Festakt zum 200-jährigen Bestehen der Staatlichen Universität Breslau

Schwerpunktthema: Rede

Breslau, , 15. November 2011

Bundespräsident Christian Wulff bei seiner Rede an der Universität Breslau

Herzlichen Dank für die Einladung zu Ihren Feierlichkeiten. Ich empfinde Ihre Bitte, gemeinsam mit meinem guten Freund, Staatspräsident Komorowski, und mit Frau Professor Kudrycka die Schirmherrschaft zu übernehmen, als eine Geste der Freundschaft.

Mein letzter Aufenthalt in Breslau im Mai 2010 hat mich tief bewegt: Ich kam als Ministerpräsident von Niedersachsen, eines mit der Woiwodschaft Niederschlesien partnerschaftlich verbundenen Bundeslandes. Gemeinsam mit unseren polnischen Freunden gedachten wir der Opfer der Flugzeugkatastrophe von Smolensk. Gemeinsam besuchten wir erneut Kreisau, jenen Ort des Gedenkens an den Widerstand gegen Hitler, an dem heute junge Menschen aus aller Welt miteinander ins Gespräch kommen.

Breslau ist tief von der wechselvollen in vielen Facetten großartigen Geschichte unserer beiden Länder geprägt, deren dunkelste Seite aber Deutsche zu verantworten hatten. Eine schmerzvolle Folge davon ist, dass nahezu alle deutschen Einwohner, die Breslau noch 1939 hatte, zehn Jahre später nicht mehr hier wohnen durften. Statt ihrer sind polnische Bürger hinzugekommen, die zuvor vielfach ebenso ihre Heimat im früheren Osten des Landes verlassen mussten.

Trotz dieser Zäsur im 20. Jahrhundert verkörpert Breslau einen gesamteuropäischen, freien Geist. Diesen verdankt die Stadt ganz entscheidend ihrer über die Jahrhunderte gleich dreimal „neu“ gegründeten Universität. Das freie Klima einer Stadt, die von Preußen, Polen und Habsburgern geprägt war, die Juden, Katholiken und Protestanten eine Heimat bot – gerade hier, an der Universität, war und ist es zu spüren.

Breslau war die erste deutschsprachige Universität, in der zugleich evangelische wie katholische Theologie gelehrt wurde. Auch der erste Slawistik-Lehrstuhl wurde hier eingerichtet. Nicht zuletzt war Breslau Heimat für manchen anderswo nicht gern gesehenen Freigeist, etwa Theodor Mommsen, den ersten deutschen Nobelpreisträger für Literatur.

Dass die Universität ab 1945 im zerstörten Breslau wieder aufleben konnte, verdankt sie Professoren aus Lemberg, das Sommer 1941 der Ort grausamer, unter deutschem Kommando verübter Massenmorde geworden war. Unter den Opfern waren auch polnische Hochschullehrer. Präsident Komorowski und ich haben heute Morgen am Denkmal für die Lemberger Professoren Blumen niedergelegt.

In Verantwortung vor dieser Geschichte wollen wir Europäer Zukunft friedlich gestalten. Ein Beispiel dafür ist die enge Kooperation, die zwischen den Universitäten von Breslau und Lemberg sowie deutschen Hochschulen besteht.

Dich, lieber Bronek, konnte ich erst vor wenigen Monaten in der Humboldt-Universität zu Berlin begrüßen. In Deiner Berliner Rede hast Du – am Vorabend der polnischen Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft – Deine Überlegungen zu Europa ausgeführt. Ich freue mich, Dir später die soeben erschienene Dokumentation Deiner Rede überreichen zu dürfen.

Der Austausch in Wissenschaft und Technik ist ein Pfeiler der deutsch-polnischen Beziehungen. Ich denke etwa an das der Universität Breslau angegliederte Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien. Gerade die Geistes- und Sozialwissenschaften können dazu beitragen, die historischen Verbindungen Europas, die aus nationaler Perspektive oft zu wenig wahrgenommen werden, bewusster zu machen.

Breslauer Hochschulen setzen auch in der interdisziplinären Forschung Schwerpunkte – etwa bei den Nano- und Biotechnologien sowie bei neuen medizinischen Verfahrenstechniken. Grenzüberschreitende Kooperation – etwa durch die Fraunhofer-Kompetenznetze – wird hier immer wichtiger, weil die größten Fortschritte vor allem in den Überschneidungsbereichen der Wissenschaften und im Austausch zwischen Einrichtungen zu erwarten sind. Enger zusammenarbeiten sollten wir zum Beispiel bei Klimaschutz und Energie. Enge Kooperationen gibt es auch zwischen den Universitäten Breslau und Lemberg. Lemberg, woher nach 1945 viele Gelehrte nach Breslau kamen. Heute gehört Lemberg zur Ukraine. Die Ukraine ist unmittelbarer Nachbar Polens und damit der Europäischen Union.

Deutschland wünscht, dass die Ukraine sich der Europäischen Union annähert. Die Zeiten, in denen es in Europa Trennlinien gab, sind vorbei – darauf beruht das Konzept der Östlichen Partnerschaft, aber auch die Idee der europäischen Integration insgesamt.

Die Ukrainer und die Bürger der Europäischen Union sollen und wollen einander näherkommen – durch engere politische, wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Beziehungen.

Breslau profitiert unermesslich von der Offenheit, Freizügigkeit, Pluralität und dem Minderheitenschutz. Denn in einer solchen Gesellschaft gedeihen die besten Ergebnisse. Wir wünschen der Ukraine eine solche Entwicklung. Alle würden profitieren.

Für uns ist klar: Die Annäherung der Ukraine an die EU kann nur auf der Basis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erfolgen. Zu diesen Werten hat sich die Ukraine immer wieder bekannt – nicht zuletzt mit der Unterzeichnung der Gründungserklärung der Östlichen Partnerschaft im Jahr 2009. Wir wünschen uns, dass die Führung der Ukraine dieses Bekenntnis auch umsetzt und meine Zweifel ausräumt.

2011 ist ein besonderes Jahr für die deutsch-polnischen Beziehungen. Wir haben den 20. Jahrestag der Unterzeichnung des Nachbarschaftsvertrages gefeiert und an 20 Jahre Deutsch-Polnisches Jugendwerk erinnert. Zudem hat Polen in herausfordernden Zeiten den Vorsitz des Rats der Europäischen Union übernommen.

Kaum ein anderer politischer Zusammenschluss ist so existenziell auf die Fähigkeit angewiesen, sich in die Lage des anderen versetzen zu können, wie die EU. Kein anderes Einigungsprojekt ist aber auch, bei allen Schwierigkeiten, insgesamt so erfolgreich – vom Aufbau einer dauerhaften Friedensordnung über die Wohlstandsgewinne durch Handel bis zur Wahrung der Interessen seiner Mitgliedsstaaten in der Welt.

Gleichzeitig ist Europa kein Selbstzweck, sondern muss seinen Bürgerinnen und Bürgern immer wieder begründet werden. Was also ist gut für Europa? Wie gehen wir gemeinsam um mit Herausforderungen von der exzessiven Verschuldung über den Klima- und Ressourcenschutz bis zur Unterstützung der weltweiten Rufe nach Freiheit und Teilhabe? Vor allem auch: Wie kann sich Europa umfassender demokratisch legitimieren? Wer entscheidet worüber? Durch wen wirksam kontrolliert?

Diese Fragen muss sich auch die junge Generation stellen. Und das tut sie, gerade in Polen. Sie, die vielen jungen Europäer, die sich hier in der wunderbar restaurierten Aula Leopoldina versammelt haben, stehen dafür.

Polens Platz in Europa ist gewichtig. Das verdankt Ihr Land einer erfolgreichen Wirtschaft und einer besonnenen, auf Ausgleich bedachten Außenpolitik.

Auch die polnische Kultur blüht und erfreut ganz Europa. Gerade in Deutschland ist das in diesen Monaten unübersehbar. Große Geschichtsschauen und viele kleinere Ausstellungen junger, nicht selten in Berlin lebender polnischer Künstlerinnen und Künstler sorgen dafür, dass Ihre deutschen Nachbarn sich mehr denn je für Polen und seine Regionen interessieren.

Der Universität Breslau verdanken wir, dass uns heute gemeinsam eine Zeitreise ganz besonderer Sensibilität gelingt: Wir feiern das 200-jährige Bestehen einer Universität, die vielfältige Wurzeln zu einer großen polnischen Universität haben gedeihen lassen. Herr Professor Harasimowicz wird dazu sprechen.

Auch wenn die Universität Breslau immer älter wird, wie wir Menschen mit jedem Tag älter werden: Die Universität Breslau bleibt im Kern ewig jung – durch die begeisterten immer neuen Studenten aus Polen, aus Deutschland und allen Teilen der Welt.

Ich gratuliere und wünsche weiter viel Erfolg.