Bundespräsident Christian Wulff bei der 10. Verleihung des Preises des Historischen Kollegs

Schwerpunktthema: Rede

München, , 5. November 2010

Bundespräsident Christian Wulff und der ausgezeichnete Historiker Christopher Clark bei der Preisverleihung

Der Preis des Historischen Kollegs wird heute zum 10. Mal verliehen. Zum 1. Mal seit seinem Bestehen geht er an einen Wissenschaftler aus dem nicht-deutschsprachigen Ausland. Ich finde, der Auswahlkommission ist eine außergewöhnliche Wahl gelungen. Denn mit Ihnen, lieber Herr Professor Clark, bekommt ein in Großbritannien lebender Australier in Bayern einen Preis für ein viel gelobtes Buch über Preußen. Meinen herzlichen Glückwunsch!

Auf den ersten Blick ist diese Konstellation erstaunlich. Aber auch Theodor Mommsen war kein römischer Bürger. Und Norman Davies hat keine polnischen Wurzeln. Und trotzdem verdanken wir den beiden herausragende Werke über die römische beziehungsweise die polnische Geschichte. Vermutlich ist es gerade die Distanz, die einen besonders klaren Blick auf die Ereignisse erlaubt. Sie ist eine Bereicherung für das Objekt der Betrachtung. Und zugleich auch für den Betrachter selbst. Denn in der Auseinandersetzung mit dem anderen - ob in der Vergangenheit oder in der Gegenwart - entsteht zugleich auch ein neuer Blick auf das Eigene. Dafür steht auch die allgemeine Erkenntnis: Reisen bildet. Und ich bin überzeugt: Wir brauchen noch mehr Mut zum offenen Umgang mit Fremdem und mit Fremden.

In der preußischen Geschichte steckt viel Faszinierendes, auch Irritierendes und manch Negatives. In jedem Fall aber: Preußen gibt uns bis heute zu denken! Preußen steht etwa dafür, wie ein Staat eine tiefe Krise überwinden kann, indem er sich auf seine geistigen Kräfte besinnt, auf Bildung, Kultur und Wissenschaft. Solchen Reformgeist brauchen wir auch heute - und den unbedingten Willen, unser Land zu modernisieren und zukunftsfähig zu machen.

Und noch einen anderen Aspekt finde ich vor dem Hintergrund unserer heutigen Debatten sehr spannend: Die preußische Geschichte ist nur erzählbar als Geschichte verschiedener Bevölkerungsgruppen, als Geschichte von Austausch und wechselseitiger Beeinflussung. Gerade in den letzten Wochen ist immer mal wieder an die Bemerkung Friedrichs des Großen erinnert worden, es solle jeder "nach seiner Façon" selig werden, was einen bei aller Vielfalt allen gemeinsamen Grundkonsens keineswegs ausschließt, sondern ihn ihm Gegenteil sogar voraussetzt. In seiner Politik paarten sich Einsicht in die wirtschaftliche Notwendigkeiten und die ehrliche Überzeugung, dass Toleranz die beste Voraussetzung für ein gutes Zusammenleben ist.

Von dieser Haltung sollten wir uns auch heute leiten lassen, wenn wir über Einwanderung, über die Freiheit der Religion, über das tolerante und produktive Zusammenleben von Verschiedenen in einem Land debattieren. Und wenn wir fragen, was von Preußen geblieben ist, dann ist das preußische Toleranzdenken sicher ein ganz wichtiges Beispiel. Spuren davon finden sich bis heute, etwa in unserem Grundgesetz, Artikel 33, nach dem "der Genuss bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte [...] unabhängig von dem religiösen Bekenntnis" ist - er geht bis in die Formulierung hinein auf die preußische Verfassung von 1850 zurück.

In jedem Fall sensibilisiert Ihre facettenreiche Betrachtung der preußischen Geschichte, lieber Professor Clark, auch für die Umbrüche der Gegenwart - wie jede gute historische Arbeit. Aufgabe des Historikers ist es ja nicht allein, das Vergangene für die Gegenwart begreifbar zu machen. Er sollte auch das Gegenwärtige ins klärende Licht geschichtlicher Erfahrungen rücken. Und er sollte, wo möglich, auch über die eigenen Ländergrenzen hinausschauen.

Das geschieht immer öfter. Und oft auch in Kooperation über Landes- oder Fächergrenzen hinweg. Stellvertretend für die vielen guten Beispiele hierfür sei die Arbeit der Schulbuchkommissionen genannt, die sich länderübergreifend um einen gemeinsamen Blick auf die Geschichte bemühen. Denn gerade in den Schulen sollte der Blick über den sprichwörtlichen Tellerrand selbstverständlich sein. Das gilt ganz sicher im Hinblick auf Europa, vor allem aber mit Blick auf die Entwicklungen in Afrika, Asien oder Lateinamerika. Was wissen wir über andere? Was wissen andere über uns? Wie sehen andere die Welt? Wie sehen wir sie? Solche Fragen müssen wir beantworten können, um einander im weltweiten Dialog wirklich verstehen zu können.

Es ist gut, dass das Historische Kolleg diesen Blick über den Tellerrand befördert. Im vergangenen Jahr etwa mit einer Konferenz zum Verhältnis von Judentum, Christentum und Islam vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Vor allem geht es dem Historischen Kolleg aber um die "Förderung von deutschen und ausländischen Gelehrten, die sich im Bereich der historisch orientierten Wissenschaften durch herausragende Leistungen in Forschung und Lehre ausgewiesen haben".

Der Preis der heute verliehen wird, ist ein wichtiger Baustein dieser Förderung. Ich freue mich, dass Sie, sehr geehrter Herr Liesen, für die Alfred- und Cläre-Pott-Stiftung, die das Preisgeld in diesem Jahr finanziert hat, teilnehmen. Unter Ihrer Ägide hatte der Stifterverband für die deutsche Wissenschaft seinerzeit das Historische Kolleg und den Preis des Historischen Kollegs aus der Taufe gehoben. Dieses Projekt war und ist Ihnen ein Herzensanliegen. Mit Ihrer heutigen Teilnahme schließt sich in gewisser Weise der Kreis, auch wenn der Stifterverband sich zwischenzeitlich aus der operativen Förderung verabschiedet hat. Vielen Dank für Ihr Engagement.

Mein herzlicher Dank gilt dem Freistaat Bayern, der durch seinen Beitrag zur Grundfinanzierung die Kontinuität der Arbeit des Historischen Kollegs gewährleistet. Das ist zu loben - und es ist vorausschauend.

Die Arbeit des Historischen Kollegs lebt vor allem von der Arbeit der Stipendiaten. Den Spendern, die diese Stipendien ermöglichen, gilt mein herzlicher und ausdrücklicher Dank. Ihr Engagement ist mutig, denn welcher Forscher und welches Vorhaben damit finanziert werden, ist im Moment der Spendenzusage ja noch offen. Und es ist ein Engagement, mit dem sich der Gebende nur bedingt zu schmücken vermag, denn es dient vor allem dem Forscher, der Forscherin und der Forschung. Umso mehr gilt mein Dank all jenen, die hier an beste Traditionen des Mäzenatentums anknüpfen.

Ich weiß, dass die Suche nach neuen Förderern eine Herkulesaufgabe ist. Kaum ist eine Finanzierung gesichert, muss schon die nächste in Angriff genommen werden; ähnlich wie im Kampf des Herkules mit der Hydra, der hier an der Wand hinter uns eindrucksvoll dargestellt ist. Aber ich hoffe doch, dass es dem Historischen Kolleg auch weiterhin gelingen wird, Sponsoren zu finden. Allen potenziellen Förderern sei gesagt: Es ist in jedem Falle gut angelegtes Geld. Denn nur eine Gesellschaft, der die Vergangenheit etwas wert ist und die nicht vergisst, wo ihre vielfältigen Wurzeln liegen, wird den Weg in die Zukunft erfolgreich beschreiten können! Sie, lieber Herr Professor Clark, haben mit Ihrem Werk einen ausgezeichneten Beitrag dazu geleistet - herzlichen Glückwunsch nochmals zu diesem Preis.