Festveranstaltung anlässlich des 50. Gründungstages von Amnesty International

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 27. Mai 2011

Rede von Bundespräsident Christian Wulff am 27. Mai 2011 in Berlin

Bundespräsident Christian Wulff bei seiner Rede

Seit 50 Jahren leisten Menschen bei Amnesty International Großartiges. Sie tun dies einfach so – ohne äußere Verpflichtung, aus Anstand, mit Empathie und Verantwortungsgefühl. Unzählige haben sich in aller Welt um die Rechte und den Schutz ihrer Mitmenschen verdient gemacht. In Deutschland setzen sich 114.000 ehrenamtliche Unterstützerinnen und Unterstützer für Amnesty ein. Einige von ihnen sitzen heute Abend hier im Haus der Kulturen der Welt.

Ich denke in diesem Moment auch an jene, die nicht hier sein können, weil sie als Opfer von Unrecht in Gefängniszellen eingesperrt sind: verfolgt, verfemt, traumatisiert. Menschen, die gewaltlos protestiert oder einfach nur ihre Meinung geäußert haben; die an unbekannten Orten festgehalten werden, die erniedrigende Behandlungen oder sogar Folter erleiden. Für sie spüren wir die Verantwortung, uns einzusetzen.

Amnesty International gibt diesen Opfern eine Stimme und ein Gesicht, in zehntausenden Einzelfällen. Wir dürfen sie nicht vergessen und ihr Schicksal nicht verdrängen, sondern wir müssen handeln, unsere Möglichkeiten nutzen – darauf weisen Sie mit allem Nachdruck hin. Damit das gelingt, brauchen wir verantwortlich engagierte Menschen: Menschen wie Sie, die über den Schutz der Menschenrechte in aller Welt wachen und kämpfen. Dafür danke ich Ihnen von Herzen!

Ihr Engagement hilft. Es macht Menschen Mut, für diese eine Überzeugung einzutreten: Dass die Menschenrechte überall auf der Welt gelten, dass sie nicht veräußert oder zur Disposition gestellt werden können und dass jedes einzelne Menschenrecht die Voraussetzung des anderen ist.

Wir Deutsche tragen eine besondere Verantwortung für die Einhaltung der Menschenrechte. Unser Land hat zwei Unrechtsregime erlebt, die uns besondere Mahnung und Verpflichtung sind. Wir kennen Plötzensee, Hohenschönhausen oder Hoheneck. Der Einsatz für Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit muss die Maxime deutscher Politik sein – weltweit.

Besonders gilt diese Verpflichtung für Europa. Unser Kontinent hat einen langen Weg zurückgelegt, bis die Geltung der Menschenrechte allgemein akzeptiert war. Auch heute gibt es immer noch Defizite: Über Einzelfälle von Menschenrechtsverletzungen entscheidet tagtäglich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.

Leider gibt es auch in Europa immer noch systematische Verletzungen. Weißrussland führt uns das in unerträglicher Weise vor Augen. Ich war heute in Warschau beim Treffen der zentraleuropäischen Präsidenten, und ich habe in meiner Rede darauf verwiesen: Wer als Politiker, Staatsanwalt oder Richter in der weißrussischen Justiz daran mitwirkt, friedliche demokratische Oppositionelle aus politischen Gründen zu verurteilen, muss dafür Konsequenzen tragen. Dabei geht es mir um die Ausweitung gezielter Maßnahmen der Europäischen Union: Wer in seinem Land die elementarsten Menschenrechte mit Füßen tritt, wer den Oppositions-Präsidentschaftskandidaten für fünf Jahre in ein Straflager schickt, den wollen wir in der EU nicht haben, der soll auch nicht in Italien urlauben oder in Deutschland Krankenhäuser nutzen und seine Kinder sollen nicht in London zur Schule gehen. Visapolitik muss hier klar machen, was Europa niemals mehr hinzunehmen bereit ist.

Die Welt wächst enger zusammen. Nirgendwo, in keinem Land, können wir akzeptieren, dass Angeklagten elementare Rechte vor Gericht vorenthalten werden – sei es das Recht auf einen Strafverteidiger, die Unschuldsvermutung oder das Recht auf Kontakt mit Angehörigen.

Die Erfolge für die internationale Justiz und die Sache der Menschenrechte ermutigen uns. Wir alle fühlen uns bestärkt durch die Festnahmen von Laurent Gbagbo in der Elfenbeinküste oder, erst gestern, von Ratko Mlatic in Serbien. Niemand kann die Menschenrechte dauerhaft verletzen, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Wenn es darum geht, die universelle Wertegemeinschaft der Menschenrechte zu verwirklichen, haben diejenigen Frauen und Männer besondere Glaubwürdigkeit, die große persönliche Risiken für ihre Überzeugungen eingegangen sind. Einige von ihnen trugen später hohe politische Verantwortung. Zu Recht werden vielen von Ihnen Nelson Mandela oder auch Mahatma Gandhi in den Sinn kommen, deren Werke der Versöhnung die Welt beeindrucken.

Auch heute gibt es Beispiele für Menschen, die von politisch Verfolgten zu hohen Verantwortungsträgern wurden: Ich denke an Präsidentin Dilma Rousseff in Brasilien oder an den polnischen Präsidenten Bronisław Komorowski. Sie und andere zeigen uns, dass wir den Glauben an die Kraft der Menschenrechte auch in Zeiten der Diktatur nicht aufgeben dürfen. Die einen haben in Ihrem Kampf für Demokratie und Menschenrechte nicht geglaubt, später einmal frei gewählte Staatspräsidenten zu sein. Die anderen, Diktatoren, müssen daran denken, früher oder später vom Internationalen Strafgerichtshof zur Rechenschaft gezogen zu werden. Sonst sollten wir sie daran erinnern!

Meine Zusammenkunft heute in Warschau war der lebende Beweis, dass Träume wahr werden können.

Das Amt des Bundespräsidenten gibt mir die Möglichkeit zu politischen Gesprächen, in denen ich Menschenrechtsfragen anspreche. Ich sehe mein Amt als Verpflichtung, weltweit für unsere Werte einzustehen und Überzeugungsarbeit zu leisten. Heute habe ich dies beim Gespräch mit dem Präsidenten der Ukraine getan.

Staatliche Stellen und Nichtregierungsorganisationen werden oft unterschiedliche Wege gehen und auch gehen müssen. Entscheidend ist, dass wir gemeinsam und in enger Abstimmung vorgehen. Denn unser Ziel ist dasselbe: Dass die Sache der Menschenrechte vorankommt und sich sowohl das Schicksal Einzelner als auch die Situation von Staaten zum Besseren wendet. Wenn die stille Diplomatie keine Früchte trägt, müssen wir daraus Konsequenzen ziehen.

Bei meinen Gesprächen ist die Lage der Menschenrechte ein zentrales Thema – in Russland, der Türkei und den Golfstaaten, mit Vertretern Chinas und Bischöfen der katholischen Kirche in Afrika oder jüngst bei meiner Reise nach Lateinamerika. Ebenso wichtig ist mir, mit Menschenrechtsverteidigern und Vertretern der Zivilgesellschaft zusammenzukommen.

Lateinamerika beispielsweise hat große Fortschritte gemacht: Aus Diktaturen wurden stabile Demokratien, Millionen armer Menschen ist der Aufstieg in die Mittelschicht gelungen. Dennoch bleibt vieles zu tun – für uns alle: Die Bekämpfung von Drogenhandel und Organisierter Kriminalität und die Notwendigkeit, dabei die Menschenrechte zu achten, sind weltweite Aufgaben. Präsident Calderón hat mir versichert, dass er sich dieser Herausforderung bewusst ist. Rechtsfreie Räume darf es nicht geben. Dieses Ziel können wir aber nur mit rechtsstaatlichen Mitteln erreichen. Polizei, Militär und Justiz müssen das Bewusstsein ausbilden, dass sie für den Schutz der Menschenrechte verantwortlich sind.

Dazu leistet der Preisträger des „6. Amnesty International Menschenrechtspreises“ einen ganz wichtigen Beitrag: Ich gratuliere dem Menschenrechtszentrum „Tlachinollan“ und seinem Leiter, Herrn Abel Barrera Hernández, den ich bei meinen Gesprächen mit Menschenrechtsverteidigern in Mexiko kennen und schätzen gelernt habe. Die Kraft, mit der er sich für sozial Schwache – vor allem Landarbeiter und Indigene – stark macht, hat mich tief beeindruckt.

Die Preisträger stehen beispielhaft für viele Menschenrechtsverteidiger weltweit. Der „arabische Frühling“ zeigt uns, wie universell die Menschenrechte tatsächlich sind, dass Menschen überall das Recht einfordern, ihre Meinung frei zu äußern, zu demonstrieren und sich mit anderen als Gruppe zu vereinigen, dass sie weltweit Zugang zu Bildung und Gesundheitsleistungen verlangen und die Gleichberechtigung von Männern und Frauen einfordern.

Die Ansprüche, die wir an andere stellen, haben Folgen für unser eigenes Handeln. Auch freiheitliche Demokratien sind nicht immun gegen Menschenrechtsverletzungen. Um glaubwürdig für Menschenrechte in aller Welt eintreten zu können, müssen wir unseren Verpflichtungen zu Hause in ganz besonderem Maße nachkommen. Dazu gehört auch, jene Menschen fair zu behandeln, die sich als Flüchtlinge unter Gefahr auf den Weg nach Europa machen.

Die Menschenrechte sind unteilbar. Sie stellen gleichsam das unverzichtbare Betriebssystem des Rechners dar, mit dem Deutschland die internationale Ordnung für das 21. Jahrhundert mitgestalten kann. Engagierte Menschenrechtsverteidiger helfen uns, dieses Betriebssystem immer wieder auf den neuesten Stand zu bringen.

Wenn es um den Schutz menschlicher Würde geht, müssen wir mit Mut und Entschlossenheit vorangehen. Dazu trägt Amnesty International seit fünf Jahrzehnten entscheidend bei. Dafür danke ich Ihnen aufrichtig. In diesem Sinne bitte ich Sie: Bleiben Sie unbequeme Mahner!