Abendessen für die Mitglieder des Ordens Pour le mérite für Wissenschaften und Künste

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 30. Mai 2011

Abendessen für die Mitglieder des Ordens Pour le mérite in Schloss Bellevue - Bundespräsident Christian Wulff bei seiner Ansprache im großen Saal

Herzlich willkommen im Schloss Bellevue.

Ich war gestern beeindruckt von dem Geist, der im Orden Pour le mérite herrscht: der Geist einer ernsthaften Kommunikation zwischen herausragenden Persönlichkeiten verschiedener Denkschulen, Disziplinen und Nationalitäten. Vom Theologen und Islamwissenschaftler Josef van Ess bis zu Fritz Stern, dem Historiker – vielen Dank für klugen Rat und Kritik. Ich bin dankbar, dass es seit Theodor Heuss guter Brauch ist, dass der Bundespräsident als Protektor des Ordens an dessen öffentlichen Sitzungen teilnimmt.

Tradition ist gewissermaßen das Pendant zur Innovation. Wir müssen uns immer wieder daran erinnern, wie viel wir denen verdanken, die vor uns gedacht, geschrieben und gestaltet haben. Sie haben dies bei der gestrigen Ordenssitzung eindrucksvoll gezeigt mit Ihren bewegenden Gedenkworten für Ihr verstorbenes Ordensmitglied Herbert Giersch. Sich der Grundlagen bewusst zu sein, diese in Frage zu stellen, um für die Welt Neues zu entwickeln – darauf kommt es an, wenn wir Antworten auf die globalen Fragen dieses Jahrhunderts finden wollen. Neues entsteht oft durch den frischen Blick auf das Bestehende – oder auf das benachbarte Fachgebiet. Und wissenschaftliche Durchbrüche finden heute oft in den Bereichen statt, in denen sich verschiedene Wissenschaftsdisziplinen überschneiden. Vielen Dank daher auch an Professor Robert Weinberg für den erhellenden Vortrag zu der Frage, wie Krebs entsteht.

Mit Alexander von Humboldt als geistigem Vater und erstem Kanzler des Orden Pour le mérite haben Sie ein wunderbares Vorbild für diese Art zu denken und zu arbeiten – ein weltweit bewundertes, wie ich auch auf meiner Lateinamerika-Reise Anfang dieses Monats einmal mehr feststellen durfte. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat Humboldt ein für damalige Verhältnisse unglaubliches globales wissenschaftliches Netzwerk gesponnen. Über 30.000 Briefe zählt seine Korrespondenz – zu Zeiten von Postkutsche und Postschiff eine beachtliche Zahl.

Ich bin mir sicher: Würde Humboldt heute leben – er wäre begeistert von den Möglichkeiten der digitalen Kommunikation! Er fände es großartig, sein Wissen so einfach austauschen, erweitern und mit anderen teilen zu können – weltweit, kulturenübergreifend und beinahe ohne Zeitverzögerung. Und ziemlich sicher würde er sich auch in eine der spannenden Debatten unserer Zeit einmischen: die Debatte um die Chancen und die Gefahren des weltumspannenden digitalen Netzes für die wissenschaftliche und künstlerische Kreativität. Diesen Impuls möchte ich hier einbringen.

Für manche ist das Internet eine gigantische Enteignungsmaschine, die kreative Leistungen von Einzelnen missachtet und letztlich untergräbt. In jedem Fall revolutioniert es die Art und Weise, wie die Ergebnisse künstlerischer und wissenschaftlicher Arbeit verbreitet und entgolten werden. Bisher brauchten Wissenschaftler und Künstler vor allem Zugang zu Verlagen oder Plattenfirmen, zu Galeristen oder anderen Mittlern, um ihre Werke bekannt zu machen. Heute können sie das – über das World Wide Web – im Alleingang tun. Allerdings werden auf diesem Wege auch Ideen und Informationen kostenlos zugänglich, für die früher Geld hätte gezahlt werden müssen. Warum also, so fragen viele, sollte sich jemand künftig überhaupt noch bemühen, kreative Leistungen zu vollbringen, wenn er weiß, dass diese Leistungen von anderen ohne Gegenleistungen genutzt werden? Freiheit von Literatur, Kunst und Wissenschaft könne es nur geben, wenn die Verfügungsgewalt des Urhebers über sein geistiges Eigentum gesichert bleibt.

Andere wiederum halten schon den Begriff des „geistigen Eigentums“ für irreführend. Ideen, so argumentieren sie, werden bei ihrer Vervielfältigung vermehrt, nicht vermindert. Sie sehen die große Gefahr eher in dem Bestreben großer Konzerne, ihre Verfügungsgewalt über geistiges Eigentum in Form von Patenten und Copyrights und mittels neuer Methoden der Durchsetzung ihrer Ansprüche im Netz immer weiter auszudehnen.

Mit dem Internet sehen die Verfechter der freien digitalen Kommunikation alte Träume in greifbare Nähe rücken: den Traum vom weltweiten freien Fluss der Ideen, vom gesellschaftlichen Allgemeinbesitz am Wissen und kulturellen Erbe der Menschheit. Millionen von Büchern sind heute bereits in digitalisierter Version auf dem Bildschirm verfügbar.Sie verbinden mit der Vernetzung die Hoffnung, in Zukunft durch gemeinschaftliche Arbeit schneller bessere Lösungen zu finden. Gemeinschaftlich wird Software optimiert - „open source“ - und Wissen aufbereitet wie bei der Online-Enzyklopädie Wikipedia - „open content“. Unternehmen öffnen ihre Forschungslabore und binden ihre Kunden in die Verbesserung von Produkten ein - „open innovation“. In dieser Offenheit sehen die Verfechter der neuen digitalen Möglichkeiten eine der wichtigsten Entwicklungen der vergangenen Zeit – ein schönes Beispiel ist das World Wide Web, auf dessen Patentierung seinerzeit bewusst verzichtet wurde.

In vielen künstlerischen Disziplinen ist es selbstverständlich geworden, Vorhandenes neu zusammenzusetzen, zu „remixen“. Und viele Wissenschaftler empfinden den freien Zugang zu wissenschaftlicher Literatur, zu Quellen und Informationen im Internet als einen Segen für ihre Arbeit. Für manch einen mögen diese neuen Zugangsmöglichkeiten freilich auch eine Verlockung darstellen, mit wenig eigenen Gedanken viel Ertrag herzustellen.

Dies ist – darüber bin ich mir im Klaren – nur eine grobe Skizze der Debatten und Konflikte. Die Frontlinien verlaufen zu unterschiedlich. Die G-8-Staaten haben sich in Deauville letzten Donnerstag erstmals weitgehend auf Prinzipien zum Internet geeinigt – das ist eine erste Antwort.

Fest steht: Das Internet ist dabei, unsere Welt ebenso revolutionär zu verändern wie seinerzeit Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks. Wir sind gut beraten, die fantastischen Möglichkeiten dieser Entwicklung klug zu nutzen und zu versuchen, den unerwünschten Folgen mit zeitgemäßen, angemessenen Mitteln zu begegnen. Wenn das gelingt, können wir unser Wissen und unsere Erfahrungen miteinander teilen und uns so gegenseitig bereichern – ganz im Sinne des ersten Ordenskanzlers des Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste, Alexander von Humboldt.

Das erhoffe ich mir auch vom heutigen Abend. Es gibt für mich viele spannende Fragen: Wem gehören Ideen, Erkenntnisse und Informationen? Was hemmt, was beflügelt die Entfaltung von Wissenschaft und Kultur? Urheberrechte, Patente, Geschäftsgeheimnisse müssen effektiv geschützt werden – wie? Wie können, wie müssen Urheberrechte des Einzelnen und Zugangsrechte der Allgemeinheit neu gegeneinander abgewogen werden? Wie steht es um den Respekt von Privatsphäre und intellektuellem Eigentum? Gelten die Prinzipien des Marktes oder das der Allmende?

Liebe Mitglieder des Orden Pour le mérite, ich bin gespannt auf Ihre Erfahrungen und freue mich auf unser Gespräch beim Abendessen.