Interview mit der Funke-Mediengruppe

Schwerpunktthema: Interview

15. April 2017

Der Bundespräsident hat der Funke-Mediengruppe und der französischen Tageszeitung Ouest-France ein Interview gegeben, das am 15. April erschienen ist: "Die Aufgabe von Politik ist es, den Ausgleich zwischen ganz verschiedenen Interessen in einer Gesellschaft zu suchen. Die Suche nach diesem Ausgleich darf nicht in der politischen Dunkelkammer stattfinden. Demokratie lebt nur dann, wenn die Auseinandersetzung über Gesellschaft und ihre Zukunft tatsächlich als Gespräch geführt wird."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einem Interview mit Jörg Quoos, Jochen Gaugele und Christian Kerl von der Funke-Mediengruppe im Amtszimmer von Schloss Bellevue

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der Funke-Mediengruppe und der französischen Tageszeitung Ouest-France ein Interview gegeben, das am 15. April erschienen ist.

Herr Bundespräsident, Sie sind erst ganz kurz im neuen Amt – wie fühlen sich die ersten vier Wochen als Staatsoberhaupt an?

Anders, aber gut.

Was ist anders?

Fast alles! Es beginnt mit diesem Amtssitz, der beeindruckt, in dem ich noch nicht alle Räume kenne, aber schon viele freundliche Mitarbeiter kennenlernen durfte. Nicht minder beeindruckt bin ich durch die Tausende von Bürgerbriefen voll von guten Wünschen und Ermutigungen. Gleichzeitig macht mir fast ein bisschen Angst, wie groß die Hoffnungen und Erwartungen an Amt und Person sind. Ich hoffe, ich kann dem gerecht werden. Denn ganz unabhängig von meiner Person und meinem Willen, das Amt auszufüllen: Es ist zwar ein politisches, aber eben kein Regierungsamt. Also in Kurzfassung: Ganz angekommen bin ich natürlich noch nicht, aber jeden Tag ein bisschen mehr. Und genau so geht es Ihnen und Ihren Kollegen ja auch: Erst vor ein paar Tagen hörte ich in den Radionachrichten noch von Außenminister Steinmeier und was er gerade zur Weltlage sagt. Da musste ich schon schmunzeln. Ich bin allerdings sicher: Wir werden uns von beiden Seiten bald in die neue Rollenverteilung einfinden.

Als Außenminister haben Sie betont, Deutschland müsse bereit sein, mehr Verantwortung zu tragen. Wie definieren Sie jetzt als Staatsoberhaupt diese Verantwortung Deutschlands – politisch, wirtschaftlich, auch militärisch?

Die Deutschen haben realisiert, dass die Erwartungen an Deutschland gewachsen sind. In einer Entwicklung, die mit der Wiedervereinigung begonnen hat, hat sich unsere Rolle verändert. Nicht nur hat unser Gewicht zugenommen, vor allem werden wir seitdem auch von unseren Freunden als ein Partner mit allen Rechten und Pflichten wahrgenommen. Das bedeutet, dass wir uns bei internationalen Krisen und Konflikten nicht verstecken können und dürfen. Das kann zwar auch militärische Verantwortung bedeuten, wie unsere Auslandseinsätze in Mali oder auch unser Engagement bei der Luftaufklärung im Kampf gegen den IS zeigen. Aber die Herausforderungen erfordern Antworten und Konzepte, die daneben vor allem diplomatische, wirtschaftliche und entwicklungspolitische Mittel umfassen. Wir brauchen Akteure, die sich mit Vernunft und viel Energie um die friedliche Lösung von Konflikten bemühen. Da sind wir heute sehr viel präsenter als früher. Das ist nicht einfach, aber richtig so. Das hat unser deutsches Engagement zur Beilegung des Atomkonflikts mit dem Iran bewiesen und zeigt unser weiter erforderliches Engagement in der Ukraine.

Wo kommt jetzt mehr Verantwortung auf Deutschland zu?

Wir haben ohne Zweifel mehr Verantwortung auf dem europäischen Kontinent. Das haben vor allem die Staatsschuldenkrise oder auch die Flüchtlingsbewegung im Herbst 2015 gezeigt, genau wie der Ukraine-Konflikt. Aber auch mit Blick auf Unruheherde in Nordafrika ist es nötig, dass Deutschland sich im europäischen Verbund um die Stabilisierung und Verbesserung der wirtschaftlichen Bedingungen Nordafrikas bemüht.

Einige Nachbarn – auch Frankreich – empfinden Deutschland als zu dominant, besonders wirtschaftlich. Können Sie diese Sorge nachvollziehen?

Diese Diskussion haben wir nicht nur mit einem Nachbarn. Wir leben in der Situation, dass die einen mehr Führung durch Deutschland in Europa einfordern und die anderen sich über die angebliche Dominanz Deutschlands beklagen – und das nicht nur im Wirtschaftlichen. Für uns Deutsche ist ganz klar: Europa kann nicht funktionieren mit der Führung eines Einzelnen, sondern nur mit der geteilten Verantwortung aller.

Dabei tragen die großen Mitgliedstaaten – nach Größe, Bevölkerung, wirtschaftlicher Stärke – mehr Verantwortung als andere. So sehe ich die Rolle Deutschlands. Und mit der Versicherung, dass wir die europäischen Partner als Gleichwertige sehen, mit ihnen als Gleichverpflichtete und Gleichberechtigte umgehen, können wir uns ganz gut und selbstbewusst bewegen.

Frankreich wählt einen neuen Präsidenten. Die Rechten haben mit Marine Le Pen gute Chancen, die Wahl zu gewinnen. Was würde ein Sieg Le Pens für Europa bedeuten?

Da kann ich den Franzosen nur zurufen: Hört nicht auf die Sirenengesänge derer, die euch eine große französische Zukunft nach der Beseitigung all dessen versprechen, was heute auch zu Frankreich gehört – ein Garant europäischer Stabilität und Grundpfeiler der Europäischen Union zu sein. Diese EU mag schwierig sein, aber sie ist für uns alle ein Gewinn, auch für Frankreich.

Uns muss klar sein: Nur wenn wir gemeinsam – Deutschland und Frankreich in besonderer Weise – Europa zu einem wirklichen Akteur in der Welt machen, werden wir Einfluss haben. Wenn wir das verhindern, wie nationalpopulistische Parteien es auch in Frankreich wollen, dann werden wir nicht Spieler, sondern Spielball anderer Mächte. Deshalb steht bei den Wahlen nicht nur für Frankreich, sondern auch für uns und für ganz Europa viel auf dem Spiel.

Die EU ist in einer tiefen Krise, sie erlebt mit dem Brexit erstmals Auflösungserscheinungen. Was haben die politisch Verantwortlichen falsch gemacht?

Wir sind selbst der Illusion erlegen, dass der Integrationsprozess der EU unumkehrbar ist. Die Politik – und ich schließe mich ausdrücklich ein – hat die größeren und kleineren Krisen Europas vielleicht zu häufig als Herausforderung und Chance erklärt und gleichzeitig versprochen: Europa werde aus der Krise gestärkt hervorgehen. Das war die Vorstellung einer Generation, die Europa immer nur in eine Richtung sich hat entwickeln sehen. Möglicherweise wäre uns manches erspart geblieben, wenn wir mehr von der Mühsal und den Risiken Europas berichtet hätten. Dennoch: Es bleibt dabei, dass die EU trotz aller Schwierigkeiten ein Gewinn für uns ist. Das sage ich mit Blick auf 70 Jahre Frieden und die Tatsache, dass uns Deutschen der Weg über Europa den Wiedereintritt als vollwertiger, akzeptierter Partner in die europäische Nachbarschaft ermöglicht hat. Auch die Wiedervereinigung Deutschlands wäre ohne Europa nur schwer gelungen. Gerade jetzt werde ich für Europa streiten und helfen, dass wir nicht zurückfallen in eine Vergangenheit, die wir überwunden hatten.

Die USA waren über Jahrzehnte ein Partner Europas. Wie gehen wir mit einem US-Präsidenten um, der einen Keil in die EU treiben will?

Das gehört zweifellos zu den Ungewissheiten, die die Menschen derzeit spüren. Die Deutschen haben erfahren, dass die Beziehungen zu Russland schwierig und nach der Destabilisierung in der Ost-Ukraine noch schwieriger geworden sind. Umso wichtiger war die Stabilität des transatlantischen Bündnisses. Das Verhältnis zu den USA war gerade für uns Deutsche immer mehr als die Beziehung zwischen zwei Staaten. Es war die Verkörperung des Westens mit den gemeinsamen Werten Demokratie, Freiheit und Menschenrechte. Wir alle wissen derzeit nicht, wie sich die Aussagen des neuen US-Präsidenten in seiner Politik gegenüber Europa niederschlagen werden. Doch wir dürfen uns über den Wegfall von Gewissheiten nicht beklagen. Wir müssen versuchen, uns auf unsere eigenen Stärken zu besinnen. Und das heißt gerade in Zeiten einer US-amerikanischen Neuorientierung, dass das geeinte Europa für uns als Fundament und als Orientierung noch wichtiger wird. In die Zukunft dieses Europas müssen wir investieren.

Wie definieren Sie in Zeiten des wachsenden Nationalismus Deutschland, was ist für Sie Deutschland und deutsch?

Der französische Philosoph Montesquieu hat gesagt: Ich bin aus Notwendigkeit Mensch, aus Zufall Franzose. Wenn mich meine Mutter an ihrem Heimatort Breslau zur Welt gebracht hätte, wäre ich heute Pole. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts – Nationalsozialismus, Krieg und Vertreibung – hat dazu geführt, dass ich in Westfalen geboren und Deutscher bin. Das bin ich gern, und manche sagen, ich sei sehr deutsch! Aber ich weiß natürlich: Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts macht es selbst heutigen Generationen mitunter noch schwer, sich eindeutig zu ihrer deutschen Identität zu bekennen. Gerade das Bekennen, das Nicht-Verschweigen der dunklen Seiten der deutschen Geschichte schreibt Peter Siebenmorgen in seinem neuen Buch Deutsch sein, öffnet uns für das, was gut und hell ist an unserer Geschichte. Mit anderen Worten: Goethe und Schiller gehören dazu, aber eben auch Hitler und Heydrich. Und wenn ich sehe, dass Feridun Zaimoglu – ein deutscher Schriftsteller mit türkischen Wurzeln – einen großen Roman über die Reformation schreibt, zeigt das doch an einem von zahlreichen Beispielen, dass viel Neues und Bereicherndes hinzugekommen ist. In den vergangenen Jahrzehnten ist uns vieles miteinander geglückt. Wir sind einen erstaunlichen Weg gegangen und unser Land ist zu einem Anker der Hoffnung geworden. Deswegen kann ich sagen: Ich bin gerne Westfale, Deutscher und Europäer.

Wie viele Zuwanderer verträgt unsere Gesellschaft? Ist jemand fremdenfeindlich, wenn er sich Sorgen über die Grenzen der Integration macht?

Bundespräsident Gauck hat ja den richtigen Satz gesagt: Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind endlich. Er sagte das zu einem Zeitpunkt, als etwa eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen waren und aufgenommen wurden. Ich habe damals gesagt, Deutschland wird eine Million Flüchtlinge verkraften – aber nicht jedes Jahr. Im Augenblick scheint mir das drängende Problem nicht so sehr die Zahl zu sein, sondern drängender ist die Frage, wie gelingt uns die Integration derer, die gekommen sind? Eine gewaltige Aufgabe, bei der wir erst am Anfang stehen. Wir können in Deutschland dankbar sein, dass Politik und staatliche Institutionen damit nicht allein gelassen sind. Im Gegenteil: Sie können sich auf ein unglaublich großes Engagement von Ehrenamtlichen stützen, die über Vereine, Organisationen oder auch ganz privat Flüchtlingen beim Ankommen in der deutschen Gesellschaft helfen. Aber auf bestmögliche Integration derer, die bleiben, sollten wir uns konzentrieren. Sie liegt nicht nur im Interesse derer, die gekommen sind. Sie ist auch Voraussetzung dafür, dass wir Konflikte innerhalb unserer Gesellschaft vermeiden.

Viele Bürger misstrauen immer mehr der etablierten Politik. Wie kann sie Vertrauen zurückgewinnen?

Ich mache da ganz unterschiedliche Erfahrungen. Natürlich kenne ich diejenigen, deren Enttäuschung über Politik umgeschlagen ist in Ablehnung von Politik, auch von etablierten Medien und staatlichen Institutionen. Aber aus hunderten Veranstaltungen mit Bürgerinnen und Bürgern nehme ich doch einen ganz anderen Eindruck mit: Es gibt weiterhin großes Interesse an Politik. Die überwiegende Mehrheit möchte vor allem Politik verstehen. Die meisten ahnen ja, dass ihre eigene Meinung nicht die allein maßgebende sein kann, dass es die Aufgabe von Politik ist, den Ausgleich zwischen ganz verschiedenen Interessen in einer Gesellschaft zu suchen. Die Suche nach diesem Ausgleich darf nicht in der politischen Dunkelkammer stattfinden. Demokratie lebt nur dann, wenn die Auseinandersetzung über Gesellschaft und ihre Zukunft tatsächlich als Gespräch geführt wird. Das Gespräch geht verloren, wenn jeder im Netz nur nach Bestätigung der eigenen Meinung sucht. Ein Bundespräsident kann dies nicht alleine verbessern. Aber für mich ist es wichtig, immer wieder nach dem Gespräch zu suchen. Deshalb wird meine Deutschlandreise – die Antrittsbesuche in den 16 Bundesländern – eine Reise gemeinsam auch mit jungen Menschen zu den Stätten der deutschen Demokratie: Das werden historische Plätze sein, klassische Foren der Demokratie wie ein Stadtrat oder ein Kommunalparlament, aber auch Erinnerungsorte wie die der Friedlichen Revolution in den ostdeutschen Bundesländern.

Gerade in sozialen Netzwerken laufen Umgangsformen völlig aus dem Ruder. Der Begriff Hatespeech beschreibt das nur unzutreffend. Der Bundespräsident hat die Macht des Wortes. Können Sie helfen, diese Verrohung einzudämmen?

Ich sehe mich zwar nicht persönlich und täglich als Opfer, aber natürlich habe ich meine eigenen Erfahrungen gemacht. Wenn ich früher abends meine Facebook-Seite aufrief, haben mich manche Einträge fassungslos gemacht. Bei einigen Menschen gerät, wenn sie anonym kommunizieren, die Sprache offenbar schnell außer Kontrolle. Sie werden maßlos: entweder ein respektloses Stalkertum einerseits oder grenzenlose, hasserfüllte Ablehnung andererseits. Der Raum dazwischen ist ganz klein geworden; eine Haltung, dass auch der andere recht haben könnte, kommt darin nicht vor! Dabei lebt Demokratie doch gerade von der Bereitschaft, auch anderen zuzuhören, sich selbst und die eigene Position zu überprüfen und in Respekt vor anderen Positionen nach Lösungen im Streit der Interessen zu suchen.

Würden Sie einen Vorstoß unterstützen, diese Anonymität im Netz zu beenden?

Am liebsten ja! Aber ich weiß natürlich, dass es rund um den Erdball genügend autoritäre Staaten gibt, in denen die Anonymität der Äußerung überlebenswichtig ist. Und weltweit hat sich eine Kultur des Netzes durchgesetzt, zu der Anonymität gehört oder sogar gesetzlich garantiert ist. Dennoch täte es der Demokratie in Deutschland aus meiner Sicht gut, wenn wir die politische Debatte, auch den politischen Streit, ohne Versteckspiel, sondern erwachsen mit offenem Visier führen würden.

Die Fragen stellten: Jörg Quoos, Jochen Gaugele und Christian Kerl.