenschaftler einige Zeit an der Deutsch-Türkischen Universität verbringen. Und wenn sie Istanbul wieder verlassen, werden sich viele von ihnen gewiss in den Gedanken Ernst Reuters, des früheren Regierenden Bürgermeisters von Berlin, wiedererkennen. Ernst Reuter, der als von den Nationalsozialisten Verfolgter in Istanbul Aufnahme fand, äußerte nach seiner Rückkehr nach Deutschland:

"Sicher werde ich nach diesem Lande und vor allem nach Istanbul mich immer sehnen und wenn jemals unsere Verhältnisse so etwas wieder ermöglichen sollten, dann werde ich bestimmt hierher noch einmal zurückkommen."

Mit der Deutsch-Türkischen Universität ist auch etwas vom Geiste Ernst Reuters hierher zurückgekehrt und daher bin ich überzeugt: Diese Universität in Istanbul, der diesjährigen Kulturhauptstadt Europas, wird der deutsch-türkischen Zusammenarbeit in der Wissenschaft noch größere Dynamik verleihen und die Freundschaft zwischen unseren beiden Völkern stärken.