Interview mit dem Schweizer Radio und Fernsehen (SRF)

Schwerpunktthema: Interview

24. April 2018

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dem Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) anlässlich seines Staatsbesuchs in der Schweiz ein Interview gegeben. Das Interview wurde am 24. April ausgestrahlt. Darin heißt es: "Von der Schweiz würde ich mir nur wünschen, dass man die Europäische Union nicht als Feindesland ansieht, sondern ich bin mir sicher: Würde es zu einem solchen Rahmenabkommen kommen, es wäre ein Gewinn für beide und deshalb wünsche ich mir Fortschritte."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beim Interview mit den Redakteuren Peter Voegeli und Adrian Arnold des Schweizer Radio und Fernsehens (SRF) im Amtszimmer von Schloss Bellevue

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dem Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) anlässlich des Staatsbesuchs in der Schweizerischen Eidgenossenschaft ein Interview gegeben. Das Interview wurde am 24. April ausgestrahlt.

Herr Bundespräsident, das deutsche Staatsoberhaupt gehört zu den wenigen Staatsoberhäuptern wichtiger Länder, die regelmäßig in die Schweiz kommen. Mit welcher Botschaft kommen Sie in die Schweiz?

Wenn Sie nach der Botschaft fragen, dann kann ich Ihnen versichern: Es wird weder eine Lektion noch eine Empfehlung sein, sondern – das habe ich in vielen Jahren als Außenminister gelernt – dass man tunlichst als Lernender kommen sollte. Und das sage ich auch als jemand, der die Schweiz, glaube ich, relativ gut kennt. Ich habe sie vermessen – überwiegend zu Fuß vom tiefsten Punkt am Lago Maggiore bis hin zum Engadin und Graubünden, zuletzt auf dem Piz Palü. Ein bisschen geht noch, nach oben, aber ich weiß nicht, ob die Kondition länger reicht.

Aber obwohl ich die Schweiz gut kenne, weiß ich, dass das ein Land vor allen Dingen mit großer Vielfalt ist – einer Vielfalt, die wir von hier aus sehr bewundern. Und deshalb: Keine Empfehlung, sondern ich komme eher mit der Versicherung, dass Deutschland kein gefahrvolles Gelände für die Schweiz ist. Im Gegenteil: Deutschland ist Freundesland, und wir werden nicht nur gute Nachbarn sein, sondern wir haben gemeinsame Interessen, an denen wir gemeinsam weiterarbeiten werden. Deshalb ist das ein guter Zeitpunkt für diesen Staatsbesuch.

Nun hat der deutsche Botschafter sogar Geschenke angekündigt, die Sie mitbrächten. Was bringen Sie an Geschenken mit?

Ich weiß nicht, was er angekündigt hat, und ich weiß im Augenblick auch nicht, was er sich darunter vorgestellt hat. Ich freue mich jedenfalls auf diesen Besuch, und dass ich mich mit dem Bundespräsidenten, mit Herrn Berset, darüber austauschen kann, wie unter veränderten Bedingungen, unter denen wir alle miteinander leben, Vielfalt und Identität in einem Land wie in der Schweiz bewahrt wird. Ich denke, davon können die Deutschen lernen.

Herr Bundespräsident, Sie haben gesagt, dass Sie die Schweiz bewandert haben, also ein bisschen Ihre persönliche Beziehung zur Schweiz geschildert. Sie hatten auch in jüngster Vergangenheit öfter mal politische Treffen in der Schweiz. Sie waren drei Mal mit unserem damaligen Außenminister Didier Burkhalter zusammen. Welche Erfahrungen haben Sie mit der politischen Schweiz bislang gemacht?

Ich war in der Tat als Außenminister sehr oft in der Schweiz. Vielleicht am häufigsten in der Zeit mit Didier Burkhalter. Und was ich immer geschätzt habe, über all die Jahre hinweg, war die große Ernsthaftigkeit, mit der ich mit Schweizer Kollegen zusammen in außenpolitischen Fragen arbeiten konnte. Und Sie wissen, die Zeit, die sie ansprechen, war die Zeit, in der sich Europa in einer wirklich gefahrvollen Situation befand. Als wir noch nicht wussten, ob sich die Ukraine-Krise zu einem europäischen Flächenbrand ausweiten würde. Ich war sehr froh darüber, in Didier Burkhalter – damals Präsident der OSZE – einen Kollegen zu haben, mit dem ich versucht habe, für Besonnenheit beim Krisenmanagement zu sorgen, und war froh darüber, dass wir uns dann in der Leitung der OSZE sogar abgewechselt haben und da ein bisschen für Kontinuität sorgen konnten.

Es war allerdings auch nicht der einzige längere Aufenthalt. Ich erinnere mich an die vielen Stunden, Tage, Wochenenden, Nächte, die wir während der Iran-Verhandlungen miteinander verbracht haben – nicht ganz alleine, sondern sechs Länder, die an diesen Iran-Verhandlungen beteiligt waren; dazu mit ihren Stäben. Ich erinnere mich gut, wie wir über ganze Wochenenden in Lausanne durchverhandelt haben und morgens – nach durchwachten Nächten – auf den See geguckt haben und uns gewünscht hätten, dass wir diese wunderschöne Umgebung dort anders und intensiver kennengelernt hätten.

Sie haben diese Vermittlungszusammenarbeit, diese diplomatische Vermittlungszusammenarbeit mit der Schweiz angesprochen. Sehen Sie denn vielleicht nicht auch heute in der jetzigen Situation eine Möglichkeit für so eine deutsch-schweizerische Vermittlungszusammenarbeit? Es gibt ja genügend Krisenherde in der Welt.

Ja, wir haben das damals sogar ganz konkret vereinbart zwischen den beiden Außenministerien. Dass wir uns gegenseitig in ein Kooperationsverhältnis bewegen sollten, in dem wir Mediation in internationalen Konfliktsituationen trainieren sollten. Und dazu arbeiten die Außenministerien miteinander. Und Sie sagen zu Recht, der Bedarf für wirklich gekonnte Mediation ist leider in den letzten Jahren eher noch gestiegen. Man darf sich nicht vormachen, dass man die Großkonflikte, wie Syrien, durch ein bisschen Mediation lösen könnte. Konflikte mit dieser Komplexität bedürfen anderer Formate.

Aber ich glaube, dass sich durch Mediation vieles – vor allen Dingen am Beginn von Krisen – möglicherweise klein halten und nicht auswachsen lässt zu Großkonflikten, die dann unbeherrschbar werden. Insofern ist dieses Thema Konfliktmanagement, Krisenprävention, Mediation ein Thema, für das es aus meiner Sicht einen Riesenbedarf gibt.

Sie haben gesagt, Sie kommen mit der Versicherung einer tiefen deutschen Freundschaft in die Schweiz. Das wird aufmerksam beobachtet, denn es gibt in Bern ein gewisses Grummeln unter Parlamentariern, die wünschen sich mehr Unterstützung von deutscher Seite bei diesem EU-Rahmenabkommen, und manche bedauern auch, dass ein Helmut Kohl, ein Wolfgang Schäuble nicht mehr da sind, weil die waren nur schon durch ihre geographische Nähe, hatten die eine Sympathie, ein Verständnis zur Schweiz. Ist diese Sorge, dieses Grummeln in Bern berechtigt?

Na, Sie sehen ja an mir, dass die Nähe des Geburtsortes zur Schweiz nicht Voraussetzung dafür ist, dass man ein Fan der Schweiz wird, und ich glaube, das bin ich. Ich will in meinem Amt auch das Notwendige tun, um diese Freundschaft zwischen unseren beiden Ländern zu festigen.

Wenn ich in die Schweiz fahre, wie in dieser Woche, dann besuche ich nicht den kleinen Nachbarn, wie das gelegentlich auch in der deutschen Presse zu lesen ist, sondern ich schaue auf die Schweiz ganz anders. Gar nicht so sehr als ein Land mit dieser geographischen Größe oder ein Land mit 8,5 Millionen Einwohnern. Sondern: Wenn ich auf die Schweiz schaue, dann schaue ich auf ein Land, das in Fragen der Wirtschaft – und ich meine nicht nur Finanzwirtschaft – und Wissenschaft insbesondere eigentlich eine Weltspitzennation ist. Und deshalb – in Anerkennung dessen, was die Schweiz trotz ihrer geographischen Größe gerade in diesen Bereichen Wirtschaft und Wissenschaft geleistet hat – reise ich eben nicht zu einem kleinen Nachbarn, sondern zu einem Land, vor dem ich wirklich großen Respekt habe.

Und was das Grummeln angeht: Ja, das höre ich auch gelegentlich. Ich nehme das auch ernst. Aber das ist natürlich ein Grummeln, was wir nicht mit derselben Deutlichkeit aus allen Teilen der Schweiz hören – nicht aus der italienischsprachigen, nicht aus der französischsprachigen, aber ich verstehe natürlich, dass die deutschsprachige Schweiz sich ganz besonders mit dem Nachbarn beschäftigt, der sozusagen Teil des gemeinsamen Kulturraumes ist, also mit Deutschland. Ich weiß nicht, ob das Interesse an der Schweiz hier wirklich abgenommen hat, aber ich will mit diesem Besuch auch deutlich machen, dass uns die Schweiz am Herzen liegt und selbstverständlich auch für dieses gute Verhältnis zwischen Deutschland und der Schweiz werben.

Sie haben sich gerade geoutet als Schweiz-Fan – zumindest verbal. Können Sie auch etwas zum System der Schweiz sagen? Also sind Sie denn auch ein Fan des Schweizer Politsystems, der direkten Demokratie? Ihr Vorgänger hat sich da ja eher kritisch geäußert.

Wir sind uns nah, aber wir sind nicht dieselben. Und deshalb plädiere ich sehr dafür, dass wir uns auch respektieren – mit unserer ganz unterschiedlichen Geschichte. Mit dem Weg zu Unabhängigkeit und Demokratie, den wir in ganz unterschiedlicher Weise – und die Schweiz früher und schneller als wir – gegangen sind. Die Schweiz hat, wenn Sie auf das politische System anspielen, selbstverständlich nicht nur eine längere Tradition in dieser Gestalt der Unabhängigkeit und Neutralität, sondern etwa auch mit Blick auf die plebiszitären Elemente im politischen System. Deutschland ist einen anderen Weg gegangen, den einer dezidiert parlamentarischen Demokratie, und deshalb glaube ich, müssen wir gar nicht den Wunsch haben, dieselben zu werden. Sie machen Ihre Erfahrungen mit Ihrem politischen System, von dem ich ja auch weiß, dass das kritisch in der Öffentlichkeit, nicht nur in der Politikwissenschaft, beobachtet wird. Wir machen unsere Erfahrungen mit unserem System, und was ich glaube nicht funktioniert, ist, dass Unzufriedenheiten, die es gibt und selbstverständlich auch in Deutschland, schlicht und einfach gelöst werden dadurch, dass wir auf den Nachbarn schauen, ein paar Elemente aus seinem System herausbrechen und einfach übernehmen.

Mit anderen Worten: Jawohl, es gibt natürlich in Deutschland durchaus Kritik am parlamentarischen System. Ich glaube nur nicht, dass man dieser Kritik dadurch begegnen kann, dass man neben die Legitimität parlamentarischer Entscheidungen eine andere Legitimität von direktdemokratischen Entscheidungen stellt und dann einen Prozess beginnt, in dem das eine gegen das andere ausgespielt wird, die direktdemokratischen Entscheidungen scheinbar eine bessere Legitimität haben als die im parlamentarischen System gefundenen. Deshalb bin ich in der Tat ein bisschen vorsichtig, ob gegenseitige Anleihen unmittelbar hilfreich sind. Ich glaube, wir müssen eher dafür sorgen, dass wir mit den Entscheidungen, die wir in einem parlamentarischen System treffen, auch die Erwartungen unserer eigenen Bürgerinnen und Bürger zufriedenstellen. Dass darüber hinaus – und das ist auch Gegenstand des Koalitionsvertrages, der gerade zustande gekommenen Regierung – Beteiligungsformen diskutiert werden, auch für die Zukunft diskutiert werden, mit der Bürgerinnen und Bürger an Entscheidungsprozessen früher beteiligt werden, ist etwas anderes.

Es sind aber gerade die populistischen Parteien in Deutschland, die immer wieder sagen, auf Bundesebene bräuchte man Volksabstimmungen, weil sich dann die Bürger ernst genommen fühlen. Wenn Sie sagen, das ist nicht das Richtige für Deutschland, wie wollen Sie es dann schaffen, dass die Bürger sich ernst genommen fühlen?

Ich glaube, dass das parlamentarische System sich selbst beweisen muss, dass es in Entwicklungen, die als krisenhaft empfunden werden, tatsächlich auch Lösungen geboten werden. Natürlich weiß ich, dass in Deutschland die Debatte über Zuwanderung und Migration nicht nur die Öffentlichkeit beherrscht hat, sondern natürlich eine Dynamik ausgelöst hat, die sich auch im Abstimmungsverhalten bei der letzten Bundestagswahl niedergeschlagen hat. Nur die Frage, wie man das angeht, liegt ja nicht in der Frage: Löse ich das plebiszitär oder im parlamentarischen Verfahren? Sondern die Frage, wie man es angeht, hängt doch damit zusammen: Welche sachlichen Lösungen stelle ich zur Verfügung? Und deshalb glaube ich, ist eine parlamentarische Demokratie wie die deutsche aufgerufen – in einer Situation, in der Entscheidungsbedarf herrscht, in der die Bürger die Erwartung haben, dass Entscheidungen getroffen werden, unter Wahrung des innergesellschaftlichen Friedens – dass solche Entscheidungen auch stattfinden. Und wenn Sie auf die aktuelle Debatte schauen, dann sind die Lösungen sicherlich noch nicht gefunden. Aber ich glaube, auch der neuen Regierung ist klar und deutlich, dass in dieser Frage – Zuwanderung und Migration – Lösungen präsentiert werden müssen.

Der Aufschwung von Populisten und Nationalisten hat ja beispielsweise in Frankreich oder in Holland die Parteienlandschaft komplett verändert, die traditionellen Volksparteien geradezu bedeutungslos gemacht. Auch in Deutschland gibt es eine Tendenz zur Veränderung: Befürchten Sie, steht das Land dort auch an einem solchen Wendepunkt?

Ich glaube, wir müssen noch ein bisschen weiter schauen. Mich hat ein bisschen gestört – nach den Wahlergebnissen in den Niederlanden und in Frankreich –, dass sich viele – jedenfalls in Deutschland – zurückgelehnt und gesagt haben: Alles gut gegangen. In den Niederlanden regieren nicht die Rechtspopulisten, und in Frankreich hat sich Emmanuel Macron durchgesetzt, was ich persönlich sehr begrüße. Aber der Preis ist natürlich relativ hoch: In den Niederlanden durch eine völlige Veränderung, wie Sie zu Recht gesagt haben, teilweise Erosion der Parteibasis traditioneller Parteien und in Frankreich haben Sie dieselbe Situation erlebt. Deshalb rate ich uns eigentlich, ein bisschen historisch hinter diese Wahlen zurückzugehen und zu versuchen, zu eruieren, wo eigentlich die Ursachen für diese Entwicklungen weltweit liegen.

Und ich glaube, das, was uns in Europa mittlerweile erreicht – sichtbarer schon in den USA –, ist die Polarisierung in den westlichen Demokratien insgesamt. Was in den USA möglicherweise schon als Spaltung empfunden wird, das ist in Rissen – in manchen Ländern eher nur Haarrisse – in Europa natürlich auch erkennbar. Und dieser Prozess wird auch beschleunigt in unseren westlichen Demokratien durch die Veränderung der Kommunikation über Politik. Wir haben eine Verlagerung der Kommunikation über Politik von den klassischen Medien, auch Zeitungen, hin zu neuen digitalen Medien, die ja nicht nur in ihrer Umlaufgeschwindigkeit erheblich höher liegen, sondern in der natürlich auch die Möglichkeit, die Komplexität von Problemen tatsächlich zu beschreiben, fast völlig fehlt.

Das wiederum führt dazu, dass in der öffentlichen Beurteilung von Politik Grauzonen eigentlich gar nicht mehr vorkommen dürfen. Es geht um Gut und Böse, Schwarz und Weiß – das verändert und macht Politik heute unter diesen Verhältnissen schwerer. Ich gebe zu, auch für Vertreter wie Sie.

Sie haben von diesen Haarrissen in den westlichen Gesellschaften gesprochen, und auf meinen Reportagereisen höre ich oft den Satz, dass man mir sagt: Mir persönlich geht es gut, aber so kann es nicht weitergehen in Deutschland. Was ja eigentlich ein Widerspruch in sich selbst ist. Sie haben das möglicherweise auch gehört. Wie begegnen Sie dem oder wie gehen Sie mit diesem Gefühl, das es in Deutschland gibt, um?

Erstens, es irritiert mich genauso wie Sie. Und es irritiert mich in einem Land, in dem die statistischen Durchschnittszahlen für die Wirtschaft eigentlich selten besser waren als zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Nicht nur, wenn ich auf die Wachstumszahlen schaue: seit neun Jahren ununterbrochen wirtschaftliches Wachstum und seit 2006 auch kontinuierlicher Abbau der Arbeitslosigkeit. Das müsste eigentlich darauf hindeuten, dass die Zufriedenheit – nicht nur die persönliche, sondern auch mit dem politischen System, mit der politischen Ordnung – eigentlich vorliegen müsste. Und da kommt es in der Tat zu diesem eklatanten Unterschied, dass über 90 Prozent der Deutschen bei der Befragung sagen: Mir persönlich geht es sehr gut. Und dahinter steht das große Aber. Das große Aber der Unzufriedenheit – nicht nur mit der Politik, sondern darunter liegt ja etwas, was möglicherweise noch viel kritischer ist – ein sehr kritischer Umgang mit der sogenannten Elite. Und Elite ist ganz viel. Das ist nicht nur Bundespolitik, und das ist überhaupt nicht nur Politik, sondern Sie als Medien gehören genauso dazu, wie inzwischen andere gesellschaftliche Institutionen auch. Diese Abgrenzung von dem da oben ist das, was mir wirklich Sorge macht.

Wie reagiert man darauf? Nicht indem sich Politik schlicht und einfach darüber beschwert, sondern das was ich tue und was ich empfehle ist, den Kontakt zur Bevölkerung nicht nur medial zu suchen. Ich glaube, wir sind gut beraten wieder mehr hinzugehen. Und ich habe das jetzt gerade bei meiner Antrittsreise durch 16 Bundesländer – jeweils zwei Tage für ein Bundesland – gespürt. Wenn man den Menschen unmittelbar gegenübertritt von Angesicht zu Angesicht, dann stelle ich fest, interessieren sich die Menschen nicht nur für Politiker, sondern auch für Politik. Und es gelingt nicht nur mit dem einen oder anderen, sondern mit vielen und nicht nur in Veranstaltungen, sondern auch auf der Straße ins Gespräch zu kommen. Deshalb ist das nicht das Allheilmittel, aber eine Empfehlung an uns ist schon, dieses Gespräch wieder sehr viel direkter und nicht nur medial überformt zu suchen.

Im Moment stehen in Europa große Reformen an. Man hört dabei auch immer wieder vom deutsch-französischen Motor, der das alles ein bisschen lenken und antreiben soll. Wie sehen Sie die Rolle der kleinen Staaten in der EU? Wie können Sie, wie wollen Sie die mit einbeziehen?

Das ist in Europa nie einfach gewesen. Ich sage, Deutschland und Frankreich stehen nicht für Europa, aber wenn Deutschland und Frankreich miteinander nicht kooperieren, dann ist auch selten in Europa wirklich etwas nach vorne gegangen. Deshalb plädiere ich sehr dafür, dass von beiden Seiten diese enge europäische Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich auch weiter gesucht wird, aber sie hat in der Tat eine Voraussetzung und die kam in Ihrer Frage im Grunde schon zum Ausdruck – es muss immer nach der Philosophie gehen: Die Kleinen müssen nicht nur einen Platz am Tisch haben, wenn in Brüssel entschieden wird, sondern die sogenannten kleineren Staaten müssen Teil des gesamten Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses innerhalb der Europäischen Union werden.

Ich habe mich bemüht, in meiner Amtszeit als Außenminister das zu wahren. Ich glaube, ich war kaum in einer anderen Region der Europäischen Union so häufig wie gerade bei den drei kleinen baltischen Staaten – in der Randlage der Europäischen Union. Auch um immer wieder deutlich zu machen, wir verstehen die besondere Situation – nicht nur am weitesten entfernt von Brüssel, sondern auch in der Randlage zu Russland zu sein, die sicherheitspolitisch eine andere Situation ist als für einen zentraleuropäischen Staat. Und deshalb gehört zu einer klugen europäischen Politik – und das gilt für beide Großen, für Frankreich und für Deutschland – immer wieder nach Möglichkeiten zu suchen, die sogenannten kleinen europäischen Staaten möglichst frühzeitig in die Willensbildung mit einzubeziehen. Es bleibt trotzdem dabei, ohne deutsch-französische Kooperation, ohne engste deutsch-französische Kooperation wird das Schiff erst gar nicht Fahrt aufnehmen, und deshalb bleibt das notwendig.

Wie ist es mit der Rolle Deutschlands in der Welt? Es gab vor kurzem einen Giftgasangriff in Syrien, es gab einen Militärschlag der westlichen Alliierten. Deutschland wurde nicht gefragt. Es gibt auch keine deutsche Friedensoffensive. Wo bleibt Deutschland?

Naja, ich meine, ich glaube, dass Deutschland in den letzten Jahren immens gelernt hat. Sie dürfen ja nicht vergessen: Die Zeit, in der Deutschland außenpolitisch wirklich voll aktionsfähig ist, liegt noch nicht so weit zurück. 1990, die Deutsche Einheit, und in den Jahren und Jahrzehnten davor, war Deutschland als internationaler Partner nicht oder selten gefragt. In der Zeit danach ist, finde ich, erheblich viel geschehen. Denken Sie daran, dass nur acht Jahre nach der Deutschen Einheit Deutschland zum ersten Mal beteiligt war in der Jugoslawien-Krise. Denken Sie daran, dass Deutschland nach dem Jahr 2001, ab 2002 in Afghanistan Verantwortung übernommen hat. Inzwischen in einer Reihe von anderen Auslandseinsätzen versucht Deutschland zu helfen und Frieden zu wahren, Stabilität zu gewährleisten. Insofern ist das ein Prozess, in den Deutschland langsam hineingewachsen ist. Aber das heißt natürlich nicht, dass man in der Verantwortung steht, bei jeder militärischen Aktion tatsächlich auch mit eigenem Gerät, mit eigenem Personal dabei zu sein.

Ich empfehle ohnehin, was den Syrien-Krieg angeht, und habe das auch in Deutschland immer wieder öffentlich gesagt, über die nächste militärische Aktion hinauszudenken. Dieser syrische Krieg, ist nicht ein Krieg. Es ist insbesondere kein Bürgerkrieg mehr. Sondern wir haben eigentlich fast von Anfang an eine zentrale Auseinandersetzung in Syrien über die Vorherrschaft entweder der schiitischen oder der sunnitischen Welt im Mittleren Osten. Wir haben nach der militärischen Intervention der Türkei im Norden Syriens eine ganz offensive Auseinandersetzung zwischen Kurden und der Türkei, und dem Staat der Türkei auf syrischem Boden. Und wir haben natürlich, das war in den letzten Tagen wieder zu spüren, die große Auseinandersetzung zwischen den beiden Großmächten Russland und den USA über die Gestaltungsfähigkeit einer zukünftigen Ordnung im Mittleren Osten.

Deshalb, ja, wir müssen auch reden über die Frage, wie reagieren wir auf die Verletzung von roten Linien. Aber noch zentraler erscheint mir, dass wir in diesem komplexen Großkonflikt, den wir in Syrien haben und der ja Ausstrahlungswirkung auf die gesamte Nachbarschaft hat, einen Neuansatz wagen, der nicht funktionieren wird, ohne dass Washington und Moskau, ich will gar nicht sagen, ein Stück näher zusammenrücken, aber sich wissend zusammensetzten. Dass ohne ein Mindestmaß an Kooperation zwischen den Beiden kein Schritt nach vorne gehen wird.

Herr Bundespräsident, vielleicht noch abschließend: Sie reisen als Freund in die Schweiz. Reisen Sie auch mit Unterstützung für die schwierigen Europa-Verhandlungen oder EU-Verhandlungen der Schweiz in unser Land?

Natürlich wünsche ich mir, dass es nach vielen kritischen Diskussionen, die es darüber in der Schweiz gegeben hat, nach vielfältigen Versuchen zwischen der Kommission und den zuständigen Schweizer Stellen zusammenzukommen, natürlich wünsche ich mir, dass es Fortschritt gibt. Ich will das nicht überschätzen, aber es gab in letzter Zeit ein paar Signale, bei denen ich den Eindruck hatte, es kommt wieder etwas Bewegung in die Landschaft.

Von der Schweiz würde ich mir nur wünschen, dass man die Europäische Union nicht als Feindesland ansieht, sondern ich bin mir sicher: Würde es zu einem solchen Rahmenabkommen kommen, es wäre ein Gewinn für beide, und deshalb wünsche ich mir Fortschritte.

Herzlichen Dank. Dankeschön, Herr Bundespräsident.

Aber gern.

Die Fragen stellten: Peter Voegeli und Adrian Arnold.