Eröffnung der XI. Internationalen Konferenz „Die Rolle der katholischen Kirche im Prozess der europäischen Integration“

Schwerpunktthema: Rede

Krakau/Polen, , 9. September 2011

Reise in die Republik Polen - Bundespräsident Christian Wulff bei der Eröffnung der XI. Internationalen Konferenz Die Rolle der katholischen Kirche im Prozess der europäischen Integration

Für mich ist es eine besondere Ehre, heute Morgen hier an diesem traditionsreichen Ort zu Ihnen sprechen zu dürfen. Krakau, die ehemalige Hauptstadt Polens, eine Herzkammer des wissenschaftlichen, intellektuellen und kulturellen Lebens in Polen, Heimat und Wirkungsstätte so vieler Wissenschaftler und Denker: Der Name dieser Stadt und ihrer Universitäten hat einen ganz besonderen Klang.

Doch kommt bei mir, zu den Gefühlen der Ehre und der Freude, noch ein anderes Gefühl hinzu, ein Gefühl der Scham, die mich als deutsches Staatsoberhaupt hier erfüllt. Denn wenn es 1939 nach dem Willen des nationalsozialistischen Deutschlands gegangen wäre, dann wäre dieses intellektuelle und kulturelle Herz Polens für alle Zeiten ausgelöscht worden.

Wir dürfen niemals vergessen, dass schon kurz nach dem Überfall auf Polen die sogenannte „Sonderaktion Krakau“ begann, bei der vor allem Studenten und Professoren verschleppt, mundtot gemacht und schließlich auch physisch vernichtet werden sollten. Sie wurden vor allem in das Konzentrationslager Sachsenhausen nahe Berlin gebracht.

Eine Ausstellung, „Vergessene Vernichtung“, hat kürzlich an diese gezielte Auslöschung der kulturellen, geistigen und wissenschaftlichen Elite Polens eindrucksvoll erinnert. Ich habe Staatspräsident Komorowski begleitet, als er diese Ausstellung besucht hat. Für uns beide, für jeden von uns natürlich auf ganz unterschiedliche Weise, war das ein schmerzlicher Tag und eine schmerzliche Erinnerung.

Ich stelle diese Erinnerung an den Anfang meiner kurzen Ansprache, weil es dabei nicht um ein Verbrechen unter anderen ging, um eines unter vielen in der langen Reihe der grausamen Taten der deutschen Unterdrücker. Hier sollte ganz bewusst das intellektuelle Herz eines Volkes ausgelöscht werden, sein kulturelles Gedächtnis, die Erinnerung an den Stolz, die Größe und die Gestalt des geistigen und auch geistlichen Lebens der großen polnischen Nation.

Damit sind wir mitten im Thema dieser Konferenz: Dieser Vernichtungswille nämlich war das Ergebnis eines Irrglaubens, einer politisch-weltanschaulichen Überzeugung. Es war der denkbar mörderischste Zusammenhang von Glaube und Politik, der je historische Wirklichkeit geworden ist.

Wenn wir also heute und in Zukunft über das Verhältnis von Glaube und Politik nachdenken, dann dürfen wir nie vergessen, welch verhängnisvolle Konsequenzen politisches Handeln haben kann, das von einem bestimmten Glauben, von bestimmten Überzeugungen geprägt ist. Zum Beispiel über den Wert oder Unwert eines Menschenlebens. Oder vom Glauben an die Überlegenheit oder Unterlegenheit bestimmter Völker oder sogenannter Rassen. Vom Glauben an die Überlegenheit der Macht über jedes natürliche Recht. Vergessen wir nicht: Die meisten Täter handelten aus Überzeugung und hatten ein gutes Gewissen.

Gerade wir im wiedervereinigten, demokratischen und freiheitlichen Europa müssen tief immun sein gegenüber jeglichem Primat eines absoluten Glaubens oder einer absoluten Überzeugung, die Menschen einteilt in ein „Wir“ und ein „Sie“, die Unterschiede macht zwischen lebenswertem und unwertem Leben. Eine Überzeugung, die Gewalt gegen Unschuldige und Unbeteiligte rechtfertigt, nur weil sie anders sind, weil sie anders glauben, anders leben oder anders denken, kann nach den historischen Erfahrungen Europas keinen Platz mehr in unserer Mitte haben. Und vor allem darf sie nirgendwo Macht haben.

Wir könnten es uns nun einfach machen und sagen, dass die nationalsozialistische und die kommunistische Ideologie ein Glaube ohne Religion war, eine organisierte Gottlosigkeit, ein entfesselter Atheismus, der jeglichen Glauben, den jüdischen wie den christlichen, schlicht hasste.

Und wir können sagen, dass aus dem Glauben an Gott, aus christlicher oder jüdischer Überzeugung, Widerstand geleistet wurde bis hin zum Martyrium.

Wir können auch sagen, dass die großen geistigen und zivilisatorischen Leistungen Europas zutiefst vom Geist des Christentums geprägt sind. Wir können festhalten, dass die Neugründung Europas ganz wesentlich unter der Inspiration zweier überzeugter Katholiken stattgefunden hat, Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, und dass diese Aussöhnung mit einer Heiligen Messe in der Kathedrale von Reims besiegelt wurde.

Wir können daran erinnern, dass die Versöhnung zwischen Polen und Deutschland wesentlich begonnen hat mit einer Denkschrift der Deutschen Evangelischen Kirche und mit einem Briefwechsel von deutschen und polnischen Bischöfen.

Und schließlich können wir sagen, dass der tiefe, der zutiefst glaubwürdige und unbeirrbare Glaube Papst Johannes Pauls II. der Anfang vom Ende der kommunistischen Zwangsherrschaft war.

Kein Zweifel: Der Glaube hat oft segensreich gewirkt, zum Wohle der Menschen, zum Wohle des Friedens, der Freiheit und der Gerechtigkeit.

Aber ein Glaube, ein unreflektierter, absoluter, ja fanatischer Glaube, er kann – auch im Namen des Christentums – unsägliches Elend und Leid bringen. Auch das lehrt die Geschichte. Nationalismus hat sich mit vermeintlich christlichem Glauben gepaart, Antisemitismus wird – zum Teil bis heute – mit pseudo-christlichen Argumenten unterstützt.

Und auch vor Überlegenheitsgefühlen hat der Glaube nicht bewahrt, er hat sie sogar bestärkt und zur mörderischen Gewalt ermutigt. Politisches Handeln allein aus Glauben kann höchst gefährlich werden.

Kein Zweifel: Politik braucht Maßstäbe, die nicht aus dem politischen Handeln selber kommen. Politik braucht ethische Maßstäbe, die aus Überzeugungen kommen, die über den Tag hinausweisen. Politik, wenn sie sich nicht selbst absolut setzen will, braucht Überzeugungen, Haltungen, Maßstäbe, die aus einem Unverfügbaren kommen.

Glaube und Religion halten solche Maßstäbe bereit. Der Glaube, der christliche Glaube, wurzelt im Unverfügten. Er lehrt uns zu unterscheiden: Es gibt auf der einen Seite das Vorletzte, das wir Menschen gemeinsam und auch in Streit und Auseinandersetzung gestalten können und müssen.

Und es gibt auf der anderen Seite letzte Gründe und Voraussetzungen, letzte Maßstäbe und Normen, Überzeugungen von Freiheit und Würde eines jeden Menschen, von Gott gegeben. Diese Grundlagen unseres Handelns stehen nicht in unserer Verfügungsgewalt. Sie leiten vielmehr unser Handeln an und geben ihm Orientierung.

So halten wir fest an der unveräußerlichen Würde eines jeden Menschen. So wissen wir uns verpflichtet, Tag für Tag für die Bewahrung der Schöpfung zu arbeiten. So erinnert uns die Pflicht zur Nächstenliebe daran, dass wir alle in der einen Welt leben, alle Menschen in dieser einen Welt haben ein Recht auf gerechte Teilhabe ihren Gütern, auf ein Leben in Freiheit und in Frieden.

Der Glaube allein kann teuflisch verdreht werden – und die Vernunft allein kann zum rein instrumentellen Pragmatismus führen, der jedem Ziel, auch dem schlimmsten, dienen kann. Papst Benedikt XVI. spricht zu Recht immer wieder davon, dass Glaube und Vernunft jederzeit im Dialog sein müssen, um sich gegenseitig zu korrigieren.

Ein Glaube, der sich Rechenschaft gibt gegenüber der Vernunft, und eine Vernunft, die sich orientieren lässt durch den Glauben. Diesen Dialog braucht gerade derjenige, der politisch handelt, der politische Entscheidungen trifft – zum Wohle der Menschen, der uns anvertrauten Schöpfung und in Verantwortung für künftige Generationen, für unsere Kinder und Enkelkinder.

So hätten wir aus der Geschichte gelernt.