Interview mit dem Nachrichtenmagazin Focus

Schwerpunktthema: Interview

13. Januar 2018

Der Bundespräsident hat dem Nachrichtenmagazin Focus ein Interview gegeben, das am 13. Januar erschienen ist: "Gerade die Volksparteien stehen heute – in einer sich fragmentierenden Gesellschaft, die vollkommen anders kommuniziert als noch vor zehn Jahren, und bei schrumpfender Milieubindung – vor ganz anderen Herausforderungen. [...] Dennoch: Wir sollten uns immer an die besondere Integrationskraft erinnern, die die Volksparteien in mittlerweile 70 Jahren bundesdeutscher Geschichte entfaltet haben."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Gespräch mit Daniel Goffart, Robert Schneider und Jörg Harlan Rohleder vom Focus Magazin im Amtszimmer von Schloss Bellevue

Der Bundespräsident hat dem Nachrichtenmagazin Focus ein Interview gegeben, das am 13. Januar erschienen ist.

Herr Bundespräsident, wissen Sie noch, wo Sie waren, als vor 25 Jahren der erste Focus erschien?

Na klar, ich hatte einige Zeit davor gerade in der niedersächsischen Staatskanzlei angeheuert, als Hilfsreferent – so hieß das damals – für Presse- und Rundfunkrecht, später auch im Verfassungsreferat. Genau vor 25 Jahren, 1993, wurde ich dann Büroleiter des damaligen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder.

Wir haben mal geschaut, was im Januar 1993 privat bei Ihnen los war: Sie waren promoviert, hatten Ihre Frau bereits kennengelernt, verheiratet waren Sie allerdings noch nicht...

Meine Frau und ich haben uns schon Ende der achtziger Jahre an der Uni kennengelernt, sind 1993 gemeinsam nach Hannover gegangen. Geheiratet haben wir dann 1995.

Sie hatten gerade bei Gerhard Schröder angeheuert und saßen unter der Dachschräge der Staatskanzlei in Hannover – waren Sie damals glücklicher als heute?

Ja, ein wunderbares Kleinstbüro – im Winter kalt, im Sommer heiß. Das waren gute Jahre in Niedersachsen. Ich habe das Land und die Menschen im Norden kennen- und lieben gelernt. Und es waren wichtige Lehrjahre für alles, was danach kommen sollte. Für mich war es vor allem eine Riesenchance, entstanden übrigens aus den Folgen der Wiedervereinigung.

Warum?

Als die Mauer fiel, schrieb ich gerade die letzten Kapitel meiner Doktorarbeit und bin ständig zwischen Schreibtisch und Fernseher hin und hergerannt...

Haben die aufgeregten Zeiten nach der Wiedervereinigung in Ihnen den Wunsch geweckt, in die Politik zu gehen?

Jedenfalls habe ich mit Blick auf diese aufregenden politischen Umwälzungen kurzerhand meinen ursprünglichen Plan, in der Wissenschaft zu bleiben, auf Eis gelegt. Stattdessen hatte ich als junger Medienreferent plötzlich die besondere Chance, an dem Projekt eines über die vormals innerdeutschen Grenzen hinausgreifenden öffentlich-rechtlichen Rundfunks mitzuarbeiten. Das waren schwierige und langwierige Verhandlungen, die dann aber erfolgreich waren. Und tatsächlich ist der NDR der einzige öffentlich-rechtliche Sender geblieben, der von westlichen und östlichen Bundesländern getragen wird.

Sie folgten Schröder nach Bonn und stiegen unter ihm bis zum Chef des Bundeskanzleramtes auf. Schröder sagte mal über Sie: Wenn ich morgen mit dem Hubschrauber abstürze, kann Frank den Job übernehmen.

Ich vermute, das hat er nicht ganz ernst gemeint. Ich selbst habe mich jedenfalls nicht in dieser Rolle gesehen, aber klar: Für mich war es ein schönes Kompliment. Das Kuriose an unserer Geschichte ist, dass Gerhard Schröder und ich keine zehn Kilometer voneinander entfernt in Ostwestfalen aufgewachsen sind. Wir haben beide Fußball gespielt, kannten uns aber wegen des Altersunterschieds aus unserer lippischen Heimat nicht. Wir sind uns tatsächlich zum ersten Mal 1991 in der Staatskanzlei in Hannover begegnet, als ich mich für den Job vorstellte.

Gerhard Schröder erzählte einmal, er habe Sie genommen, weil Sie nicht wie die anderen Bewerber zaghaft an die Tür geklopft und in gebückter Haltung den Raum betreten hätten.

Das ist nur ein Teil der Geschichte, der andere geht so: Ich kam ja direkt von der Uni und hatte mir extra für das Vorstellungsgespräch einen auberginefarbenen Anzug gekauft. Dazu trug ich eine grasgrüne Brille. Furchtbar, wenn ich mir die alten Fotos anschaue, aber damals fand ich das richtig chic... Als Schröder mich sah, meinte er nur Oh, das ist also Herr Steinmeier, erikafarben, der passt zu uns.

Stehen Sie heute noch in Kontakt?

Ja, klar.

Regelmäßig?

Alle paar Monate.

Fragen Sie ihn manchmal um Rat?

Natürlich sprechen wir auch über Politik, ohne dass er seinen Rat aufdrängt.

Von Helmut Kohl bleibt, dass er die deutsche Einheit und den Euro durchgesetzt hat. Was bleibt in der Rückschau aus der rot-grünen Zeit?

Kohl hat damals nicht auf die Zweifler und die Ängstlichen gehört, sondern intuitiv richtig und realpolitisch versiert erkannt, dass das Fenster der Geschichte gerade einen Spalt weit aufgegangen war. Und er hat das Risiko gesehen, es könne sich wieder schließen, bevor Entscheidungen über die Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands getroffen sind. Allein seine Entschlossenheit in diesem Moment reicht aus, um Kohl als einen Glücksfall der Geschichte zu bezeichnen.

Die Frage war eigentlich, was von Rot-Grün bleibt.

Ja, aber man muss die Zusammenhänge sehen. Die Geschichte lehrt, dass jede Regierung – ganz jenseits von parteipolitischen Prioritäten – sich zunächst Problemen stellen muss, die sie bei der Regierungsübernahme vorfindet. In Deutschland gab es bei Schröders Amtsantritt 1998 vier Millionen Arbeitslose, zum Teil als Folge der Wiedervereinigung und schmerzhafter Anpassungsprozesse in der ostdeutschen Wirtschaft. Die Einheit bescherte uns zunächst eine Sonderkonjunktur, die aber nicht zu mehr Arbeitsplätzen geführt, sondern eher den großen Nachholbedarf bei der Modernisierung der deutschen Volkswirtschaft überdeckt hat. Als dann im März 2000 auch noch die Blase an den neuen Märkten platzte, kam es zu einer wirtschaftlichen Krise, in deren Verlauf unser Land zum „kranken Mann Europas“ deklariert wurde und ganze Bibliotheken über den Niedergang Deutschlands geschrieben worden sind. Was bleibt, ist dieser Depression getrotzt zu haben – durch eine wirtschaftliche Modernisierung und den Abbau der Arbeitslosigkeit. Das hat Deutschland wieder zur stärksten Volkswirtschaft in Europa gemacht. Was zudem bleibt, ist ein zwischen Politik und Wirtschaft ausgehandelter Energiekonsens, die gesellschaftliche Öffnung bei der Staatsbürgerschaft und wichtige erste Schritte bei der rechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften.

Sie gelten als einer der Architekten der Agenda 2010, jenes Reformpakets, das von Frau Merkel gelobt und von den Linken gehasst wird. Schmerzt es Sie, wenn Worte wie Agenda-Politik oder Hartz IV noch immer als politische Kampfbegriffe gebraucht werden?

Jedes Zerrbild und jedes absichtsvolle Missverständnis ist bitter. Aber vielen fällt es eben heute noch schwer sich vorzustellen, was ohne Reformen in einem Land passiert wäre, in dem jedes Jahr bis zu 300.000 neue Arbeitslose dazukamen. Es ist ja leider nicht zu bestreiten, dass in der Phase der Globalisierung der Wirtschaft die Schere zwischen Arm und Reich weiter aufgegangen ist, aber wahr ist eben auch: in den Ländern ohne Reformen weiter als in den Ländern mit Reformen, wie den Niederlanden oder Deutschland.

Hat sich Frau Merkel jemals für die Agenda 2010 bedankt?

Das muss sie nicht und erst recht nicht bei mir.

Was würden Sie heute anders machen?

Mit Blick auf die soziale Balance wäre es sicherlich besser gewesen, den Mindestlohn als ein Element in das Reformprogramm aufzunehmen.

In der SPD glauben noch heute viele Mitglieder, dass die Auszehrung der Sozialdemokratie mit der Agenda-Politik begann. Teilen Sie diese Einschätzung?

Ich glaube, wir greifen zu kurz, wenn wir nur über die Situation der SPD oder der europäischen Sozialdemokratie reden. Wenn wir über die Grenzen unseres Landes hinausschauen sehen wir doch, dass es fast überall in Europa Veränderungen in den politischen Strukturen und im traditionellen Parteiengefüge gab.

Wie in Deutschland leiden überall in Europa gerade die Volksparteien. Gleichzeitig legen die Populisten zu. Haben die demokratischen Parteien ihre Fähigkeit zu Konsens und Kompromiss verloren?

Das Wort Konsensdemokratie ist ja heute zu einem Kampfbegriff geworden. Dabei ist es schlecht um eine Demokratie bestellt, wenn die Parteien Angst davor haben, Kompromisse zu schließen. Gerade die Volksparteien stehen heute – in einer sich fragmentierenden Gesellschaft, die vollkommen anders kommuniziert als noch vor zehn Jahren, und bei schrumpfender Milieubindung – vor ganz anderen Herausforderungen. Und es gibt sicher auch manches Versäumnis zu beklagen. Dennoch: Wir sollten uns immer an die besondere Integrationskraft erinnern, die die Volksparteien in mittlerweile 70 Jahren bundesdeutscher Geschichte entfaltet haben. Es gibt – auch in manchen Medien – die Neigung, Dinge sehr schnell über Bord zu werfen, auch das, was gut ist und uns auszeichnet. Und das ohne eine wirkliche Idee davon zu haben, womit wir denn kompromissbereite und zur Zusammenarbeit fähige Parteien ersetzen sollten.

Sie mussten die Parteiführer nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen ja förmlich zu Gesprächen zwingen...

... wie es meine in der Verfassung beschriebene Rolle vorsieht, haben wir intensive Gespräche geführt und zwar an diesem Tisch, an dem wir jetzt auch sitzen.

Glauben Sie, dass eine Regierungsbildung zwischen Union und SPD gelingt? Die GroKo-Sondierungen laufen seit dieser Woche.

Zunächst einmal: Ich halte es für entscheidend, dass jetzt zügig und zielorientiert verhandelt wird. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten vier Monate nach der Bundestagswahl zu Recht Ergebnisse. Als Bundespräsident ist es aber gerade nicht meine Aufgabe, Parteien zusammen zu zwingen, sondern auf die Verfassungslage hinzuweisen. Artikel 63 des Grundgesetzes regelt das Verfahren zur Wahl und Ernennung des Bundeskanzlers. Und erkennbar wird dort auch die Verfassungsarchitektur, wonach Minderheitsregierung und Neuwahlen die Ausnahme und nicht die Regel sind. 70 Jahre lang mussten wir uns nicht mit dieser Frage beschäftigen. Koalitionen kamen nach jeder Bundestagswahl recht zügig zustande. Dass das jetzt zum ersten Mal anders ist, überrascht viele und verunsichert auch.

Die Regierungsbildung schien selten so kompliziert. Oder stellen sich die Parteiführer an?

Wir stehen vor der neuen Situation, dass die Parteien, die aufgrund der Mehrheitsverhältnisse und politisch-inhaltlicher Überschneidungen koalieren könnten, erst einmal nicht zusammengefunden haben. Das ist ungewöhnlich, aber keine Katastrophe, da die Verfassungsmütter und -väter diesen Fall vorgedacht haben. Aber wir müssen uns in dieser Situation ganz klar an der Stabilitätsvorstellung des Grundgesetzes orientieren. Anders als die Weimarer Verfassung hat das Grundgesetz die Auflösung des Parlaments und den Weg zu Neuwahlen absichtsvoll erschwert.

Das bedeutet?

Eine Minderheitsregierung oder Neuwahlen sind die ultima ratio. Unser Grundgesetz sieht eben vor, dass sie erst dann in Betracht kommen, wenn alle anderen Möglichkeiten der Regierungsbildung ausgeschöpft sind. Der Bundespräsident hat die Aufgabe, auf die Verfassungslage hinzuweisen, und, falls nötig, auch Brücken zu bauen. Ob sich jedoch die Partner auf dieser Brücke treffen wollen, ist nicht Sache des Bundespräsidenten, sondern der Parteien.

Sie sehen Neuwahlen skeptisch. Wenn aber die SPD-Mitglieder in der parteiinternen Befragung eine große Koalition ablehnen und die Kanzlerin partout ablehnt, eine Minderheitsregierung zu führen, bleiben doch nur Neuwahlen.

Beide Parteien hatten sich nach der Wahl auf etwas anderes eingestellt: CDU/CSU auf ein Bündnis mit FDP und Grünen; die SPD auf die Opposition. Erst das Scheitern von Jamaika hat die Situation verändert. Das erklärt auch das Unwohlsein auf beiden Seiten. Gleichzeitig gibt es nach meiner Wahrnehmung in den Parteien das Wissen um die eigene Verantwortung und inzwischen ein sehr ernsthaftes Bemühen auf beiden Seiten. Das ist für den Augenblick entscheidend.

Wie stehen Sie zu einer Minderheitsregierung?

Sie ist verfassungsrechtlich nicht ausgeschlossen. Ob sie in der gegenwärtigen Lage Europas der geeignete Beitrag zur Überwindung der europäischen Krise ist, wird zu Recht kritisch diskutiert. Am Ende sollten wir nicht vergessen, dass keiner gezwungen werden kann – auch nicht vom Bundespräsidenten –, eine Minderheitsregierung zu führen.

Wenn man sich den Erfolg der AfD bei der Bundestagswahl anschaut, muss man sich der Frage stellen, ob die Politik die Flüchtlingskrise und die Flüchtlingsfurcht der Wähler als eine Folge davon unterschätzt hat?

Wie hätten die Deutschen denn reagiert, wenn die damalige Bundesregierung die Flüchtlinge aus Syrien, die den größten Teil der Flucht schon hinter sich hatten, in Ungarn vor der österreichischen Grenze im Dreck und Schlamm und ohne Versorgung für Monate hätte dahinvegetieren lassen? Mache sich doch niemand vor, das sei eine wirklich reale Alternative gewesen. Die Aufnahme eines Teils dieser Flüchtlinge, die über die sogenannte Balkanroute kamen, war vor allem eine humanitäre Entscheidung. Insofern rate ich, sich die Alternativen zu dieser humanitären Maßnahme vor Augen zu führen und zu fragen: Wäre unser Land wirklich mit sich im Reinen gewesen, wenn die Grenzen geschlossen und die Menschen sich selbst und den ungarischen Behörden überlassen worden wären? Ich glaube nicht. Im Übrigen sollten wir nicht vergessen, dass die anschließenden Bemühungen, die Flüchtlingsmigration aus dem Osten nach Europa zu begrenzen – etwa durch das Abkommen zwischen der EU und der Türkei – nicht weniger heftig kritisiert worden sind. Es gibt keine einfache Lösung. Aber gerade um tragfähige Lösungen für schwierige Aufgaben zu finden, brauchen wir eine handlungsfähige Regierung.

Herr Bundespräsident, wir würden dieses Gespräch auch gerne nutzen, 25 Jahre vorauszuschauen. Natürlich ist all das so subjektiv wie spekulativ.

Wir begeben uns ins Jahr 2043?

Richtig.

Dann mal los.

Wird Deutschland 2043 ein Einwanderungsgesetz haben?

Ich denke: ja. Und zwar weniger wegen der aktuellen Flüchtlingssituation, sondern weil wir zum Beispiel ohne Zuwanderung und steigende Erwerbsquoten schon bis zum Jahr 2030 sechs Millionen weniger Erwerbstätige als heute haben werden.

Wird der Islam 2043 noch zu Deutschland gehören?

Die christlich-jüdische Tradition ist prägend für unsere Gesellschaft. Aber Deutschland ist und bleibt ein kulturell vielfältiges Land. Und selbstverständlich wird ein relevanter Teil der deutschen Bevölkerung in 25 Jahren muslimischen Glaubens sein.

Wird an Grundschulen 2043 Mandarin unterrichtet?

Ich denke nicht.

Werden wir noch Fleisch essen?

Hoffentlich. (lacht)

Wird die Mittelschicht größer oder kleiner?

Wenn man sich in der Welt umschaut, sind wir eines der wenigen Länder, das entgegen manchen Befürchtungen nach wie vor über eine stabile Mittelschicht verfügt, und die Politik wird darauf angewiesen sein, eine mögliche Erosion der Mittelschicht zu verhindern.

Wird den Bürgern ein Grundeinkommen ausgezahlt?

Ich hoffe, dass wir es schaffen, unsere Gesellschaft als Arbeitsgesellschaft zu erhalten, in der die Menschen ihr Einkommen aus eigener Arbeit erwirtschaften.

Werden Roboter 2043 Steuern zahlen?

Die digitale Revolution ist keine Frage, die man bejaht oder verneint, sie findet statt. Und sie ist noch wirkmächtiger als die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts – vor allem ist sie sehr viel schneller. Ihre Geschwindigkeit ist atemraubend. Es darf daher nicht dazu kommen, dass es eine Arbeitsteilung gibt zwischen denen, die nur die Vorteile der Digitalisierung abschöpfen, und denen, die dafür bezahlen. Das wird den Zusammenhalt der Gesellschaft zerstören. Und deshalb dürfen wir es nicht hinnehmen.

Deshalb die Frage nach der Robotersteuer.

Das Ende der Arbeit ist uns schon öfter vorhergesagt worden, eingetreten ist es bisher nicht. Aber wir müssen wissen: Die politische Stabilität unseres Landes hängt auch von der Funktionsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme ab. Und die ist gewährleistet, solange Anteile vom Arbeitseinkommen für ihre Finanzierung zur Verfügung stehen. Die Wirtschaft trägt hier eine besondere Verantwortung. Es liegt in ihrem Interesse, mit der Politik einen neuen Sozialvertrag zu entwickeln – mit dem Ziel, die sozialen Sicherungssysteme unter veränderten Bedingungen zu erhalten. Darin liegt die große Herausforderung. Und die Debatte darüber kann nicht irgendwann, sie muss jetzt stattfinden.

… auch eine historisch einmalige Herausforderung und Chance für einen Bundespräsidenten.

Natürlich werde ich helfen, die Debatte in Gang zu bringen und die richtigen Fragen zu stellen: Kompensieren wir niedrigere Einnahmen aus Sozialabgaben über Steuern? Wer zahlt die Steuern? Brauchen wir neue Steuerkonzepte? Eine Maschinensteuer wird selbst in der Wirtschaft schon als Ausweg diskutiert. Passt das noch ins digitale Zeitalter, in dem vielleicht der Rechner noch einen Standort hat, Server aber weltweit genutzt werden? Setzt man überhaupt noch an der Hardware an oder nimmt man die Software in den Fokus? Nach meiner Überzeugung brauchen wir diese Debatte. Ignorieren oder verdrängen hilft nicht.

Folgt auf die mediale, kulturelle und wirtschaftliche Disruption jetzt die politische Disruption?

Das Digitale macht vor Politik und Demokratie nicht Halt. Aber das Gute an der Demokratie ist ja: Sie schafft den Raum für Neuerungen und ihre Gestaltung.

Kann die Digitalisierung am Ende also auch demokratiegefährdend sein?

Es gibt Veränderungen, die noch keine direkte Gefährdung der Demokratie darstellen, die aber zeigen, wo die Herausforderungen liegen. Dazu gehört die Frage der sogenannten Echoräume im Internet, aber zum Beispiel auch, wer über die Löschung illegaler Inhalte in den sozialen Medien entscheidet.

Das empfinden viele als Zensur...

Mit dem Begriff sollte man sehr sparsam umgehen. Für die Löschung und Sperrung gibt es rechtlich geregelte Verfahren, auch wenn die Sperrung strafrechtlich relevanter Inhalte erst einmal eine klassische Staatsaufgabe ist. Nur funktioniert das oft nicht mehr, weil aus Verfahrensgründen bei den Strafverfolgungsbehörden Sperrungen erst nach Wochen oder Monaten durchgeführt werden können. Das führt dazu, dass in den sozialen Medien auch strafbare Inhalte sekündlich, stündlich, täglich immer weiter verbreitet werden.

Das bedeute aber doch, dass Anbieter wie Facebook mehr Verantwortung übernehmen müssen.

Ich glaube, wir befinden uns in einer Übergangsphase. Der Rechtsstaat bewegt sich tastend vorwärts, um die Menschen vor Angriffen aus dem Internet zu schützen. Noch sammeln wir Erfahrungen mit gerade erst in Kraft getretenen Neuregelungen, die den Internetanbietern stärkere Verantwortung auferlegen. Aber die Grenzen der Übertragung von Verantwortung wird ja auch sichtbar: Gerade dort, wo wirtschaftliche Konzentration und gesellschaftliche Vermachtung in der digitalen Welt voran schreiten, kann und darf staatliches Handeln auch nicht gänzlich durch Private ersetzt werden.

Herr Bundespräsident, dürfen wir Ihnen zum Abschluss ein paar privatere Fragen stellen?

Kommt darauf an, versuchen Sie Ihr Glück.

Wie viele E-Mails bekommen Sie pro Tag?

Ohne Unterstützung würde ich wahrscheinlich darin ertrinken, aber wir haben das ganz gut gemanagt.

Ach ja?

Die dienstlichen E-Mails erreichen mein Vorzimmer und werden dort sortiert. Aber seien Sie sich sicher, alles Wichtige, und nicht nur Freundliches, kommt bei mir an. Da fällt nichts unter den Tisch.

Wie viele Telefone tragen Sie bei sich?

Zwei.

Haben Sie die Weihnachtsgeschenke im vergangenen Jahr online oder im Laden besorgt?

Online geschaut, im Laden besorgt.

Sie sind streng protestantisch im Lipperland aufgewachsen und leben zumindest von außen betrachtet durchaus demütig und ernsthaft. Dürfen wir fragen, ob Sie regelmäßig beten?

Ich bin bekennender Christ und habe mich nie bemüht, das zu verbergen. Dazu gehören mein jahrelanges öffentliches Engagement beim Deutschen Evangelischen Kirchentag und auch die private und sehr persönliche Pflege meines Glaubens.

Besitzen Sie als Schlossherr von Bellevue eigentlich einen Schlüssel?

Nee.

Kennen Sie das WiFi-Passwort von Bellevue?

Nein.

Was ist Ihr Lieblingsgericht aus der Schlossküche?

Die Ochsenbäckchen sind ausgezeichnet, die Currywurst aber auch.

Darf der Bundespräsident eigentlich mal abhauen und unangemeldet zu McDonald´s?

Das könnte ich! Dann bekomme ich aber Ärger mit meinen freundlichen Personenschützern. Und das versuche ich zu vermeiden.

Was ist Ihr Rezept gegen den Jetlag?

Als Außenminister war mein Rezept simpel: Immer wieder los, bevor der Jetlag einen einholt. (lacht) Das ist heute anders.

Welcher Job ist denn anstrengender?

Körperlich war es der Außenminister.

Wie halten Sie sich fit?

Auf dem Laufband.

Sie erwähnten gerade die unzähligen Nächte in den Hotels dieser Welt. Haben Sie eine Empfehlung?

Besser nicht. Ich schlafe eh am liebsten im eigenen Bett.

Schalten Sie Ihr Handy nachts aus?

Nein.

Welche Telefonnummern kennen Sie auswendig? Die der Kanzlerin?

Praktischerweise muss ich die Nummer nicht kennen, weil sie eingespeichert ist.

Unter M wie Merkel, K wie Kanzlerin oder A wie Angela?

M wie Merkel.

Was würde der 16-jährige Tischlersohn aus Ostwestfalen-Lippe über den Mann sagen, der heute hier sitzt?

Das kann doch nicht…

Bowie oder Beatles?

Bowie.

Welcher Bowie-Song beschreibt das erste Jahr des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier besser: Heroes oder Under Pressure?

Weder noch, sondern: Everyone Says ‚Hi‘, ein späterer Bowie-Song.

Die meisten Menschen im Land waren beeindruckt davon, als Sie 2010 erklärten, Ihrer Frau eine Niere spenden zu wollen.

Ja, das war ein sehr wichtiger Schritt – für uns beide. Und es geht jetzt schon siebeneinhalb Jahre sehr gut!

Macht man über so etwas abends denn mal einen Witz? Nach dem Motto: Trink nicht so viel, das ist schließlich meine Niere.

Humor ist nie falsch, auch wenn der Alkohol eher die Leber fordert (lacht).

FOCUS feiert am 18. Januar das Jubiläum und Sie sind herzlich eingeladen. Dürfen wir damit rechnen, mit Ihnen anzustoßen – oder werden Sie auch in diesem Jahr zwischen Ihrem Geburtstag und Ostern abstinent bleiben?

Anstoßen können wir ja mit fast allem, wenn ich Zeit habe zu kommen. Generell sollte man als Einladender jedoch immer damit rechnen, aus dem Präsidialamt einen freundlichen Hinweis zu erhalten, dass der Bundespräsident eher selten zu Jubiläen unter 50 Jahren erscheint.

Also melden wir uns in 25 Jahren wieder.

Ich verspreche wohlwollende Prüfung.

Die Fragen stellten: Daniel Goffart, Jörg Harlan Rohleder und Robert Schneider