Interview mit der niederländischen Abendzeitung NRC Handelsblad

Schwerpunktthema: Interview

15. Mai 2018

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der Abendzeitung NRC Handelsblad anlässlich seines Besuchs im Königreich der Niederlande ein Schriftinterview gegeben, das am 15. Mai erschienen ist. Darin heißt es: "Der Zusammenhalt der EU ist für uns eine Frage von existenzieller Bedeutung. Wir fühlen uns dem europäischen Projekt zutiefst verbunden und wir fühlen uns verantwortlich. Die EU lebt aber von allen ihren Mitgliedern. Zusammenhalten und gestalten können wir sie nur gemeinsam."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seinem Arbeitszimmer (Archivbild)

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der Abendzeitung NRC Handelsblad anlässlich seines Besuchs im Königreich der Niederlande ein Schriftinterview gegeben, das am 15. Mai erschienen ist.

Kann Europa sich, trotz des Präsidenten Trump und seiner Politik, noch auf die transatlantische Partnerschaft verlassen?

Wir Deutsche haben den Vereinigten Staaten unendlich viel zu verdanken: unsere Demokratie, unsere Freiheit und auch unseren Wohlstand. Das wollen und werden wir nicht vergessen. Aber ich mache mir wirklich Sorgen um das transatlantische Verhältnis – vielleicht mehr Sorgen als andere sie haben. Die fundamentalen Differenzen über den richtigen Umgang mit dem Nuklearabkommen mit Iran oder über den freien Welthandel tragen zu dieser Sorge bei. Die einseitige Aufkündigung des Atomabkommens ist ein schwerer Rückschlag für die internationale Diplomatie. Sie macht nichts besser, aber schafft eine Vielzahl neuer Risiken. Vor allem wächst die Gefahr akuter Spannungen und kriegerischer Eskalation im ohnehin explosiven Mittleren Osten und die Gefahr, dass auch andere Staaten nukleare Rüstungsprogramme starten. Außerdem sehen sich nun die Hardliner im Iran gestärkt. Bitter ist auch, dass letztlich nicht nur ein zwischen Staatenvertretern verhandeltes Abkommen zu Fall gebracht wird, sondern die Autorität des Sicherheitsrats und der Vereinten Nationen insgesamt verletzt ist. Sie hatten die Vereinbarung als gemeinsame Position der Weltgemeinschaft übernommen. Es geht deshalb nicht nur um die Position zum Iran-Abkommen, sondern auch um das Verhältnis zu den Vereinten Nationen: Wenn die politische Führung der USA sich nicht länger als Teil einer internationalen Gemeinschaft versteht, sondern die Welt als Arena konkurrierender Nationalstaaten betrachtet, stellt das die Grundpfeiler deutscher und auch europäischer Außenpolitik in Frage. Darauf müssen wir gemeinsam eine Antwort finden.

In der EU haben sich 'Gräben aufgetan' zwischen Nord und Süd, und zwischen West und Ost. Sieht Deutschland, als Macht in der Mitte, sich verpflichtet Europa erneut zusammenzubringen?

Für uns Deutsche ist das geeinte Europa die einzig richtige Antwort auf unsere Geschichte und auf unsere Lage in der Mitte des Kontinents. Der Zusammenhalt der EU ist für uns eine Frage von existenzieller Bedeutung. Wir fühlen uns dem europäischen Projekt zutiefst verbunden und wir fühlen uns verantwortlich. Die EU lebt aber von allen ihren Mitgliedern. Zusammenhalten und gestalten können wir sie nur gemeinsam. Als deutsches Staatsoberhaupt verstehe ich es daher als Teil meiner Verantwortung, für diesen Zusammenhalt Europas zu werben und zu arbeiten – auch und gerade wenn dies von Deutschland Kompromissfähigkeit verlangt.

Acht kleine Länder im Norden der EU, darunter die Niederlande, fürchten, dass die Europäische Union nach dem Brexit zu viel nach französischem Geschmack reformiert wird: Richtung Transferunion. Können Sie diese Länder beruhigen?

Ohne Frankreich und Deutschland geht zwar wenig in der Europäischen Union. Aber so wichtig diese zwei Länder auch sind, ohne die anderen EU-Mitglieder können weder Deutschland noch Frankreich etwas erreichen für Europa. Und wir wollen auch gar keinen übergehen.

Der französische Staatspräsident hat der Debatte um die Zukunft Europas neuen Schwung verliehen. Das war wichtig und dafür bin ich ihm dankbar. Seine konkreten Vorschläge verdienen eine ernsthafte Prüfung und verlangen Antworten. Es ist klar, dass wir uns in der Union nicht über alles einig sein werden. Das kennen wir und es gehört dazu, wenn unterschiedliche Perspektiven und Interessen aufeinander stoßen. Wichtig ist bei allen Debatten aber auch, das Ziel einer geeinten und handlungsfähigen Europäischen Union nicht aus den Augen zu verlieren. Die Frage, die uns leiten sollte, ist: Welches Europa brauchen wir in fünf, in zehn Jahren, um unsere freiheitlichen, offenen, friedlichen Gesellschaften zu bewahren? Und natürlich hat das Wort der Niederlande in diesen Debatten großes Gewicht.

Und übrigens: Auch in Deutschland ärgert sich so mancher über diese oder jene Verordnung der EU, aber gleichzeitig ist den meisten bewusst, dass es ohne die EU viele positive Entwicklungen für unser Land nicht gäbe. Um diese Überzeugung lebendig zu halten, genügt allerdings die Erinnerung an den großen Friedenserfolg allein nicht mehr. Insofern gilt auch hier, was Karl Popper sagte: ‚Alles Leben ist Problemlösen‘. Und das gilt noch mehr für die Politik. Nur damit gewinnt man Glaubwürdigkeit zurück.

Gibt es innerhalb der Europäischen Union überhaupt noch so etwas wie nationale Souveränität oder müssen wir wie Präsident Macron eher von einer Europäischen Souveränität sprechen?

Beides passt zusammen: Ein starkes Europa ist die Voraussetzung dafür, dass jede unserer Nationen – ob Deutschland oder die Niederlande, ob Frankreich oder Slowenien – in dieser Welt überhaupt noch handlungsfähig sein kann. Das will Präsident Macron sagen! In dieser Sicht widerspricht die Europäische Souveränität der nationalen Souveränität nicht. Im Gegenteil: Sie ergänzt, ja vergrößert sie sogar, vor allem da, wo Problemlösungen auf nationalstaatlicher Basis gar nicht mehr möglich oder ausreichend sind. Letztlich entspricht genau das der Lebenswelt junger Menschen im heutigen Europa. Sie bewegen sich nicht nur mit großer Selbstverständlichkeit über Landesgrenzen und Sprachgrenzen hinweg. Sie haben auch verstanden, dass sie einander über Grenzen hinweg schicksalhaft verbunden sind.

Sie haben gewarnt vor einer galoppierenden Entfremdung zwischen dem Westen und Russland. Ist diese Entwicklung nicht unvermeidlich, so lange Russland das Internationale Recht so wenig respektiert – man denke zum Beispiel an die Krim-Annexion, den Krieg in der Ost-Ukraine und den Fall Skripal?

Es stimmt: Russland sucht seine Identität heute eher in Abgrenzung zu Europa. Das Land ist ein schwierigerer Partner, als wir uns das nach 1990 zunächst vorgestellt oder gewünscht hatten. Aber es ist Europas unverrückbarer Nachbar. Ich bin davon überzeugt, dass wir nicht gut beraten sind, als Antwort auf russisches Handeln unsererseits allein auf Abgrenzung zu setzen. Kluge Außenpolitik heißt auch, immer wieder nach Initiativen und neuen Ansätzen zu suchen. Entfremdung ist kein Zustand, sondern ein Prozess und den können wir beeinflussen. Dafür sind gemeinsame Ziele und konkrete Zusammenarbeit sehr wertvoll. Wenn das fehlt, drohen Projektionen und Missverständnisse – mit folgenschweren, womöglich gefährlichen Folgen gerade im Verhältnis zu Russland. Die Europäische Union muss mit Blick auf die russischen Herausforderungen ihre Geschlossenheit bewahren, darf aber aus meiner Sicht ihre Handlungsfähigkeit und Gesprächsfähigkeit gleichzeitig nicht aufgeben.

Die Fragen stellte: Juurd Eijsvoogel