Interview mit dem Magazin Stern

Schwerpunktthema: Interview

20. Juli 2017

Der Bundespräsident hat dem Magazin Stern ein Interview gegeben, das am 20. Juli erschienen ist. Darin heißt es: "Mit der Globalisierung ist die Welt so komplex, so kompliziert geworden, dass Nationalstaaten allein wenig erreichen können. Wir brauchen die Zusammenarbeit von Staaten, um Lösungen zu finden. Das verlangt Kompromissbereitschaft, Zeit, Geduld, Nerven, angesichts der terroristischen Bedrohung auch einen großen Aufwand für die Sicherheit."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einem Interview mit Jens König und Andreas Hoidn-Borchers vom Magazin Stern im Amtszimmer von Schloss Bellevue

Der Bundespräsident hat dem Magazin Stern ein Interview gegeben, das am 20. Juli erschienen ist.

Herr Bundespräsident, warum hatten Sie eigentlich das Gefühl, nach den G20-Krawallen nach Hamburg fahren zu müssen?

Ich habe die Krawalle über Stunden im Fernsehen verfolgt. Mir war sofort klar, dass dieses Ereignis die Menschen verstört. Dass darüber heftig debattiert werden wird. Dass der Bundespräsident sich deshalb zeigen muss. Solche gewalttätigen Ausschreitungen bei Demonstrationen haben wir in Deutschland seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt.

Normalerweise besucht ein Bundespräsident nur nach Terroranschlägen oder Naturkatastrophen den Ort des Geschehens. War die Gewalt von Hamburg eine politische Katastrophe?

Es gibt keine Regel, wann der Bundespräsident vor Ort sein muss. Mein Gespür sagte mir, nach diesen Tagen ist die Anwesenheit des Bundespräsidenten verlangt. Ich habe es für meine Aufgabe gehalten, so schnell wie möglich verletzte Polizisten im Krankenhaus zu besuchen. Ich wollte ihnen stellvertretend für das ganze Land meinen Respekt erweisen. Wie auch den übrigen Rettungskräften, die in Hamburg ihren Kopf hingehalten haben.

Sie haben sich auf einer Polizeiwache im Schanzenviertel auch mit betroffenen Anwohnern getroffen.

Ich wollte den Menschen, die dort unter den Ausschreitungen gelitten haben, den Geschäftsleuten, deren Läden zerstört und geplündert wurden, signalisieren: Wir kümmern uns um euch, ihr werdet nicht vergessen.

Was hat Sie bei den Gesprächen mit verletzten Polizisten besonders schockiert?

Die Zahl der verletzten Polizisten spricht für sich: mehr als 200. Aus den Gesprächen habe ich erfahren, mit welcher Gewaltbereitschaft, mit welcher Verantwortungslosigkeit auf die Polizisten losgegangen wurde. Zwei Polizisten mit Knochenbrüchen waren noch im Bundeswehrkrankenhaus. Fassungslos machten mich Berichte, dass Piloten von Polizeihubschraubern und Fahrer von Wasserwerfern in voller Absicht mit Laserpointern geblendet wurden. Als ich das hörte, wurde mir klar, dass noch viel Schlimmeres hätte passieren können.

Viele Hamburger hatten das Gefühl: Die Politiker werden geschützt, wir und unser Eigentum hingegen werden im Stich gelassen. Nach der Kölner Silvesternacht konnte der Staat zum zweiten Mal für alle sichtbar sein Gewaltmonopol nicht durchsetzen.

Ich bitte um Nachsicht, aber zu Fragen der Polizeitaktik will ich mich nicht äußern.

Es geht nicht um Polizeitaktik, sondern um das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat.

Der Rechtsstaat war in diesen Tagen herausgefordert, ja. Aber er beweist auch, dass er funktioniert. Straftaten werden verfolgt und geahndet. Natürlich irritieren und erschüttern Ereignisse wie in Hamburg die Menschen. Aber wir dürfen auch nicht so tun, als wären solche Ausschreitungen Alltag in Deutschland. Das sind sie nicht.

Sie sorgen sich nicht, dass der Glaube in den Rechtsstaat erschüttert ist?

Wir sollten nicht die Tatsachen verdrehen. In Hamburg haben Gewalttäter in eklatanter Weise fundamentale Regeln unseres Zusammenlebens verletzt. Gegen diese Gewalttäter muss sich unsere Kritik richten. Mich empört aber auch das Verhalten all derer, die aus Langeweile oder Abenteuerlust bei den Ausschreitungen im Schanzenviertel mitgemacht und Läden geplündert haben. Alle Gewalttäter müssen jetzt ihrer Strafe zugeführt werden.

Sogar Familienväter mit Kindern an der Hand haben in dieser Nacht gejohlt, als Flaschen und Steine auf Polizisten flogen.

Das ist etwas, was mir wirklich Sorgen macht. Es scheint, als verändere sich etwas in unserer Gesellschaft. Der Respekt vor staatlichen Institutionen wie beispielsweise der Polizei geht bei einigen offenbar verloren. Auch das Bewusstsein, dass sie auf den Schutz gerade dieser Polizei selbst angewiesen sein könnten.

Ist die Demokratie in Deutschland in Gefahr?

Nein. Ich halte nichts von Alarmismus. Die deutsche Demokratie ist nicht in Gefahr, bei allem Entsetzen über die Krawalle. Die überwältigende Zahl der Bürgerinnen und Bürger war ähnlich schockiert von diesen Gewaltexzessen wie ich. Sie zeigen großes Verständnis für das Vorgehen der Polizisten. Die Polizei in Hamburg hat ja auch das Demonstrationsrecht verteidigt und die vielen friedlichen Demonstranten geschützt. Das sollten wir nicht vergessen. Auch dafür erfährt sie ein großes Maß an Solidarität und Unterstützung. Das ist ein gutes Zeichen.

Sie haben die Verteidigung der Demokratie zur Hauptaufgabe Ihrer Präsidentschaft gemacht. Bislang dachten Sie, dass Gefahr vor allem von Populisten und Rechtsextremisten drohe. Müssen Sie jetzt umdenken?

Dieses Land ist doch plötzlich kein anderes geworden, weil Gewalttäter aus ganz Europa, auch aus Deutschland, jedes Maß verloren haben.

Die Demokratie wird nicht viel stärker als gedacht auch von links bedroht?

Jede Form von Gewalt ist ein Schaden für die Demokratie, egal, aus welchen Motiven heraus und mit welcher politischen Gesinnung sie verübt wird.

Waren wir zu lange zu nachsichtig mit linken Gewalttätern, weil sie angeblich für eine bessere Welt kämpfen?

Wenn ich mir die kriminelle Energie der Gewalttäter von Hamburg anschaue, habe ich doch große Zweifel, dass ihre Motive überhaupt irgendetwas mit Politik zu tun haben. Aber entscheidend ist: Keine politische Motivation rechtfertigt Gewalt in der Auseinandersetzung.

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum gerade junge Leute Lust an solchen Gewaltexzessen haben?

Ich traue mir nicht zu, das abschließend zu erklären. Ich beobachte nur, dass es offenbar unterschiedliche Auslöser für Gewalt gibt. Manche halten sich für ermächtigt, gegen den Staat und dessen Institutionen zu kämpfen. Andere nehmen nur aus Lust am Krawall an solchen Ausschreitungen teil. Und wiederum andere lassen sich von dem Moment in Gewaltausbrüche hineinziehen. Welche Motive auch immer für wen in Hamburg ausschlaggebend waren: Alle, die Gewalt ausgeübt haben, haben rote Linien überschritten.

Sie haben den G20-Gipfel in Hamburg verteidigt. Ist der Preis, den die Gesellschaft für solche politischen Großereignisse zahlen muss, nicht zu hoch?

Ist der Preis nicht höher, wenn wir uns in einer Demokratie die öffentlichen Räume durch Gewalttäter nehmen lassen? Eine selbstbewusste demokratische Gesellschaft darf sich doch nicht von Gewalttätern vorschreiben lassen, wo sie solche Gipfel veranstaltet. Sollen sie in Zukunft nur noch auf abgelegenen Inseln oder in autokratischen Ländern möglich sein? Mich wundert im Übrigen, wie schnell vergessen worden ist, dass es eine internationale Großkonferenz in Paris war, die einen entscheidenden Beitrag zum weltweiten Klimaschutz geleistet hat. Solche Konferenzen in großen Städten der westlichen Demokratien sind wichtig.

Müssen das aber immer solche Mammutveranstaltungen sein?

Ich hätte nichts dagegen, wenn es bei den teilnehmenden Staaten mehr Selbstdisziplin gäbe, was den Umfang ihrer Delegationen betrifft. Aber noch einmal: Vergessen wir nicht, dass der Erfolg des Klimaschutzabkommens von Paris mit mehr als 40. 000 Teilnehmern – in Hunderten von Arbeitsgruppen – erreicht wurde. Beim Misserfolg der Klimakonferenz in Kopenhagen acht Jahre zuvor waren es allerdings auch nicht viel weniger. Der Erfolg hängt also nicht von der Größe des Formats ab.

Ihre Tochter ist 21, studiert Arabistik. Versteht sie, wofür ein G20-Gipfel gut ist, der von 20. 000 Polizisten geschützt werden muss?

Ich hoffe, dass ich ihr das überzeugend erklärt habe. Mit der Globalisierung ist die Welt so komplex, so kompliziert geworden, dass Nationalstaaten allein wenig erreichen können. Wir brauchen die Zusammenarbeit von Staaten, um Lösungen zu finden. Das verlangt Kompromissbereitschaft, Zeit, Geduld, Nerven, angesichts der terroristischen Bedrohung auch einen großen Aufwand für die Sicherheit. Dass nicht jeder Vertrauen in diesen politischen Prozess hat, kann ich nachvollziehen. Niemand sollte aber der Idee verfallen, dass sich irgendein Problem dieser Welt von selbst löst, wenn man auf internationale Gipfeltreffen verzichtet.

Der Gipfel in Hamburg hat noch einmal vor Augen geführt, wie umkämpft unsere Demokratie ist. Welche Schlüsse ziehen Sie als Bundespräsident daraus?

Wenn wirklich um die Demokratie gekämpft wird, ist das kein schlechtes Zeichen. Ja, die Demokratie ist auch in Europa angefochten von Autokraten, Populisten, Schwarzmalern, in einzelnen Fällen auch von Gewalttätern. Sie wird aber noch durch etwas ganz anderes gefährdet: dass viele sie für selbstverständlich und garantiert halten. Die Demokratie fällt jedoch nicht vom Himmel. Deshalb muss jeder Einzelne von uns immer wieder zur Demokratie ermutigen, vor allem wir, die politisch Verantwortlichen.

Der türkische Präsident Erdoğan sucht immer wieder nach Gelegenheiten, bei uns aufzutreten, auch in Hamburg hätte er gern geredet. Glauben Sie, dass die Deutschtürken Steinmeier als ihren Präsidenten ansehen? Oder doch eher Erdoğan?

Ich habe vor einiger Zeit mit Berufsschülern diskutiert, in Berlin-Kreuzberg, über die Hälfte Migrationshintergrund.Einer der interessantesten Teile der Debatte: Warum jubeln so viele der hier lebenden Türken Erdoğan zu? Warum wollen sie für die Türkei eine autoritäre Verfassung, unter der sie hier in Deutschland nie leben wollen würden? Einer der Jugendlichen sagte: Ihr versteht das nicht. Es geht gar nicht um die Verfassung. Wir fühlen uns hier nicht auf Augenhöhe mit euch. Er erklärte, Erdoğan symbolisiere ein starkes Türkentum. Viele Deutschtürken erhofften sich mit dem Bekenntnis dazu, so paradox das erscheint, eine bessere Stellung in der deutschen Gesellschaft. Für viele war es eine Art Protestwahl – mit Stimmabgabe in der Türkei und einem erhofften Signal nach Deutschland hinein. Ich weiß nicht, ob das für die meisten zutrifft. Aber ich habe lange darüber nachgedacht.

Was sagt das über uns und unsere Gesellschaft?

Wir haben viel für die Integration getan – aber wir unterscheiden noch zu oft zwischen uns und denen. Ein Deutschtürke erzählte mir folgende Geschichte: Er lebt seit 40 Jahren hier, in Hannover, deutscher Staatsbürger, spricht sehr gut Deutsch, hat einen Job, seine Kinder sind in Deutschland geboren. Trotzdem fühlte er sich immer noch nicht richtig akzeptiert. Was soll ich denn noch machen?, fragte er. Als er nach London fuhr, um dort mit seiner Partnergewerkschaft gegen den Brexit zu protestieren, wurde er von Brexit-Befürwortern als Deutscher beschimpft. So verrückt das klingt, er hat sich darüber gefreut. Er sagte mir: Ich hab zum ersten Mal gespürt, ich bin ein Teil Deutschlands.

Ist die Integration erst vollendet, wenn das erste Einwandererkind Bundespräsident ist?

Das unterstellt, dass der Prozess der Integration jemals abgeschlossen ist. Ich sage es mal so: Die Kinder und Kindeskinder der ersten Einwanderergeneration haben auch in der Politik schon viel erreicht. Es gab und gibt Minister in Landesregierungen, eine Partei hat einen Chef mit türkischen Wurzeln. Vielleicht wird in Zukunft ein Migrantenkind Bundespräsident, wer weiß? Aber die ganz große Aufgabe steht uns noch bevor: die Integration der vielen Flüchtlinge, die in den vergangenen beiden Jahren zu uns gekommen sind.

Schaffen wir das?

Das wird ein langer, schwieriger Prozess. Darüber müssen wir offen reden. Während der Flüchtlingskrise gab es ja beides: eine ungeheure Hilfsbereitschaft, aber auch große Verunsicherung. Joachim Gauck fasste das in die treffenden Worte: Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten sind endlich. Wir brauchen einen Konsens in unserer Gesellschaft darüber, dass wir in diesen Prozess der Integration heute viel investieren müssen, damit wir in ein paar Jahren nicht jammern, dass es schiefgegangen ist. Viele der Menschen, die zu uns gekommen sind, müssen hier eine Heimat finden können.

Gerade das ruft bei vielen Ängste hervor. Sie fürchten um ihre Heimat. Sogar Angela Merkel sagt: Deutschland wird Deutschland bleiben, mit allem, was uns daran lieb und teuer ist.

Heimat ist nichts Statisches. Heimat verändert sich – weil wir uns ändern, aber auch, weil andere Menschen zu unserer Gesellschaft hinzukommen, sie bereichern. Die schönste Definition, die ich kenne, stammt vom Philosophen Karl Jaspers: Heimat ist da, wo ich verstehe und verstanden werde. Diese Worte transportieren beides: Angebot und Anspruch. Für diejenigen, die zu uns kommen, heißt das: Wir bieten euch ein Zuhause, in dem ihr sicher und geborgen leben könnt. Wir erwarten von euch aber auch, dass ihr das rechtliche Fundament unserer Gesellschaft akzeptiert – und unsere Werte.

Brauchen wir eine deutsche Leitkultur?

Immer dann, wenn wir eine aufgeregte Debatte über Zuwanderung geführt haben, kam fast reflexartig der aufgeladene Begriff der deutschen Leitkultur ins Spiel, und die Debatte ging schief. Mit dem Kulturbegriff verhält es sich so ähnlich wie mit dem Heimatbegriff: Er ist prinzipiell ein offener, ohne dass er beliebig ist. Es geht nicht darum, Goethe und Schiller zu relativieren, sondern um die Anerkennung, dass die Menschen, die zu uns kommen, etwas in diese Gesellschaft mitbringen. Wenn wir versuchen, unsere Kultur, unsere Werte in das Korsett einer Leitkultur zu pressen, erstellen wir Kataloge, mit denen wir festschreiben wollen, was angeblich und auf ewig dazugehört und was nicht. Das grenzt Menschen aus, und das stört mich.

Innenminister Thomas de Maizière hat einen solchen Katalog erstellt. Er umfasst zehn Punkte. Er reicht von Wir geben uns zur Begrüßung die Hand bis hin zu Wir sind nicht Burka.

Ich schätze Thomas de Maizière sehr. Aber Kataloge dieser Art enthalten Unschärfen. Soll ich einer orthodoxen Jüdin in Deutschland, die mir aus religiösen Gründen nicht die Hand gibt, sagen: Du gehörst nicht dazu?

Gehört der Islam zu Deutschland?

Das geht nicht in einem Satz.

Dann eben etwas länger.

Mein Vorvorgänger Christian Wulff war gerade hier im Schloss Bellevue, wir haben auch über dieses Thema gesprochen. Ich habe ihn dabei so verstanden: Machen wir uns endlich ehrlich, die Muslime gehören zu Deutschland. Wir haben seit Beginn der 60er Jahre viele Menschen zu uns geholt, als Arbeitskräfte, darunter viele Muslime aus der Türkei. Sie sind geblieben, haben in Deutschland Wurzeln geschlagen, pflegen ihren Glauben. Diese Zuwanderungsgeschichte gehört zu uns, sie ist Teil unserer Geschichte, ohne dass wir deswegen unsere christlich-jüdischen Traditionen aufgeben.

Sollen unsere Fußballnationalspieler die Nationalhymne mitsingen?

Sie müssen nicht, aber es wäre schön, wenn sie den Text könnten.

Fühlen Sie sich eigentlich auch als Präsident der AfD-Anhänger?

Der Bundespräsident ist kraft der Verfassung Präsident aller Deutschen. Ich habe in meiner Antrittsrede deutlich gemacht, dass ich die Sorgen vieler Menschen ernst nehme, dass ich nach Gründen für Unsicherheit und Unzufriedenheit suchen werde. Ich will aber nicht diejenigen adeln, die mit Fremdenfeindlichkeit und Angstmache das Klima in unserer Gesellschaft vergiften wollen.

Darf man einen Mann wie Björn Höcke einen Hassprediger nennen?

Man darf das, aber das meinen Sie ja nicht, oder? Ich als Bundespräsident sage: Wer vor dem Hintergrund der Geschichte des 20. Jahrhunderts und der Schuld, die Deutsche auf sich geladen haben, heute wieder völkisches Gedankengut äußert, der will doch zweifellos aufhetzen.

Schon mal Neo Magazin Royale gesehen?

Selbstverständlich.

Selbstverständlich?

Ich halte Jan Böhmermann für einen klugen Mann. Auch wenn ich nicht alles mag, was er macht. Sein Erdoğan-Gedicht mochte ich nicht.

Daran gedacht, Jan Böhmermann zum Gespräch einzuladen?

Ich habe ihn sogar in öffentlichen Reden zitiert. Wenn ich sage: In einer aus den Fugen geratenen Welt wächst Deutschland mehr Verantwortung zu, dann verstehen diesen Satz vor allem politisch interessierte Leute. Ich hab das für Jugendliche übersetzt und dafür bei Jan Böhmermann geklaut: The world has gone completely nuts – that’s why we’re back to help, mein Schatz. Das haben die Jugendlichen verstanden.

Ein Comedian ist für viele junge Leute eine wichtigere Figur als der Bundespräsident. Kränkt Sie das?

Dann hätte ich viel Anlass, gekränkt zu sein. Natürlich ist Jan Böhmermann populär. Aber junge Leute wissen auch sehr
genau zu unterscheiden. Sie denken nicht in solchen Rangverhältnissen. Wenn ich mit Jugendlichen zu tun habe, spüre ich nach kurzer Zeit kein Fremdeln und erst recht keine Ablehnung.

Herr Steinmeier, Sie stammen aus einfachen Verhältnissen. Ihre Mutter war wahnsinnig stolz, dass Sie Bundespräsident wurden. Haben Sie ihr das Schloss Bellevue schon gezeigt?

Sie war nach meiner Vereidigung beim Empfang mit militärischen Ehren hier im Schloss dabei. Sie hat es genossen. Ich war wirklich sehr berührt, dass sie mit ihren knapp 88 Jahren nach Berlin angereist war, um den Augenblick mitzuerleben.

Das Schönste am Präsidentenamt?

Ob Sie es mir glauben oder nicht, nach einem Vierteljahrhundert in der exekutiven Politik, nach vielen Jahren oft atemloser Krisendiplomatie genieße ich es jetzt, mit etwas längerem Atem Politik zu machen, mich den langfristigen Trends und Fragestellungen unserer Gesellschaft zu widmen. Ich empfinde das als Privileg. Das ist ein unendlicher Zugewinn.

Als Sie 2009 SPD-Kanzlerkandidat wurden, gab Ihre Frau Ihnen den Rat: Sei einfach du selbst. Kann man das als Bundespräsident: einfach man selbst sein?

Der Rat ist unverändert richtig, aber es ist gar nicht so einfach. Ich muss mich noch daran gewöhnen, dass ich meinen Namen nicht mehr höre. Wann immer ich einen Saal betrete, lautet die Ankündigung: Herr Bundespräsident. Und das nicht ohne Grund: Im höchsten Staatsamt tritt die Person hinter das Amt zurück. Andererseits lebt das Amt nur, wenn der Amtsinhaber es mit seiner Person prägt und ausfüllt. Das war und ist bei jedem Bundespräsidenten anders. Noch hat jeder Präsident – trotz unveränderter Aufgaben – im Laufe seiner Amtszeit seinen eigenen Stil geprägt.

Die Fragen stellten: Andreas Hoidn-Borchers und Jens König