Festakt zum 50-jährigen Jubiläum des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 14. November 2011

Bundespräsident Christian Wulff hat am 14. November in seiner Rede zum 50-jährigen Jubiläum des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung den Gebrauch von Fairness und Verantwortung in der Entwicklungspolitik betont.

Bundespräsident Christian Wulff bei seiner Ansprache im Konzerthaus am Gendarmenmarkt

„Wir machen Zukunft.“ – Das ist eine starke Botschaft zum 50. Geburtstag dieses Ministeriums. Die deutsche Entwicklungspolitik schaut nicht selbstgenügsam auf das letzte halbe Jahrhundert zurück, sondern will Antworten geben auf die Herausforderungen der nächsten 50 Jahre. Manche, wie die Armutsbekämpfung, stellten sich schon 1961. Andere, wie der Klimawandel, kamen hinzu oder sind uns jetzt bewusster. Aber in jedem Falle gilt: Die Erfahrungen der vergangenen 50 Jahre werden uns helfen, die Instrumente zu verbessern, die wir für die Lösung der globalen Zukunftsfragen einsetzen können. Entwicklungspolitik entstand an der Schnittstelle verschiedener Politikbereiche. Sie hat Berührungspunkte mit Außen-, Wirtschafts-, Finanz-, und Sicherheitspolitik und dadurch einen ganzheitlichen und interdisziplinären Ansatz entwickelt. Genau in diesem Ansatz liegt bis heute die innovative Kraft von Entwicklungspolitik. Schon in den 70er-Jahren hatten Entwicklungspolitiker die zunehmende Verflechtung unserer Welt im Blick. Themen wie Welternährung, Umweltzerstörung oder Handel, so mahnten sie, müssten gemeinsam betrachtet und Grenzen des Wachstums respektiert werden.

Ob Schutz der Tropenwälder, fairer Handel oder der Zusammenhang zwischen Sicherheit und Armutsbekämpfung - die entwicklungspolitische Perspektive veränderte den Blick auf die Welt. Und manchmal scheint es so, als hätte das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) mit diesem Blick auch seine Ministerinnen und Minister ein wenig verändert.

Entwicklungspolitik begründet sich auch aus einer moralischen Verpflichtung, aus Solidarität und Nächstenliebe heraus. Das erklärt, dass Entwicklungspolitik sich im Kern immer auf einen überparteilichen Konsens und auf breite gesellschaftliche Kräfte stützen konnte. Der Glaube an eine gerechtere Welt bleibt eine wichtige Triebfeder unseres politischen Handelns. Mit Moral alleine werden wir die Welt aber nicht verändern. Wir müssen immer auch an Interessen denken. Aber nicht nur unsere eigenen, sondern auch die der anderen. Empathie zeichnet eine echte partnerschaftliche Zusammenarbeit aus.

Das fortwährende Ringen um Werte und Interessen gehört damit zum Kern von Entwicklungspolitik. In den ersten Jahrzehnten war Interessenpolitik zunächst bestimmt von der Logik des Kalten Krieges. In den 60er-Jahren teilte man die Welt schlicht in drei Gruppen ein: die westliche Welt, den kommunistischen Block und die Entwicklungsländer – sie galt es auf die jeweils eigene Seite zu ziehen. 1963 stellten deutsche Abgeordnete erstmals in Frage, ob die nach der Logik der Hallstein-Doktrin geförderten Länder Portugal, Spanien und Griechenland weiter Entwicklungshilfe erhalten sollten, da sie bereits relativ entwickelt und zudem als autoritäre Systeme nicht förderungswürdig seien. Es sollten viele Jahre der Auseinandersetzung um die richtigen Kriterien für Entwicklungspolitik folgen. Erst in den 90er-Jahren wurden unter Minister Spranger präzise die bis heute gültigen Kriterien wie Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und marktwirtschaftliche Orientierung festgelegt. Von Anfang an sollte Entwicklungspolitik auch unseren wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Eigeninteressen dienen. Das ist nicht unzulässig, sondern fair.

Insbesondere in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit wie nach der Ölkrise in den 70er-Jahren hatte dieses Thema Konjunktur. Aber von Anfang an machten Entwicklungspolitiker auch klar: Interessenpolitik auf Kosten der Entwicklungsländer darf es nicht geben. Walter Scheel sprach schon 1966 von einem Interessenausgleich mit den Entwicklungsländern. Egon Bahr stellte 1974 fest, dass gegen die Verfolgung von Rohstoffinteressen nichts spreche, solange Rohstoffprojekte auch den Entwicklungsländern zugute kämen. Und Rainer Offergeld sagte 1980 den bis heute gültigen Satz: „Eine Welt, in der einer nur Vorteile und der andere nur Nachteile hat, ist ohne Zukunftschancen.“

Zwischen Werten und Interessen muss kein Widerspruch bestehen. Im Gegenteil: Das offene und faire Aushandeln von Interessen bietet Chancen, weil sich beide Seiten als Partner und nicht als Geber und Nehmer gegenüber stehen. Ein faires Geschäft, bei dem beide Seiten unabhängig von ihrer Größe oder Stärke profitieren, kann Vorbild für Entwicklungszusammenarbeit sein. Tugenden, wie sie der ehrliche Kaufmann verkörpert, haben viel mit echter Partnerschaft zu tun. Das BMZ hat die Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft verstärkt, aber gleichzeitig auch deutlich gemacht: Bei Zielkonflikten müssen Werte wichtiger sein als Interessen.

Durch den Aufstieg der Schwellenländer wird Europas Gewicht auf der Weltbühne quantitativ abnehmen. Wir müssen die Welt des 21. Jahrhunderts so gestalten helfen, dass wir uns auch morgen noch in ihr wohlfühlen können. Europa kann durch verantwortliche Politik und gelebte Werte überzeugen und qualitativ seinen Stand halten. Deshalb ist Glaubwürdigkeit heute unsere wichtigste Ressource. Freiheit des Individuums und Schutz der Menschenrechte, Toleranz und Rechtsstaatlichkeit haben Europa stark gemacht – sie müssen auch für unsere Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern die Richtschnur sein. Und sie sind zu Recht entscheidende Kriterien für die Vergabe von Entwicklungsgeldern.

Informationen sind heute viel leichter zugänglich als früher. Über Satellitenfernsehen erreichen sie jedes Dorf. In den Städten haben die Menschen Zugang zur digitalen Weltgesellschaft. Die Menschen in den Entwicklungsländern wissen, wie wir in Europa leben. Und sie werden Doppelstandards nicht mehr hinnehmen. Interessenpolitik im 21. Jahrhundert muss eine Politik des gleichberechtigten Miteinanders und des fairen Ausgleichs sein. Nur dann können wir die vor uns liegenden Herausforderungen in unserer verflochtenen Welt bewältigen. Auch beim Ressourcenverbrauch und der Begrenzung des Klimawandels muss gelten: gleiches Recht für alle. Die deutsche Entwicklungspolitik zeigt seit Jahrzehnten auf, wie Partnerschaft praktisch funktionieren kann. Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Langfristigkeit: mit diesen Prinzipien wird unsere Arbeit vor Ort in den Entwicklungsländern verbunden. Sie tragen ganz erheblich zu unserer Glaubwürdigkeit bei. Wenn wir im Nahen Osten beraten, wie Lösungen zur Bekämpfung der Wasserknappheit gefunden werden, wenn wir in Afrika Methoden anbieten, wie Rohstoffe zertifiziert werden können, dann machen wir deutlich, dass es uns – abseits von kurzfristigen politischen Interessen – um die dort lebenden Menschen geht.

Nach Umfragen der BBC ist Deutschland schon seit Jahren das beliebteste Land der Welt, wenn nach dem Einfluss auf die Entwicklung der Welt gefragt wird. Ich bin stolz auf unsere Entwicklungszusammenarbeit.

Das gilt übrigens auch für verschiedene Entwicklungsprojekte, die von der DDR durchgeführt wurden. Abseits der Instrumentalisierung durch den Staat leisteten Entwicklungshelfer aus der DDR vor Ort gute Arbeit. Viele dieser Projekte wurden nach der Wiedervereinigung vom BMZ integriert und weitergeführt. Noch heute können Länder wie Angola, die Mongolei oder Jemen auf Fachkräfte bauen, die in solchen Projekten eine Berufs- und Sprachausbildung erhielten.

Wie hat sich die Welt in den vergangenen 50 Jahren verändert, und was hat Entwicklungspolitik erreicht? Die Welt ist eine andere geworden. In den 60er-Jahren lebten drei Milliarden Menschen auf der Erde. Vergangenen Monat haben wir die Sieben-Milliarden-Marke überschritten. Und noch immer hungern fast eine Milliarde Menschen. Wie wird die Welt so viele Menschen in Zukunft ernähren können, wie für ihre Ausbildung sorgen? Diese Fragen werden wir alle gemeinsam beantworten müssen, nicht nur die Entwicklungsländer. Die ersten wohlhabenden Staaten sichern sich Anbauflächen für landwirtschaftliche Produkte.

Wir haben aber auch schon viel erreicht: In vielen Entwicklungsländern haben sich die Lebensbedingungen, die Gesundheitsversorgung oder der Zugang zu Bildung erheblich verbessert. Länder, die jahrzehntelang Empfänger von Entwicklungsgeldern waren, sind heute selbst Geber. Natürlich kann dies nicht allein der Entwicklungszusammenarbeit angerechnet werden, aber es gibt viele beeindruckende Beispiele, welche Dynamik sie auslösen konnte. Ich denke beispielhaft an das „Indian Institute of Technology“ in Madras als eines von sieben solcher Institute in Indien. Viele der dort mit deutscher Unterstützung ausgebildeten indischen Ingenieure sind in den 90er-Jahren in die USA ausgewandert und hatten dort wesentlichen Anteil am IT-Boom in Kalifornien. Später gingen einige von ihnen nach Indien zurück und begründeten dort eine heute blühende Computerindustrie.

Kritik an der Entwicklungspolitik ist so alt wie ihre Geschichte und das BMZ hat immer wieder Mut zur Veränderung bewiesen. Ich glaube, dass wir aber noch genauer hinsehen sollten, wo unsere Förderrichtlinien vielleicht mit der Realität vor Ort nicht zusammenpassen. Wir alle wollen den Erfolg, aber manchmal muss man auch das Scheitern eingestehen, um weiterzukommen. Dass das BMZ eine unabhängige Evaluierungseinheit einrichten will, halte ich deshalb für einen richtigen Schritt. Der Auswertung müssen dann aber auch Taten folgen.

Dennoch dürfen wir unsere Partner nicht mit immer neuen Konzepten überfordern. Entwicklungsländer brauchen Verlässlichkeit und Berechenbarkeit. Wir sollten auch nicht den Anspruch haben, das Rad jedes Mal neu zu erfinden. Viele Ideen sind sowieso älter als wir denken. Konzepte wie „Hilfe zur Selbsthilfe“ oder „Community Development“ gibt es schon lange.

Kritik kommt seit den 60er-Jahren auch aus den Entwicklungsländern selber. Zunächst standen noch die Folgen der Kolonialisierung und äußere Faktoren für Unterentwicklung im Zentrum. Inzwischen richtet sich die Kritik in Entwicklungsländern vor allem gegen die eigene Regierung: gegen Korruption, Misswirtschaft und Menschenrechtsverletzungen.

Junge Afrikaner beispielsweise haben heute ihre eigenen Ideen, wie sie ihre Zukunft gestalten wollen. Ihnen geht es weniger darum, welche Ressourcen wir zur Verfügung stellen, sondern wie sie ihre eigenen Ressourcen mobilisieren können. Ich finde das gut. Wir müssen das unterstützen.

Wir müssen zugleich deutlicher machen, was Entwicklungszusammenarbeit leisten kann und was nicht. Sie darf nicht mit unrealistischen Erwartungen überfrachtet werden. Und: Solange unsere Partnerländer durch Handelshemmnisse, Schutzzölle oder Exportsubventionen in ihrer Entwicklung faktisch behindert werden, nehmen wir mit der einen Hand, was wir mit der anderen geben. Die Kohärenz unserer Politik ist Voraussetzung für Glaubwürdigkeit.

Mein Fazit ist: Entwicklungspolitik bedeutet weit mehr als Geld oder guten Rat zu verteilen. Sie ist auch Labor für Erfahrungen mit Entwicklungsprozessen und für verschiedene Vorstellungen von Modernisierung. Wir sollten uns dabei noch stärker dafür öffnen und interessieren, welche Ideen und Modelle vor Ort, in den betroffenen Ländern selbst, entwickelt werden.

Und schließlich müssen wir noch stärker hinterfragen, was wir unter Modernität oder Entwicklung verstehen. Fortschritt sollten wir nicht nur an Wachstumszahlen und steigenden Pro-Kopf-Einkommen messen, sondern auch an seinen Auswirkungen für die Menschen, für ihre Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, für den Zusammenhalt von Gesellschaften und für den langfristigen Erhalt von natürlichen Lebensräumen. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat ihre Mitgliedsländer vor wenigen Monaten dazu aufgefordert, dem Glück und dem Wohlbefinden der Menschen bei ihren Planungen für die Entwicklung eine größere Bedeutung einzuräumen.

In Zukunft werden wir mit Entwicklungs- und Schwellenländern nicht nur über ihre Probleme sprechen, sondern über unsere gemeinsamen. Europa wird in Zukunft offener sein müssen, wenn aus anderen Weltregionen bessere Antworten kommen. Walter Scheel äußerte schon 1965 die Hoffnung auf einen „geistigen Dialog der Nationen“, in dem die Entwicklungsländer weniger die Nehmenden als vielmehr die Gebenden sind. Entwicklungspolitik bietet mehr als jedes andere Politikfeld ein Forum für einen solchen Dialog. Sie eröffnet Kanäle in andere Gesellschaften und Kulturen hinein. Und sie vermittelt Wissen und Bewusstsein über globale Zusammenhänge in Deutschland und macht sie für die Menschen erfahrbar.

Mein Dank gilt heute allen Ministerinnen und Ministern des BMZ, die diesen Dialog seit 1961 mit unterschiedlichen Schwerpunkten, aber immer mit großem Engagement geführt haben und weiter führen. Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ministeriums, die seit Jahrzehnten unsere Augen und Ohren in die Entwicklungsländer hinein sind.

Mein Dank gilt auch den Durchführungsorganisationen, der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), die Entwicklungspolitik unter zum Teil schwierige Bedingungen vor Ort umsetzen. Und schließlich der Zivilgesellschaft: Ohne das große Engagement der Kirchen, der zahlreichen Nichtregierungsorganisationen und der vielen Ehrenamtlichen wäre Entwicklungspolitik nicht denkbar.

Wir alle wünschen uns, dass wir in 50 Jahren kein Entwicklungsministerium zur Armutsbekämpfung mehr brauchen. Die Idee eines Interessenausgleichs und einer gemeinsamen Gestaltung der Zukunft aber, wie sie die Entwicklungspolitik seit Jahrzehnten erfolgreich praktiziert, die brauchen wir in Zukunft: Fairness untereinander – Verantwortung füreinander.