Auftakt der Veranstaltungsreihe „Vergangenheit erinnern – Demokratie gestalten“

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 4. Juli 2011

Auftakt zur Veranstaltungsreihe zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin - Bundespräsident Christian Wulff bei seiner Ansprache

Im nächsten Monat werden wir an den 13. August 1961, den Tag des Mauerbaus vor 50 Jahren, erinnern. Heute, 22 Jahre nach dem Fall der Mauer, genießen alle Deutschen Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Dies ist ein Anlass, beherzt an die Gestaltung der Zukunft unserer Demokratie im wiedervereinigten Deutschland zu gehen.

Das Wissen über die DDR ist rasant angewachsen. Es gibt eine reichhaltige Forschung über Institutionen und Instrumente der Herrschaft der SED, über die Unterdrückung und die Einschüchterung der Bevölkerung, über die Formen und das Ausmaß des Widerstands und der Opposition gegenüber den Machthabern – und über den ganz normalen Alltag in der DDR.

Aber die Frage ist, ob der menschenverachtende Charakter des Regimes im öffentlichen Bewusstsein noch ausreichend verankert ist. Ich fürchte, nein. Es ist vielmehr erschreckend, wie verklärend viele heute auf die DDR zurückschauen, wie viele die Geschichte simplifizieren.

Es ist menschlich, sich im Rückblick auf das eigene Leben eher an das Gute zu erinnern. Und es ist verständlich, dass viele Menschen die Jahre nach der Wende auch als hart erlebt haben, weil sie ihr Leben gewissermaßen von Neuem beginnen mussten. Dennoch ist es wichtig, dass Unfreiheit, Gängelung, Bespitzelung, Menschenrechtsverletzungen und Terror, all diese dunklen Seiten der SED-Herrschaft, im Gedächtnis unserer Gesellschaft bleiben. Deshalb freue ich mich über den Vorschlag der Bundesstiftung Aufarbeitung zu einer gemeinsamen Veranstaltungsreihe.

Nach meiner Erfahrung sollten wir Aufklärung und Aufarbeitung auf mehreren Ebenen leisten.

Erstens müssen wir den Betroffenen zuhören. Sie haben erlebt, wie es ist, wenn man nicht weiß, wem man vertrauen kann und wem nicht. Wenn Briefe geöffnet werden oder die eigene Wohnung kein geschützter Ort ist. Sie wissen, wie es ist, wenn man Angst haben muss um seine Kinder, um seinen Partner oder seine Partnerin, um die Eltern, um Freunde oder Verwandte. Wenn man nicht studieren oder den gewünschten Beruf ausüben darf.

Wenn man eingesperrt und Jahre seines Lebens und seiner Lieben beraubt wurde.

Einige haben es zu schätzen versucht: Die Haftstrafen der aus politischen Gründen inhaftierten Männer und Frauen summierten sich auf mindestens 250.000 Gefängnisjahre – wie lächerlich muten da die kurzen Haftstrafen an, die einige wenige verantwortliche Haupttäter des Systems absitzen mussten. Manche verharmlosen und beschönigen bis heute.

Die Bundesstiftung Aufarbeitung hat in den vergangenen Jahren vielen Opfern des SED-Regimes, vielen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen das Wort gegeben. Das ist auch für die kommenden Generationen wichtig. Viele junge Menschen haben zugehört und dadurch in sehr bewegender Weise anschaulich etwas über die Vergangenheit gelernt. Auch mir ist es ein wichtiges Anliegen, dass die Lebens- und Leidensgeschichten der Opfer mit solchen Begegnungen, mit Ausstellungen, Filmen und anderen Publikationen gewürdigt und Orte der Schandtaten als würdige Erinnerungsstätten erhalten werden. Ich treffe im Ausland immer wieder auf interessierte Nachfragen: Wie seid Ihr mit Eurer Vergangenheit umgegangen? Da gibt es großes Interesse.

Der zweite wichtige Weg der Aufarbeitung ist die historische Analyse. Wir haben die Chance, aus zwei Diktaturen die Schlussfolgerungen ziehen zu können. Wir blicken auf ein geteiltes Jahrhundert zurück, mit zwei Weltkriegen, zwei Diktaturen. Es endete mit einem sich einigenden Europa – das sollte uns glücklich stimmen.

Zugleich hat sich gezeigt, wie schwierig eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist, wenn viele der Akteure noch oder sogar erneut in wichtigen Funktionen sind. Umso mehr schätze ich das Engagement der vielen Initiativen, Gruppen, Behörden, Opferverbände, Geschichtswerkstätten und Museen für eine Aufarbeitung des SED-Unrechts.

Ihre Arbeit wird nie erledigt sein, da die Gefahr totalitärer Ideen nie gebannt ist.

In dieser Veranstaltungsreihe wollen wir historische Tatsachen in größere Zusammenhänge einordnen und Interessierten und Multiplikatoren Argumente liefern, mit denen sie schlichten Geschichtsbildern oder Legenden etwas entgegensetzen können. Es wird um „Gerechtigkeit und Rechtsstaat“ gehen, um „Planwirtschaft und Marktwirtschaft“. Aber auch darum, was typisch deutsch ist, über die Teilung und die unterschiedlichen Lebenserfahrungen in Ost und West hinweg. Und vor allem darum, was uns unsere Geschichte für die Zukunft lehrt.

Und damit sind wir beim dritten wichtigen Element im Kampf gegen die Verharmlosung der SED-Diktatur: Wenn wir Verklärungen entgegenwirken wollen, müssen wir auch denen Antworten geben, die bis heute von den sozialen Errungenschaften der DDR schwärmen. Wir dürfen uns dabei nicht mit dem Hinweis begnügen, dass die DDR diese mit oft diktatorischen Mitteln und ohne Rücksicht auf langfristige Tragfähigkeit durchzusetzen versucht hat. Wir müssen zukunftsfähige Antworten finden auf Fragen nach dem sozialen Zusammenhalt, nach Gerechtigkeit in der Gesellschaft, nach fairer Teilhabe für alle, an Entscheidungen, am Arbeitsmarkt. Antworten einer demokratischen, freiheitlichen und rechtsstaatlichen Gesellschaft.

Diese Fragen sind eine Herausforderung für unsere Gesellschaftsordnung, für unsere Lebensweise, der wir uns auch im Wettbewerb mit anderen Modellen auf der Welt stellen müssen.

Darum trägt diese Veranstaltungsreihe den doppelten, auch nach vorne gerichteten Titel „Vergangenheit erinnern – Demokratie gestalten". Es reicht nicht aus, zurückzuschauen. Wir müssen auch die Zukunft unserer Demokratie im Blick haben. In der DDR durfte man sich nicht zu Wort melden, um nicht mit Repressalien rechnen zu müssen, während man sich heute zu Wort melden muss, um die eigene Gesellschaft zu gestalten.

Wie kann der Einzelne in der Demokratie seine Freiheit erfahren, aber auch seiner Verantwortung in dieser Freiheit gerecht werden? Wie gestalten wir unsere Demokratie so, dass sie nicht von Erwartungen überfrachtet wird und dann Enttäuschungen produziert? Wer taugt als Vorbild für Engagement und Zivilcourage, worauf die Demokratie zwingend angewiesen ist? Auf jeden Fall die, die in der Diktatur Mut und Zivilcourage gezeigt haben.

„Demokratie versus Diktatur“ heißt das Thema der ersten Runde. Ich freue mich, dass mit Frau Schmalz-Jacobsen, Frau Dr. Breier, Herrn Prof. Nolte und Herrn Schönfelder höchst kompetente Gesprächspartner diskutieren werden, gemeinsam mit meinem Mitgastgeber Rainer Eppelmann. Ich danke Ihnen und der von Ihnen geleiteten Bundesstiftung Aufarbeitung für die Zusammenarbeit und bin gespannt auf die Diskussionsbeiträge.