Interview mit den australischen Tageszeitungen The Sydney Morning Herald und The Australian Financial Review

Schwerpunktthema: Interview

2. November 2017

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat den australischen Tageszeitungen The Sydney Morning Herald und The Australian Financial Review ein schriftliches Interview gegeben, das am 3. November in Australien erschienen ist. Darin heißt es: "Ich hoffe, dass wir ein offenes, transparentes und regelbasiertes multilaterales Handelssystem mit der WTO im Zentrum erreichen können. Es liegt im gemeinsamen strategischen Interesse, dass Australien und die Europäische Union das geplante Freihandelsabkommen schnell verhandeln."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Arbeitszimmer (Archivbild)

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der Tageszeitung The Sydney Morning Herald und der Wirtschaftszeitung The Australian Financial Review anlässlich des Staatsbesuchs in Australien ein schriftliches Interview gegeben, das am 3. November erschienen ist.

Deutschland und Australien liegen geografisch weit voneinander entfernt, aber inhaltlich oft nah beieinander. In Anbetracht des Rückzugs der USA aus der TPP und Großbritanniens aus der EU, wie können Deutschland und Australien Ihrer Auffassung nach die Agenda für offene Volkswirtschaften neu beleben?

Zwischen Australien und Deutschland liegen zwar mehr als 14.000 Kilometer, aber wir teilen die Werte von Demokratie und Rechtsstaat, von Markt und Wettbewerb als wesentliche Elemente leistungsfähiger und wachstumsstarker Volkswirtschaften. Der von Ihnen beschriebene Protektionismus ist auch eine Folge davon, dass die Globalisierung viele Menschen verunsichert. Die Akzeptanz für den offenen wirtschaftlichen Austausch stärken wir vor allem dadurch, dass die Regeln einer sozialen Marktwirtschaft und einer ökologisch nachhaltigen Entwicklung international gefestigt werden. Wo Bürgerinnen und Bürger erkennen können, dass die Früchte einer innovativen Wirtschaft allen zugutekommen, fassen sie neues Vertrauen in den Freihandel. Europa und Kanada haben beispielsweise mit dem Freihandelsabkommen CETA einen guten Standard gesetzt, der nach einer kritischen Debatte in Deutschland durchaus eine politische Mehrheit gefunden hat.

Ich hoffe, dass wir ein offenes, transparentes und regelbasiertes multilaterales Handelssystem mit der WTO im Zentrum erreichen können. Es liegt im gemeinsamen strategischen Interesse, dass Australien und die Europäische Union das geplante Freihandelsabkommen schnell verhandeln. Es freut mich, dass die Dinge jetzt vorangehen. Ein zügiger Abschluss wäre nicht nur zum konkreten wirtschaftlichen Vorteil der Menschen in Australien und Europa. Wir setzen damit gemeinsam auch ein deutliches Signal für Offenheit und wirtschaftlichen Austausch.

Mehr als 60 Staaten haben sich der chinesischen Initiative Neue Seidenstraße angeschlossen. Deutschland und Australien waren da zurückhaltender. Aber haben die entwickelten Staaten eigentlich eine bessere Alternative für mehr Infrastrukturentwicklung und besseren Lebensstandard zu bieten oder wollen wir angesichts der positiven Agenda der Chinesen nur Spielverderber sein?

Die Wirtschaftsbeziehungen mit China sind sehr gut und wir verfolgen Chinas Seidenstraßeninitiative mit großem Interesse. Die deutsche Wirtschaft ist interessiert, sich an Projekten zu beteiligen, die im Zusammenhang mit Chinas Seidenstraßeninitiative stehen. Es gibt bereits einige neue Eisenbahnverbindungen zwischen China, Zentralasien und Deutschland. Wir haben auch unsere Partner in der Europäischen Union ermutigt, mehr in Infrastrukturkooperationen mit China zu investieren. Allerdings müssen wir dabei immer Investitionsregeln und -standards im Blick haben sowie den fairen Zugang zu Projekten.

In einer Zeit, da illiberale Politik auf dem Vormarsch ist, teilen Deutschland und Australien das gemeinsame Interesse an der freiheitlichen Demokratie. Wie soll die Welt aber die jüngsten Wahlergebnisse aus Deutschland interpretieren, insbesondere das gute Abschneiden der AfD? Muss Deutschland mehr tun, um die Bürger in punkto Zuwanderung zu beruhigen, und wenn ja, bedeutet das in Zukunft noch härtere Bedingungen für Asylbewerber?

Deutschland ist eine starke Demokratie in der Mitte Europas. Die Lehren der deutschen Geschichte, niemals wieder extremen Nationalismus, Rassismus und die Verfolgung von Minderheiten zuzulassen, sind unverbrüchlich verankert in unserer politischen Kultur. Wir wollen ein geeintes Europas als Garant des Friedens auf einem Kontinent, der zwei fürchterliche Weltkriege erlebt hat. Bei den letzten Wahlen in Deutschland haben die politischen Kräfte, die sich in dieser Tradition sehen, die große Mehrheit der Wählerstimmen bekommen. Das ist die wichtigste Botschaft für alle unsere internationalen Partner, auch für Australien. Daran ändert der Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag nichts. Aber wie bereits in anderen europäischen Ländern geschehen, ist mit der AfD nun auch in Deutschland eine rechtspopulistische Partei im Parlament vertreten. Einer der Gründe für den Einzug, aber nicht der einzige, ist der Anstieg der Flüchtlingszahlen. Das hat in den vergangenen Jahren zu einer deutlichen Polarisierung in der deutschen Gesellschaft geführt. Entscheidend wird es nun sein, allen Bürgerinnen und Bürgern die Gewissheit zu vermitteln, dass die rechtsstaatlichen Verfahren funktionieren. Wir brauchen deshalb auch eine erneute gesellschaftliche Verständigung darüber, welche und wie viel Zuwanderung wir wollen. Aus meiner Sicht gehört dazu, dass wir die Regeln einer legalen Einwanderung nach Deutschland klarer definieren und dass wir die Migration nach unseren Maßgaben kontrollieren und steuern. Nur eine breite gesellschaftliche Diskussion hierüber eröffnet die Chance, die Polarisierung in der Debatte zu überwinden.

Bundeskanzlerin Merkel sprach vor einigen Monaten darüber, dass Europa sich nun weniger auf die Vereinigten Staaten verlassen sollte sowie in Anbetracht des Brexit sein Schicksal in die eigene Hand nehmen müsse. Welche Rolle wird Deutschland dabei spielen?

In einer sich rasant verändernden Welt verändert sich auch die Rolle und Verantwortung Deutschlands. Bisweilen ist das keine einfache Debatte: Viele Menschen bei uns hatten nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990 und dem Ende des Kalten Krieges das Gefühl, es werde keine schwierigen außenpolitischen Abwägungen mehr geben. Die Auffassung, die Geschichte sei gewissermaßen an ihr Ende gekommen, war durchaus populär. Heute sehen wir in drastischer Klarheit, dass vieles davon zu optimistisch war. Die Zukunft ist offen und es ist an uns, sie positiv zu gestalten. Das wird Deutschland in der Außenpolitik, in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik und auch in der Entwicklungspolitik mehr abverlangen als bisher. Wir werden uns stärker engagieren müssen. Ich verfolge mit großem Interesse die australische Diskussion, die sich ja um ganz ähnliche Fragen dreht. Das wird auch ein wichtiges Thema meiner Gespräche hier in Australien sein. Für Deutschland ist diese Debatte natürlich immer eingebettet in unsere feste Integration in die Europäische Union. Sie ist und bleibt das Fundament unserer Politik. Das gilt auch nach dem Brexit. Die Vereinigten Staaten ihrerseits sind und bleiben der Garant unserer Sicherheit im Nordatlantischen Bündnis. Aber das ist kein Kissen, auf dem wir uns ausruhen können. Die Frage der Rolle Europas in der Welt von morgen, auch die Frage nach den erforderlichen Instrumenten für Europas Sicherheit, für Verteidigung und für Krisenprävention diskutieren wir zurzeit intensiv unter den Mitgliedstaaten der Union. Das wird eines der großen Themen der kommenden Jahre bleiben – nicht weil wir es unbedingt wollen, sondern weil wir diesen Fragen angesichts der Entwicklungen hier, in Asien wie in Amerika, im Nahen Osten wie in Europa, nicht ausweichen können.

Die immer größeren Rivalitäten und das Wettrüsten zwischen den Staaten Asiens erinnern an Europa in einer früheren Ära. Können wir aus Europas Vergangenheit etwas Nützliches für die Zukunft Asiens lernen?

Der rasante Aufstieg neuer alter Großmächte wie China und Indien, die gleichzeitige Verunsicherung angesichts der politischen Situation in den USA und die akute Gefahr einer nuklearen Eskalation auf der koreanischen Halbinsel betreffen nicht nur die Menschen hier in Australien, sondern natürlich auch uns. Dabei macht die Geografie einen großen Unterschied. Und ich werde mich hüten, spezifische europäische Erfahrungen einfach auf diese Region zu übertragen. Aber ich glaube, dass das Gespräch über diese Fragen uns beiden hilft: Uns verbinden sehr ähnliche Ziele und Maßstäbe, gleichzeitig blicken wir aus sehr unterschiedlichen Orten auf die Spannungen, die Konflikte und die Chancen der Großregion Asien-Pazifik. Das sind die besten Voraussetzungen für einen fruchtbaren Austausch.

Wenn die Welt unsicherer wird, und wenn unser Land mit dieser Welt so eng verflochten ist, was bedeutet das für unsere Sicherheit, für unsere Zukunft? Die Antwort lautet: Wir müssen vor allem mit unseren Freunden und Partnern aktiver und effektiver zusammenarbeiten. Im Übrigen liegt Peking näher an Berlin als an Perth oder Sydney.

Sie haben den jetzigen US-Präsidenten Donald Trump einmal einen Hassprediger genannt. Hat sich Ihre Einschätzung seit seiner Amtsübernahme geändert?

Ich war wohl kaum der Einzige, der über den Ton und Stil des letzten US-Wahlkampfs erschrocken war. Für uns ist entscheidend, dass Donald Trump heute der demokratisch gewählte Präsident der Vereinigten Staaten ist. Die USA bleiben ein wichtiger Partner und Garant unserer Sicherheit. Wir sind historisch, politisch, wirtschaftlich und zivilgesellschaftlich aufs Engste miteinander verwoben. Wir arbeiten jeden Tag und zu fast allen Themen intensiv zusammen. Ich verfolge aber auch aufmerksam die lebhafte, bisweilen heftige Debatte in der amerikanischen Gesellschaft und in den Medien. Mich besorgt die scharfe gesellschaftliche Polarisierung – auch deshalb, weil sie ja nicht allein ein amerikanisches Phänomen ist, sondern genauso in vielen unserer europäischen Gesellschaften um sich greift. Was in den USA geschieht, wie sich das dortige demokratische System mit seinen Checks and Balances entwickelt, wohin die Debatte über Amerikas Rolle in der Welt steuert, das wird für die ganze Welt Folgen haben. Australien und Deutschland gehören aber zu den Ländern, die besonders direkt davon betroffen sein werden. Auch das wird ein wichtiges Thema meiner Gespräche in Perth und Sydney sein.

Gibt es etwas an Australien, dass Sie in Deutschland gern übernehmen würden, und gibt es andersherum etwas Deutsches, das Australien guttäte? Wenn ja, was wäre das?

Diese Frage sollten Sie mir am Ende meines Besuches noch einmal stellen. Ich bin zum ersten Mal in Australien. Der letzte Besuch eines deutschen Bundespräsidenten ist inzwischen 16 Jahre her. In der Zwischenzeit hat sich vieles verändert und ich bin hier, um mehr über Ihr Land zu erfahren, um die australische Perspektive besser zu verstehen. Ich will vor allem Erfahrungen und Einsichten aus Australien mitnehmen – über die Zukunft unserer Gesellschaften, über Ihren Umgang mit Migration und Integration, über Ihren Blick auf das aufsteigende China und die Zukunft des Westens. Ich möchte verstehen, was Australien bewegt. Und wenn ich Ihnen dafür im Gegenzug von meinen Erfahrungen berichten darf und die vielleicht für die Menschen hier wertvoll oder mindestens nützlich sind, dann hat sich diese Reise schon gelohnt. Das Wichtigste, was uns verbindet, sind nicht materielle Dinge. Es ist die Fähigkeit, voneinander zu lernen und miteinander zu wachsen. Dort, wo wir das schaffen, ist geografische Distanz plötzlich nicht mehr so wichtig.

Die Fragen stellten: Peter Hartcher (The Sydney Morning Herald) und Laura Tingle (The Australian Financial Review)