Bundespräsident Christian Wulff bei der offiziellen Gedenkveranstaltung anlässlich des 66. Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz

Schwerpunktthema: Rede

Auschwitz-Birkenau, Polen, , 27. Januar 2011

Bundespräsident Christian Wulff bei seiner Rede

Heute vor 66 Jahren begann für die wenigen Überlebenden von Auschwitz das Ende des Leids. Die Befreier waren gekommen - endlich.

Was die Opfer in den Jahren zuvor in Auschwitz erleiden mussten, ist unfassbar, unsagbar, unbeschreiblich. Und dennoch muss es immer wieder erfasst, gesagt und beschrieben werden. Hunderttausende wurden nach einer zynischen Selektion unmittelbar von der Rampe in die Gaskammern geschickt und starben einen schrecklichen Tod. Kinder wurden von ihren Eltern getrennt, Familien auseinander gerissen. Diejenigen Häftlinge, gleich welcher Herkunft, die nicht sofort ermordet wurden, mussten unter den schrecklichsten Bedingungen Zwangsarbeit leisten. Sie litten Hunger und waren der Witterung schutzlos ausgesetzt. Sie wurden unmenschlichen Strafen, Schikanen und sogenannten medizinischen Versuchen unterworfen, die in Wahrheit grausame, barbarische Folter waren. Die Willkür der Täter kannte keine Grenzen.

Geschunden und ermordet wurden in Auschwitz und anderen Lagern Juden, Sinti und Roma, Kriegsgefangene, Widerstandskämpfer, Homosexuelle, Behinderte und andere.

Schon bevor sie nach Auschwitz kamen, hatten erst die deutschen Juden, dann auch die Juden der von Deutschland besetzten Länder zunehmende Entrechtung, Demütigung und Erniedrigung erleben müssen. Sie gipfelte in der systematischen Verfolgung der europäischen Juden mit dem Ziel ihrer Vernichtung.

Auschwitz liegt auf polnischem Boden. Eine ganz große Zahl von Opfern waren polnische Staatsangehörige. Polen und seine Bewohner haben unendlich unter der deutschen Besatzung und dem nationalsozialistischen Rassenwahn gelitten.

Der Name Auschwitz steht wie kein anderer für die Verbrechen Deutscher an Millionen von Menschen. Sie erfüllen uns Deutsche mit Abscheu und Scham. Wir tragen hieraus eine historische dauernde Verantwortung, die unabhängig ist von individueller Schuld: Wir dürfen nie wieder zulassen, dass jemals wieder solche Verbrechen geschehen. Und wir müssen die Erinnerung ewig wach halten. Denn das Wissen um das geschehene Grauen, die Erkenntnis dessen, was Menschen fähig waren, anderen Menschen anzutun, sind Mahnung und Verpflichtung für die gegenwärtigen und kommende Generationen, die Würde des Menschen unter allen Umständen zu wahren und niemals mehr andere zu verfolgen, zu erniedrigen oder gar zu töten, weil sie anders sind in Glaube, Volkszugehörigkeit, politischer Überzeugung, oder sexueller Orientierung.

Für uns Deutsche ist es ein großes Glück und eine große Gunst, dass die Opfer und ihre Nachfahren bereit waren und bereit sind zur Versöhnung. Wir wissen, dass das nicht einfach war. Umso mehr wissen wir zu schätzen, dass heute wieder jüdisches Leben in Deutschland blüht, wir einzigartige Beziehungen zu Israel haben und wir in tiefer Freundschaft mit unseren polnischen und anderen Nachbarn verbunden sind. Das ist ein unermessliches Geschenk für uns.

Es ist unmöglich, sich das Grauen in seiner Gesamtheit vorzustellen. Erst wenn die Leidenden einen Namen, ein Gesicht, ein Zuhause bekommen, können wir uns ihrem Schicksal annähern und versuchen nachzuempfinden, was sie durchgemacht haben. Deshalb ist es so unendlich wichtig, dass Überlebende bis heute, inzwischen hoch betagt, Schülerinnen und Schülern aus ihrem Leben berichten, schildern, wie es war, "mit 17 an der Rampe" zu stehen.

Ich bin tief dankbar, dass heute Überlebende unter uns sind, mich sogar aus Deutschland hierher begleitet haben. Solange Sie Zeugnis ablegen, gibt es kein Vergessen. Wenn wir Ihr Zeugnis bewahren und weitertragen, wird es kein Vergessen geben. Wer Ihre Schilderungen gehört hat, bleibt ein Leben lang beeindruckt. Sie sind die Opfer des Schreckens und gleichzeitig die Brücke in eine gute Zukunft. Es ist für mich von großer Bedeutung, als Bundespräsident mit Ihnen zusammen in Auschwitz sein zu können.

Je weniger von Ihnen persönlich berichten können, desto wichtiger werden die schriftlichen, fotografischen und filmischen Zeugnisse und der Erhalt der Erinnerungsstätten, vor allem der Gedenkstätte Auschwitz. Lassen Sie uns alle, nach unseren Möglichkeiten, einen Beitrag dazu leisten.

Aber auch Hinweise an Häusern auf die entrechteten, vertriebenen, ermordeten früheren Bewohner können uns dabei helfen. Oder die sogenannten "Stolpersteine", kleine Gedenktafeln aus Messing, die, am letzten selbst gewählten Wohnort in den Bürgersteig eingelassen, an die Opfer erinnern.

Die heutige Jugend muss die Wahrheit über das nationalsozialistische Terrorregime kennen. Dann wird sie denen vernehmlich und entschieden widersprechen, die die Tatsachen leugnen oder verfälschen. Sie wird denjenigen entgegentreten, die nicht begreifen wollen, die die Toten missachten und die die Überlebenden verhöhnen. Das ist der besondere Auftrag an die Deutschen, hierfür ewig einzustehen.

Deshalb hatte ich im vergangenen November Jugendliche eingeladen, mich nach Israel und Yad Vashem zu begleiten. Deshalb habe ich heute gemeinsam mit Präsident Komorowski in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte mit Jugendlichen über Zivilcourage, über eine Kultur des Hinsehens und Eingreifens, wenn immer es notwendig ist, diskutiert.

Wir wollen nicht vergessen, dass es auch damals Menschen aus allen Nationen und Schichten gab, die nicht weggeschaut, sondern geholfen haben, soweit es ihnen möglich war, und die oft genug ihr eigenes Leben dafür riskiert haben. Auch vielen dieser "Gerechten der Völker" wird in Yad Vashem gedacht.

Erinnerung, Gedenken und Trauer sollen das Leben nicht lähmen, sollen Zukunft nicht versperren, sondern gerade möglich machen. Wir tragen gemeinsam Verantwortung dafür, dass ein solcher Zivilisationsbruch nie wieder geschieht - in Europa und weltweit. Deshalb, um der Opfer willen und um unserer Zukunft willen, müssen wir die Erinnerung wach halten.