Senatsfrühstück anlässlich des Antrittsbesuchs in Hamburg

Schwerpunktthema: Rede

Hamburg, , 15. Juni 2011

Antrittsbesuch in Hamburg - Bundespräsident Christian Wulff hält eine Ansprache im Hamburger Rathaus

Für meine Frau und mich ist es eine besondere Freude, heute hier in Hamburg zu sein, der zweitgrößten Stadt Deutschlands und der Europäischen Umwelthauptstadt 2011. Wir schauen immer schon mit großer Hochachtung nach Hamburg, auf all die Dinge, die sich hier tun, im Interesse unseres Landes, häufig auch im Interesse Europas, bei Arbeit, Wohnen, Mobilität, Nachhaltigkeit und der Profilierung dieser Stadt weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. Ich bedanke mich für den freundlichen Empfang in Ihrer Stadt und freue mich auch auf das spannende Programm. Wir freuen uns auf die HafenCity, die Elbphilharmonie-Baustelle, den Hafen selbst. Dabei stehen auch Gespräche und Bürgerkontakte überall im Mittelpunkt.

Ich habe immer richtig gefunden, dass Hamburg sich positioniert, auch mit großen Vorhaben wie der Elbphilharmonie. Das hat sich in Sydney mit der weltberühmten Oper längst bezahlt gemacht, weil die ganze Welt, Milliarden Menschen auf dieser Erde die Stadt als solche wahrnehmen, und so wird Ihnen das auch mit der Elbphilharmonie gehen. Der Tourismus ist ein immer wichtigerer Faktor. Wenn sich 0,0001 Prozent der Chinesen mal auf den Weg nach Hamburg machen, dann haben Sie die Hotels hier auf zehn Jahre ausgebucht. Der Städtetourismus ist der weltweite Tourismus, er wird zunehmen. Auch für große Unternehmen, von denen Hamburg viele hat, ist es entscheidend, Führungskräfte, Fachkräfte aus der ganzen Welt zu halten und auch aus der ganzen Welt anzulocken. Da ist eine solche Elbphilharmonie vielleicht gerade das Bild, das die gesamte Familie überzeugt: Ja, in Hamburg soll Papa oder zukünftig immer häufiger Mama den Job annehmen, damit die ganze Familie mit in diese tolle Stadt kommt. Daher halte ich es für richtig, was Sie hier tun, und möchte das nach Kräften als Bundespräsident unterstützen.

Bürgersinn und bürgerschaftliche Selbstverwaltung haben sich hier über Jahrhunderte in den Städten der Hanse und den Freien Reichstädten entwickelt. Dies ist eine Wurzel der Demokratie, die viel zu selten genannt wird, die oft als Traditionslinie unserer Demokratie vergessen wird. Und gerade hier in Hamburg ist sie allerorten sichtbar und auch spürbar.

Die Freie und Hansestadt Hamburg schaut auf viele Jahrhunderte ungebrochener Eigenstaatlichkeit zurück. Das ist die Wurzel des Föderalismus in Deutschland. Es überrascht gerade junge Leute, wenn man sie darauf verweist, dass die Länder den Bund gebildet haben und nicht etwa der Bund die Länder. Ich empfehle den Ländern, dieses nicht nur zu sagen, sondern auch offensiv und positiv zu leben. Die Wiederherstellung der Länder nach 1945 im Westen und 1990 im Osten war eine klug überlegte Absage an Machtkonzentration im totalitären Zentralstaat und eine bewusste Entscheidung für eine horizontale Gewaltenteilung, wo im Wettbewerb etwas erprobt werden kann, etwas verworfen werden kann, vom Besten gelernt werden kann und Dinge eben auch partnerschaftlich angegangen werden können.

Der Blick der Bürgerinnen und Bürger auf unsere föderale Ordnung ist heute allerdings sehr, sehr ambivalent. Einerseits identifizieren sich die Bürger mit ihrem Land, seinen Traditionen, Stärken und Besonderheiten, selbst wenn sie nicht auf eine solch lange Geschichte wie Hamburg zurückblicken können. Andererseits schwindet die Begeisterung, um es vorsichtig auszudrücken, wenn ein Problem nicht schnell genug gelöst wird, wie jüngst bei EHEC. Dann wird auf das „föderale Kompetenzwirrwarr“ geschimpft.

Ich bin der festen Überzeugung, dass es gut und richtig ist, wenn man vor etwas warnt, wo man Vermutungen hat, dass das die Quelle der Probleme sein könnte. Es ist gar nicht auszudenken, es wäre umgekehrt und man würde Informationen der heutigen Zeit zurückhalten. Dass am Ende eine Landesverbraucherschutzbehörde, ein Landesverbraucherschutzamt und eine oberste Landesbehörde der Quelle auf den Grund gekommen ist, zeigt für mich eindrucksvoll, dass Länder näher dran sind an den Problemen, an den Ursachen, die Vertriebsnetze, die Akteure kennen, auch die Verwaltungskompetenz haben, die Laborkompetenz haben. Und für mich ist die EHEC-Krise ein Beleg für das Funktionieren von Föderalismus und von dezentraler Struktur. Ich kann nicht erkennen, dass eine zentrale Struktur von Berlin aus dem Phänomen schneller auf den Grund gekommen wäre. Aber das muss natürlich auch angesprochen werden.

In Berlin gibt es eigentlich fast niemanden außer dem Bundespräsidenten, wenn er föderale Erfahrungen hat, der für den föderalen Bundesstaat das Wort ergreift. Weil es in Berlin populär ist zu sagen, also das, was in den Ländern stattfindet, ist ja irgendwie überflüssig, es könnte alles von Berlin ausgehen. Die kennen die Länder auch nicht, die kennen auch nicht die Besonderheiten der Länder. Die Länder selbst sind gefordert, die 16 Bundesländer, sich des Themas Föderalismus ganz neu und positiv anzunehmen.

Die meiste Kritik entzündet sich vor allem an den unterschiedlichen Schulsystemen, besonders wenn Eltern mit ihren Kindern umziehen. Ich habe über vier Monate ein Bürgerforum durchgeführt mit 10.000 repräsentativ ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern, die vor allem im Internet diskutiert haben. Am Ende gab es im Plenarsaal in Bonn Standing Ovations bei der Forderung nach Zentralisierung aller Zuständigkeiten der Bildungspolitik, einschließlich der Zuständigkeit für die Schulgebäude. Nach dem Motto: Die Kommunen und Länder zahlen in eine Kasse ein und der Bund verteilt dann die Gelder angemessen und gerecht. Und mein Hinweis, dass der Weg von Saarlouis nach Saarbrücken doch näher ist als nach Berlin, wenn es ein Problem mit der Turnhalle gibt und die Möglichkeit Einfluss zu nehmen, dass die Turnhalle repariert wird, im kommunalen Bereich größer sei, als wenn man in Berlin um Mittel buhlt, hat auch nur ein bisschen Nachdenken hervorgerufen. Aber dass ein Kind in Hamburg in der 7. Klasse andere Lerninhalte vermittelt bekommt als in Dresden, Schulformen und Prüfungsbedingungen von Land zu Land unterschiedlich sind, das bewegt die bundesdeutsche Bevölkerung.

Deswegen sollten die Länder sich bereiterklären, im Bildungswesen mehr bundesweite Standards zu vereinbaren. Die müssen nicht von Berlin vorgegeben werden, sondern die können untereinander auch freiwillig vereinbart werden. Es braucht keinen neuen Bildungszentralismus und keine einheitlichen Verhältnisse, das würde nicht zu besseren Lernverhältnissen führen. Dafür sind die Unterschiede zwischen Nordsee und Alpen viel zu groß und die Wege zu weit. Aber die Länder sollten schnell und freiwillig auch die Herausforderung und die Wünsche der Bevölkerung erkennen, hier mehr Orientierung leisten und liefern und die Schulpolitik an den Kompetenzen, den notwendigen Kompetenzen der Kinder ausrichten. Was braucht ein Siebenjähriger in der 2. Klasse, was braucht ein 17-Jähriger, wenn er die Schule mit dem Abitur verlässt? Die Länder sollten dabei nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner suchen, sondern sich ambitionierte Ziele setzen, die einem Vergleich in Europa standhalten. Warum sollte es im Bildungsbereich nicht möglich sein, was den Wettbewerb um den Titel der Europäischen Umwelthauptstadt ausmacht: „Best practice“ der PISA-Spitzenreiter als Maßstab für alle Länder und die bundesweiten Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz.

Wenn die Länder ihre ureigenen Kompetenzen langfristig nicht zufriedenstellend ausfüllen, gefährden sie ihre Eigenstaatlichkeit und damit den Sinn des föderalen Staatsaufbaus insgesamt. Das gilt vor allem für Bildung und Kultur als Kernkompetenzen der Länder. Denn irgendwann würden sich die Bürger sonst fragen, warum sie Länderparlamente wählen, wenn diese im Kern nichts Wesentliches zu entscheiden haben. Die Länder müssen ihre Zuständigkeiten in der Bildung, in der Kultur, in der inneren Sicherheit, im Verwaltungsaufbau, in der Art der Verwaltungsstruktur verteidigen und offensiv vertreten, um ihre Eigenstaatlichkeit zu erhalten. Die Parlamente sind die Herzkammern der Demokratie und Gefährdungen von Parlamentarismus und Föderalismus sollten nicht nur diskutiert, sondern auch zu mutigen Entscheidungen geführt werden.

Ich möchte noch eine Bemerkung hier in Hamburg machen. Wir haben hier in Hamburg Erfahrungen mit größeren Beteiligungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Ich glaube, die ganze Bundesrepublik Deutschland möchte Anteil haben an ihren Erfahrungen, die sie in Hamburg gemacht haben. Ich denke an das Hamburger Wahlrecht, das einen größeren Einfluss der Wähler nicht nur auf die Parteien, sondern auch auf die Personen der Parteien hat. Das könnte ein interessantes Modell sein, auch wenn es sehr kompliziert zu sein scheint. Ich denke natürlich auch an den Volksentscheid über die Reform des Schulsystems hier in Hamburg, wo Erfahrungen mit direkter Demokratie gemacht wurden. Gerade den größten Anhängern direkter Demokratie empfiehlt man ja am besten Reisen in Länder mit direkter Demokratie, damit sie sehen, wer dort die meisten Abstimmungen gewonnen und wer die meisten verloren hat. Mich irritiert manchmal, dass gerade die Anwälte von Minderheiten besonders viel Hoffnung in direkte Demokratie setzen, die manchmal gerade nicht zum Schutz von Minderheiten geführt hat.

Meine Überzeugung ist, dass Elemente direkter Demokratie umso eher geeignet sind, als sie das direkte Lebensumfeld der Bürger betreffen, und je konkreter die Fragen sind, die zur Entscheidung stehen, wie etwa hier in Hamburg bei der Neugestaltung des Domplatzes. Die lokale Ebene eignet sich wohl eher als die nationale, und Stadtstaaten wie Hamburg scheinen mir daher besonders geeignet, solche Fragen zu erproben. Die Landesparlamente sind zudem nahe an den Menschen. Wenn in ganz Europa über Regionalisierung und Föderalismus neu nachgedacht wird, auch in Zentralstaaten wie Frankreich, Spanien und Großbritannien, dann dürfte eine Stärkung regionaler Identität und Eigenverantwortung als Zuwachs an Demokratie angesehen werden können. Wir müssen auch die Föderalismusreform von 2006 jetzt im Abstand von fünf Jahren noch einmal kritisch anschauen, ob alles so sinnhaft und richtig war, wie man es sich erhofft hatte, oder ob es noch Veränderungsbedarf gibt.

Ich begrüße Hamburgs Absicht einer nachhaltigen, langfristig angelegten Finanzpolitik. Im Interesse der nachfolgenden Generation müssen wir uns alle gemeinsam bemühen, die grundgesetzliche Schuldenbremse strikt einzuhalten. Es sollte dabei nicht in Vergessenheit geraten, was Hamburg im Rahmen des Länderfinanzausgleichs leistet. Bis auf wenige Jahre gehörte Hamburg immer zu den Nettozahlern. Die Hamburger haben pro Kopf das Doppelte der Baden-Württemberger und mehr als siebenmal soviel wie jeder Bayer bezahlt. Das ist eine Leistung, die ich bei dieser Gelegenheit würdigen möchte. Allen Hamburgern ein großes Dankeschön für soviel bundesstaatliche Solidarität. Ich konnte zudem erleben, wie Umlandregionen von einer wachsenden Metropole profitieren, wie Achsen zur Bundeshauptstadt Berlin und nach Hannover zu aller Vorteile sind.

In den Hansestädten haben sich nicht nur Bürgerstolz und Bürgersinn entwickelt. Die Hanse war auch eine frühe Form der Globalisierung. Hamburg ist seit Jahrhunderten Deutschlands Tor zur Welt. Der Geist dieser Stadt ist geprägt von ihren internationalen Verbindungen und von ihrer Weltoffenheit. Ich freue mich für Hamburg und für Deutschland, dass es gelungen ist, mit der EU-Lateinamerika/Karibik-Stiftung nach dem Internationalen Seegerichtshof eine weitere wichtige internationale Institution in Hamburg anzusiedeln. Bei meinem jüngsten Besuch in Mexiko, Costa Rica und Brasilien konnten wir erleben, mit welcher Dynamik sich Latein- und Zentralamerika entwickeln.

Eines ist für mich klar: Viele Probleme werden entweder international gelöst oder sie werden gar nicht gelöst. Je mehr das quantitative Gewicht Deutschlands und Europas in der Welt abnimmt, je mehr das Gewicht anderer, aufstrebender Nationen in Asien, Afrika und Lateinamerika zunimmt, desto mehr werden wir auf Freunde in aller Welt angewiesen sein und desto mehr zählt die Qualität, die Verlässlichkeit und das Werteangebot unsererseits. Darum brauchen wir internationale Kompetenz, Bürgersinn, eine entwickelte Zivilgesellschaft und die Großherzigkeit und Weltoffenheit Hamburgs. Die Zukunft gehört denen, die offen sind für Fremde und Fremdes.
Möge Hamburg weiterhin „im Geiste des Friedens eine Mittlerin zwischen allen Erdteilen und Völkern der Welt“ sein, wie es so schön in Ihrer Landesverfassung von 1952 heißt.