Interview mit der Zeitung Welt am Sonntag

Schwerpunktthema: Interview

19. November 2017

Der Bundespräsident hat der Welt am Sonntag ein Interview gegeben, das am 19. November erschienen ist. Darin heißt es: "Überall in Europa spielen Populisten Bürger gegen das so genannte Establishment aus. Wir haben gehofft und vielleicht geglaubt: Wir bleiben davon verschont – aufgrund unserer Geschichte, unserer guten Wirtschaftslage und aufgrund unserer nun schon 70 Jahre bewährten Demokratie. Das war ein Trugschluss. Aufgabe ist jetzt: Politik und Parteien müssen Vertrauen zurückgewinnen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Gespräch mit Peter Huth, Claudia Kade und Ulf Poschardt von der Welt am Sonntag im Amtszimmer von Schloss Bellevue

Der Bundespräsident hat der Welt am Sonntag ein Interview gegeben, das am 19. November erschienen ist.

Herr Bundespräsident, in den Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition wurden häufig Neuwahlen angedroht, die Sie als Staatsoberhaupt auf den Weg bringen müssten. Was halten Sie davon, wie CDU, CSU, FDP und Grüne mit dem Wahlergebnis umgehen?

Es besteht kein Anlass zu panischen Neuwahldebatten. Wer in den vergangenen Jahren Koalitionsverhandlungen beobachtet hat oder an ihnen beteiligt war, der weiß: Vor dem offiziellen Auftakt gibt es immer Versuche der Parteien, die Preise hochzutreiben. Das, was wir in den vergangenen Wochen erlebt haben, unterscheidet sich in manchem nicht besonders von früheren Koalitionsverhandlungen. Aber natürlich erwarte ich, dass sich alle Seiten ihrer Verantwortung bewusst sind. Und mit dieser Verantwortung umzugehen heißt auch, den Auftrag nicht an die Wähler zurückzugeben.

Falls die Jamaika-Verhandlungen scheitern sollten, sind Neuwahlen nicht zwangsläufig. Sie könnten die SPD, ihre frühere Partei, bitten, den Gang in die Opposition zu überdenken und über eine Neuauflage der großen Koalition zu sprechen.

Der Bundespräsident kann keiner der neugewählten Parteien im Bundestag konkrete Vorgaben machen. Ich kann mir aber auch nicht vorstellen, dass die verhandelnden Parteien ernsthaft das Risiko von Neuwahlen heraufbeschwören wollen.

Die Auseinandersetzungen haben den zum Teil unerträglichen Lärm der AfD in den Hintergrund treten lassen. Ist es mal ganz gut, wenn Parteien, die nicht den extremen Rändern angehören, unüberhörbar streiten?

Auch ich habe den Eindruck: Der Fokus der Öffentlichkeit liegt auf den Parteien, die über eine Koalition verhandeln. Dennoch sollten wir die Veränderungen der politischen Kultur, von denen wir in den Landtagen schon einiges miterlebt haben, nicht auf die leichte Schulter nehmen. Denn diese Veränderungen könnten von Dauer sein. Die Konstituierung des Bundestags und der Streit um den AfD-Kandidaten für den Posten des Bundestagsvizepräsidenten haben ja schon gezeigt: Der Ton wird schriller und die Auseinandersetzungen werden schärfer. Wenn jetzt von den Jamaika-Verhandlern hart um große Fragen wie Migration und Klimaschutz gerungen wird, muss das kein Nachteil für die Demokratie sein. Ich halte überhaupt nichts davon, wenn Themen, die die Öffentlichkeit bewegen, weggedrückt werden. Differenzen müssen ausgetragen werden. Klar muss nur sein: Aus der in einer Demokratie notwendigen Kontroverse dürfen weder Unversöhnlichkeit noch Feindseligkeit erwachsen.

Welche Schlüsse ziehen Sie aus den Wahlerfolgen der AfD?

Die Traditionsparteien müssen sehr sorgfältig überlegen, wie sie mit den Menschen umgehen, die sie als Wähler verloren haben. Klar sind darunter einige durch politische Debatten nicht mehr zu erreichen. Aber das sind nicht alle Wähler, die dieses Mal, aus verschiedenen Gründen, so gewählt haben. Viele von ihnen haben ganz offenbar nach Möglichkeiten gesucht, ihre Unzufriedenheit auszudrücken. Einige sagen es mir sogar persönlich genau so! Deshalb steckt in dem Wahlergebnis eben auch Protest und damit immerhin auch Erwartung an die Politik. Diese sollte das Wahlergebnis als Auftrag verstehen, die Gründe für die Unzufriedenheit zu erforschen. Das ist nicht einfach. Sicher greifen diejenigen zu kurz, die im Wahlergebnis nur auf ostdeutsche Befindlichkeiten verweisen. Dort mögen im Durchschnitt die Wahlergebnisse der AfD höher sein, aber der Ansatz erklärt noch lange nicht die überdurchschnittlich hohen Ergebnisse der AfD auch in Teilen des Ruhrgebiets und erst recht nicht in eher wohlhabenden Regionen wie Heilbronn, Augsburg und Ingolstadt. Das Wählerpotential der AfD ist eben gerade nicht homogen, dort sammeln sich zurzeit ganz unterschiedliche, sehr heterogene Wähleranteile.

Haben Sie schon erste Antworten gefunden auf die Frage nach den Beweggründen dieser Wähler?

Eine der vielen Ursachen scheint mir der manifest gewordene Stadt-Land-Unterschied zu sein. Es gibt ländliche Räume, die regelrecht ausbluten: Da gibt es keine Schule mehr, keinen Arzt, keinen Laden, keine Tankstelle, und die letzte Busverbindung, die es noch gab, wurde auch gerade gestrichen. Die Politik muss Antworten geben, warum das Leben auf dem Land Perspektive hat, sogar attraktiv ist. Ich habe selbst einige Jahre Erfahrungen gesammelt in einem Wahlkreis im Westen Brandenburgs, weit weg vom Berliner Speckgürtel. Ich habe dort ganz deutlich gespürt, dass oft Anerkennung fehlt für diejenigen, die dort geblieben sind, sich engagieren und ihre Dörfer, ihre Stadt, ihre Region als lebenswerten Ort bewahren und entwickeln.

Ein Teil des Erfolges der AfD geht doch auch auf die Migrationspolitik der Bundesregierung zurück.

Ein Teil ganz sicher! Aber wenn ich es richtig sehe, dann hat die Migrationsdebatte einen unterschwelligen Unzufriedenheitsdiskurs dynamisiert, der über die letzten Jahre aufgewachsen, aber in der Dimension möglicherweise unterschätzt worden ist.

Das heißt konkret?

Wir werden diese Phase nicht überwinden, solange die Migrationsdebatte moralisches Kampfgebiet bleibt. Wir müssen einerseits das Recht auf politisches Asyl verteidigen, wie es in Artikel 16a unseres Grundgesetzes verankert ist und natürlich unseren Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention nachkommen. Andererseits müssen wir offen darüber diskutieren, welche und wie viel Zuwanderung wir darüber hinaus wollen, vielleicht sogar brauchen. Das ist eine zulässige und notwendige Debatte, die wir führen müssen.

Im Bundestag war in der zurückliegenden Legislaturperiode die Einigkeit groß über die Flüchtlingspolitik, zugleich wurden Versuche diffamiert, mit AfD-Anhängern ins Gespräch zu kommen. Hat diese Verdrängung die Migration zum Hauptthema der AfD gemacht?

Wer über eine neue Migrationspolitik nachdenkt, muss die bisherigen Entscheidungen in der Rückschau nicht für falsch erklären. Die Aufnahme derjenigen, die vor zwei Jahren auf dem Westbalkan im Schlamm gestrandet sind und Hilfe brauchten, war richtig, und wir sollten nicht vergessen, dass sie damals auch von der Mehrheit der Deutschen für richtig gehalten wurde. Aber ein solcher Kraftakt ist eben nicht jedes Jahr zu meistern. Die Politik muss jetzt Vorschläge für eine kontrollierte und gesteuerte Zuwanderung entwickeln.

Vielen Bürgern gehen die Veränderungen im Zuge der Globalisierung viel zu schnell. Nun versuchen FDP und Grüne, sich als treibende Kräfte einer beschleunigten Erneuerung zu profilieren. Droht damit die nächste Überforderung?

Viele Menschen glauben nicht, dass alles gut ist, wenn es nur so bleibt, wie es ist. Ein Land wie Deutschland, das weltoffen sein möchte und auch aufgrund seiner Wirtschaft eng verwoben ist mit der Welt, wird immer darauf angewiesen sein, auf die internationalen Veränderungen zu reagieren. Nicht ob, sondern wie wir darauf reagieren, das ist die entscheidende Frage. Und dazu gehört die Erkenntnis, dass unsere guten Wirtschaftsdaten nur bedingt aussagekräftig sind. Wir haben seit mehr als zehn Jahren ein stabiles Wachstum, einen deutlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit, statt eines Lehrstellenmangels inzwischen einen Mangel an Auszubildenden. Das sind sehr positive Indikatoren. Und dennoch: Das Lebensgefühl der Menschen spiegelt sich nicht vollständig in diesen Statistiken wider.

Was aber passiert, wenn der Modernisierungsdruck steigt?

Er steigt ja schon, etwa beim Thema Digitalisierung. Und hier müssen wir meines Erachtens aufpassen, dass die Debatte nicht völlig schief läuft. Die einen beklagen, dass wir wegen der Technikängstlichkeit der Deutschen hinter den Konkurrenten in Fernost und Nordamerika zurückhängen. Die anderen beklagen den Veränderungsdruck auf Arbeit und Arbeitsbedingungen durch Digitalisierung und die Erosion des Datenschutzes. Die ganze Wahrheit ist doch: Wir werden uns aus der internationalen Technologieentwicklung nicht heraushalten können und müssen Anschluss halten. Wahr ist aber auch: Wer über die Zukunft der Digitalisierung redet, darf nicht nur über Technik reden. Die gewaltigen Veränderungen, die die Menschen mindestens ahnen, gehen nicht in der Forderung nach Breitband und schnellem Internet auf. Ich persönlich glaube nicht, dass die Deutschen technologieängstlich sind, sonst wären wir nicht da wo wir sind. Aber sie spüren, dass es offene Fragen gibt, über die wir nicht mit derselben Ernsthaftigkeit reden.

Welche?

Viele! Wenn richtig ist, dass die Wirkungen der Digitalisierung ein größeres Veränderungspotential haben werden als die Industrielle Revolution im 19. Jahrhundert, dann wird es kaum Lebensbereiche geben, die davon nicht erfasst werden. Dass die Arbeitsgesellschaft sich verändert, liegt auf der Hand und ist schon jetzt spürbar. Weil Sozialbeiträge an Löhne gekoppelt sind, stellen sich beim Absinken von Regelarbeitsverhältnissen und geringerer Lohnquote auch Fragen nach der Zukunft der sozialen Sicherungssysteme ganz neu. Mit diesen Fragen müssen wir uns auseinandersetzen. Aber ich möchte nicht, dass die Wirtschaft nur in der Kategorie der technischen Potentiale denkt und Staat und Politik die Rolle der Sanierungsagentur übernehmen sollen. Die Zukunft der Arbeit in der digitalisierten Gesellschaft muss von Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik dringend gemeinsam in Angriff genommen werden.

Wir haben jetzt viel über AfD-Wähler und ihre Verunsicherung gesprochen. Uns schreiben auch Leser, die kritisieren, dass Politik und Medien darüber diejenigen vergessen, die sich nicht laut beschweren oder den Staat verteufeln, sondern versuchen, ihr Leben still zu meistern.

Ja, diese Menschen sollten im Fokus der Politik stehen. Aber eigentlich geht es doch um etwas anderes: Überall in Europa spielen Populisten Bürger gegen das so genannte Establishment aus. Wir haben gehofft und vielleicht geglaubt: Wir bleiben davon verschont – aufgrund unserer Geschichte, unserer guten Wirtschaftslage und aufgrund unserer nun schon 70 Jahre bewährten Demokratie. Das war ein Trugschluss. Aufgabe ist jetzt: Politik und Parteien müssen Vertrauen zurückgewinnen. Wenn wir uns in Europa und darüber hinaus umsehen, stellen wir fest, dass wir bei rechtspopulistischen Parteien nicht immer einen erkennbaren Willen zu politischen Lösungen finden. Vieles erschöpft sich in der Dauerempörung gegen das Bestehende, meist in aggressivem Ton vorgetragen. Aber in der Demokratie liegen die Antworten eben nicht immer schon auf der Hand. Um Lösungen muss gerungen werden. Und die Gründe für die getroffene Entscheidung müssen einleuchten. Das setzt aber voraus, dass wir – auch jenseits von sozialen Medien und Talkshows – mit den Menschen wieder direkt ins Gespräch kommen. Auch mit denen, die sonst nicht so laut auf sich aufmerksam machen. Ich selbst versuche das bei meiner Deutschlandreise in die Bundesländer, deren Besuche ich auf jeweils zwei Tage ausgeweitet habe. Ich höre zu und versuche, Irrtümern zu begegnen. Das zu tun und Menschen zu ermutigen, auch darin sehe ich meine Aufgabe.

Erzählen die ihnen denn wirklich, was los ist? Wie offen kann ein Gespräch mit dem Staatsoberhaupt sein?

Häufig offener, als ich es früher erwartet habe. Allerdings: Es hängt auch davon ab, in welchem Format wir uns begegnen. Bei laufenden Kameras und offenen Mikrofonen bleiben die Leute häufig in ihrer Rolle. Wer da vorher öffentlich geschimpft hat, nützt die Bühne des Fernsehens erst recht, wenn der Bundespräsident da ist. In kleineren Formaten und ohne Öffentlichkeit finden durchaus offenere Gespräche statt. Wenn man sich am Tisch gegenüber sitzt, von Angesicht zu Angesicht, wird der Ton anders, die Atmosphäre ruhiger, gelingt häufig ein Gespräch auch dann, wenn die Positionen kontrovers sind. Das habe ich immer wieder erlebt: in Berlin-Kreuzberg genauso wie in Sachsen. Und nächste Woche – im Rahmen meines Antrittsbesuchs in NRW – werde ich auch dort die schwierigen Ecken des Landes nicht auslassen und in Duisburg-Marxloh sicher erneut auf sehr unterschiedliche Auffassungen stoßen.

Was fangen Sie mit den Erkenntnissen an?

Ich möchte vor allem signalisieren: Wir schauen nicht weg, wir nehmen euch ernst. Wobei ernst nehmen nicht heißt: alles hinzunehmen oder zu billigen. Es gehört auch dazu, die Spielregeln für den Diskurs einzufordern und deshalb klar zu sagen, dass Antisemitismus und Fremdenhass nicht hingenommen werden können, weil sonst das Zusammenleben in der Demokratie zerstört wird. Aber daneben lerne ich, dass das Bedürfnis nach Übersichtlichkeit groß ist. Auf die Menschen stürmt so Vieles ein: Globalisierung, Digitalisierung, Nachrichten vom Krieg in Syrien, von Flüchtlingsbooten auf dem Mittelmeer, vom Konflikt in der Ukraine. Da entwickelt sich das Bedürfnis nach einem Raum, in dem man sich auskennt und die Dinge noch selbst beurteilen kann. Es geht um Überschaubarkeit, Gestaltbarkeit und Orientierung. Es geht darum, gemeinsam eine Heimat zu schaffen, in der sich möglichst viele zuhause fühlen. Das ist höchst anspruchsvoll in Zeiten großer Veränderungen. Und es verlangt viel Erklärung von der Politik. Aber wo die Fragen wie beim Klima oder den Finanzmärkten immer komplexer werden, können die Antworten nicht einfacher werden.

Apropos komplex: Haben der holprig verlaufende Brexit und das dilettantisch aufgeführte Drama um Katalonien das Potenzial, dem EU-Gedanken wieder Auftrieb zu geben? Oder ist das zu optimistisch gedacht?

Ich glaube tatsächlich, dass die Entwicklungen in Großbritannien und Spanien den Menschen den Wert der europäischen Integration noch einmal vor Augen geführt haben. Es ist zwar keine Hurra-Euphorie zu hören, aber es gibt ein klares Bewusstsein dafür, dass diese EU nicht grundsätzlich infrage gestellt werden darf.

Die Signale aus der Bundesregierung auf die Vorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron für eine EU-Reform waren kühl. Solange die Koalitionsgespräche in Berlin laufen, passiert ohnehin nichts. Wie stehen Sie zu seinen Ideen?

Dafür, dass in Zeiten der Regierungsbildung keine grundsätzlichen europapolitischen Entscheidungen getroffen werden, habe ich Verständnis. Wir können in Deutschland aber froh sein, dass mit Macron ein Mann französischer Präsident geworden ist, der sich in seinem Wahlkampf bewusst gegen eine starke öffentliche Meinung proeuropäisch und prodeutsch positioniert hat. Wer Macron kennt, konnte nicht überrascht sein, dass er in seiner Rede vom 26. September an der Sorbonne auch eine Erwartung an Berlin formuliert hat. Ich bin mir sicher, dass dieser Schwung von der Sorbonne-Rede auch von der künftigen Bundesregierung aufgenommen wird. Ich bin jedenfalls sehr froh, dass ein wieder erstarktes und selbstbewusstes Frankreich die enge Zusammenarbeit mit Deutschland sucht.

Wer über Europa spricht, muss auch über die Türkei sprechen. Wie bewerten Sie die Freilassung des Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner aus der Untersuchungshaft? Und was heißt das für die verbliebenen Deutschen in türkischer Haft – wie unseren Kollegen Deniz Yücel?

Die Tatsache, dass Deniz Yücel seit fast 300 Tagen ohne Anklage in Haft sitzt, ist ein Skandal. Dass so viele andere Journalisten im Gefängnis sind, deren Namen nicht täglich in den Medien aufscheinen, auch. Gleichzeitig sehe ich, dass es im Fall von Peter Steudtner eine Entscheidung von türkischer Seite gab, die zur Freilassung geführt hat. Dafür bin ich allen dankbar, die sich darum bemüht haben. Die Bemühungen für die anderen Inhaftierten müssen aber fortgesetzt werden. Und ich hoffe, dass es nach den Wochen und Monaten der Eskalation im deutsch-türkischen Verhältnis eine Chance gibt, eine Trendwende herbeizuführen, um so auch anderen in Haft helfen zu können.

Außenpolitische Fragen bewegen Sie wie früher als Minister, gleichzeitig sieht es so aus, als fremdelten Sie noch mit Ihrer Präsidenten-Rolle, vielen erscheinen Sie als Staatsoberhaupt noch zu wenig konturiert. Was sagen Sie denen?

Meiner Wahrnehmung nach empfand das die Mehrheit der Deutschen schon vor dem 3. Oktober nicht so. Und seit meiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit hat sich auch erkennbar die Bewertung bei den bis dahin kritischen Beobachtern gewandelt. Im Übrigen: Sie sollten einfach ernst nehmen, was ich bereits vor meiner Wahl gesagt habe: Die Zukunft der Demokratie ist das zentrale Thema in diesen Zeiten. Es ist mein Thema als Bundespräsident, und daran halte ich fest – unabhängig davon, ob Sie das genauso sehen. Unter die Frage der Zukunft der Demokratie fallen dann Themen wie die Herausforderung der Demokratie durch die Digitalisierung, sowie die Zukunft der Arbeitsgesellschaft, die Verhinderung weiterer Polarisierung in der Gesellschaft, die Einbeziehung der Jugend in diese Debatten und vieles andere. Das westliche freiheitliche Demokratiemodell steht vor so großen Herausforderungen, dass sich ein Bundespräsident darum kümmern muss. Vertrauen Sie mir, dass mein Blick auf die Dinge nicht allein von der Tagespolitik bestimmt wird, sondern darüber hinausgeht.

In dieser Debatte spielen Intellektuelle derzeit kaum eine konstruktive Rolle. Sie selbst pflegen seit Jahren einen selbstverständlichen Umgang mit Intellektuellen. Können Sie sich diese Nachlässigkeit erklären?

In einer immer unübersichtlicher werdenden Welt wächst die Sehnsucht nach Eindeutigkeit – auch unter Künstlern und Intellektuellen. Zwischentöne haben es in öffentlichen Debatten immer schwerer. Dabei besteht Demokratie ja gerade aus dem Differenzieren, aus dem Abwägen des Für und Wider, mit oftmals einer nur knappen Entscheidung für das eine oder das andere. In diesen politischen Debatten vermisse ich durchaus differenzierte Wortmeldungen von Intellektuellen. Dass sich jemand mal geduldig auseinandersetzt mit den Rahmenbedingungen politischer Entscheidungen oder der Notwendigkeit demokratischer Verfahren, ist leider rar geworden.

Die Fragen stellten: Peter Huth, Claudia Kade und Ulf Poschardt