Interview mit der Tageszeitung Passauer Neue Presse

Schwerpunktthema: Interview

19. Juli 2018

Der Bundespräsident hat der Tageszeitung Passauer Neue Presse ein Interview gegeben, das am 19. Juli erschienen ist: "Was an transatlantischen Beziehungen gewachsen ist in sieben Jahrzehnten der Nachkriegszeit, ist viel zu wertvoll, um es preiszugeben, weil uns die Politik des gegenwärtigen amerikanischen Präsidenten missfällt. Zweifellos schafft er für uns Risiken mit der Art und Weise, wie er Politik macht. Daraus müssen wir unsere Schlüsse ziehen. Einer meiner Schlüsse ist: Wenn die Dinge eben so sind, wie sie sind, und wir Herrn Trump nicht ändern können, dann ist es Zeit für ein neues europäisches Selbstbewusstsein."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beim Redaktionsbesuch bei der Passauer Neuen Presse anlässlich seiner Regionalreise in den Bayerischen Wald

Der Bundespräsident hat der Regionalzeitung Passauer Neue Presse ein Interview gegeben, das am 19. Juli erschienen ist.

Herr Bundespräsident, in einer Rede zum 69. Jahrestag des Grundgesetzes am 23. Mai haben Sie Risse in der Gesellschaft sowie Hass und Verachtung im politischen Diskurs beklagt. Seitdem ist zumindest die Asyldebatte sogar noch heftiger geworden. Wo sehen Sie Auswege aus dieser Verkeilung politischer Gegner ineinander?

Was die Menschen vor allem erwarten, das sind Antworten auf die offenen Fragen – auch in der Migrationsdebatte. Aber was unterschätzt wird: Dass die Menschen mehr erwarten als die alleinige Fokussierung auf die Frage der Zuwanderung. Gerade wenn ich in jüngste Umfragen hineinschaue und sehe, was die drängendsten Probleme der Menschen sind, dann ist ja erstaunlich, dass Themen wie Rente, Pflege und Bildung den Menschen mindestens so wichtig sind wie die Zuwanderungsfrage. Deshalb hoffe ich, dass nach dem Schlagabtausch der vergangenen Wochen die Regierungskoalition jetzt konzentriert an Lösungen arbeitet.

Und der Ausweg aus der giftigen Debattenatmosphäre?

Der Ausweg aus der Situation, die wir erlebt haben, besteht aus zweierlei: erstens aus dem Verzicht auf öffentliche Auseinandersetzungen, die den Eindruck hinterlassen, es ginge nicht nur um die Sache. Und zweitens sich bei all dem einer Sprache zu bedienen, die möglich macht, dass diejenigen, die unterschiedlicher Meinung waren, politisch trotzdem weiter miteinander arbeiten können. Das hat einen guten Teil der Stabilität der politischen Ordnung der vergangenen 70 Jahre ausgemacht, weil es ein gewisses Maß von Vernunft und Rationalität in die bundesdeutsche Debatte gebracht hat. Ich wünsche mir sehr, dass wir das nicht verlieren.

Lassen Sie mich trotzdem noch einmal zum Thema Migration kommen. Der Fall Sami A. spaltet das Land. Auf der einen Seite wird die Gefährdung des Rechtsstaats beklagt, falls staatliche Organe sich nicht an Gerichtsbeschlüsse halten. Auf der anderen Seite können viele Bürgerinnen und Bürger nicht verstehen, wie ein abschiebepflichtiger islamistischer Gefährder jahrelang vom deutschen Staat alimentiert werden kann. Können Sie beide Positionen nachvollziehen?

Woran die deutsche Debatte krankt, ist, dass sie von zwei hohen moralischen Standpunkten her geführt wird. Die einen sagen: Wir müssen im Prinzip jeden ins Land lassen – und die anderen sagen: Das Boot ist so voll, dass keiner mehr reinkommen kann. Wenn jeder auf seinem Sockel bleibt, dann sind keine Lösungen möglich. Zwei Dinge sind erforderlich: erstens die Konzentration auf nachhaltige Integration derjenigen, die hier sind. Und zweitens: eine bessere Steuerung der Zuwanderung, auch über ein Zuwanderungsgesetz, wie es die Bundesregierung jetzt auf den Weg bringen möchte.

Was den konkreten Fall Sami A. angeht…

Wir alle wissen nicht genügend Details zum Beispiel darüber, was zwischen dem Bundesamt für Migration und dem zuständigen Gericht an Kommunikation im Vorfeld stattgefunden hat oder möglicherweise nicht stattgefunden hat. Weil ich da so wenig weiß wie andere, will ich den konkreten Fall nicht kommentieren. Ich will nur sagen: Das Rechtsstaatsprinzip ist das, was uns von anderen Formen der Herrschaft – auch den sogenannten illiberalen Demokratien – unterscheidet. Die Unabhängigkeit der Richter und die Verbindlichkeit von gerichtlichen Entscheidungen – unabhängig davon, wie sie ausgegangen sind – ist eines der tragenden Prinzipien, die wir nicht aufgeben sollten.

Themenwechsel: Während des letzten Präsidentschaftswahlkampfes in den USA haben Sie – noch als Außenminister – Donald Trump einen Hassprediger genannt. Nach seinem Treffen mit Putin wird Trump im eigenen Land als Verräter tituliert. Wie kann der Westen seine Werte bewahren, wenn die USA von einem Präsidenten geführt werden, der ständig aus der Rolle fällt und vor allem Verbündete düpiert?

Wir Europäer tun gut daran, uns in der ganzen Debatte nicht zu sehr und dauerhaft auf Herrn Trump zu konzentrieren. Das, was an transatlantischen Beziehungen gewachsen ist in sieben Jahrzehnten der Nachkriegszeit, ist viel zu wertvoll, um es preiszugeben, weil uns die Politik des gegenwärtigen amerikanischen Präsidenten missfällt. Zweifellos schafft er für uns Risiken mit der Art und Weise, wie er Politik macht. Daraus müssen wir unsere Schlüsse ziehen. Einer meiner Schlüsse ist: Wenn die Dinge eben so sind, wie sie sind, und wir Herrn Trump nicht ändern können, dann ist es Zeit für ein neues europäisches Selbstbewusstsein.

Was heißt das?

Das heißt, nicht nur zu überlegen, wie wir die europäische Dauerkrise überwinden, die begonnen hat mit der Wirtschaftskrise der mediterranen Staaten und sich fortgesetzt hat mit Auseinandersetzungen zur Migrationspolitik mit vielen osteuropäischen Staaten. Sondern wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass selbst die großen Staaten in Europa in der Welt keine Rolle mehr spielen, wenn wir uns nicht in Europa beieinander halten. Nur dann werden wir in der Lage sein, zwischen China, Russland und USA überhaupt noch mit einigem Gewicht wahrgenommen zu werden. Das gilt handelspolitisch: Ich glaube, der eine oder andere, der gegenüber Europa kritisch war, wird gespürt haben, dass handelspolitische Antworten auf die amerikanische Politik nur noch gemeinsam europäisch gegeben sind. Das gilt verteidigungspolitisch: Seit dem jüngsten NATO-Gipfel wissen wir: Europa muss eine offene Debatte darüber führen, was notwendig ist, damit der europäische Arm innerhalb der NATO gestärkt wird.

Dazu gehört dann aber auch die Einhaltung des Ziels, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben?

Nicht die zwei Prozent sind entscheidend, sondern was die Mitgliedstaaten der EU zur Aufrechterhaltung der eigenen Verteidigung für notwendig halten. Und wir brauchen ein Bewusstsein darüber, was außenpolitische Verantwortung ist. Wir müssen als Europa zur Kenntnis nehmen, dass wir uns sozusagen nicht mehr automatisch anlehnen können. Die amerikanische Außenpolitik verändert sich im Augenblick ich weiß nicht, wohin, weil sie sich tageweise verändert. Deshalb müssen wir Verantwortung für unsere eigene europäische Außenpolitik und damit auch natürlich für unser Verhältnis zu anderen Regionen der Welt übernehmen: zunächst zu dem Teil Europas, der zur EU gehört, aber auch zu unseren südlichen Nachbarregionen. Da werden uns weder die Amerikaner noch jemand anderes die Arbeit abnehmen.

Sie haben eine to-do-Liste für Europa aufgestellt. Wie groß schätzen Sie die tatsächliche Chance ein, dass die EU näher zusammenrückt – und das trotz Brexits und der bekannter Streitpunkte?

Ich lasse den Brexit jetzt mal raus, wenngleich ich zu denjenigen gehöre, die diese Entscheidung Großbritanniens tief bedauert haben. Nicht, dass es mit Großbritannien immer einfach gewesen wäre – das weiß Gott nicht. Aber die Briten haben aus ihrer historischen Erfahrung – kosmopolitisch denkend, in der Welt präsent – etwas in die Europäische Union eingebracht, was andere nicht so ohne Weiteres haben, auch wir nicht. Doch das liegt wahrscheinlich hinter uns, das Scheidungsverfahren bleibt noch etwas schwierig, aber es wird stattfinden, davon gehe ich jetzt einmal aus. Was die Verhältnisse unter den verbleibenden 27 angeht, hoffe ich, dass die Erfahrungen, wie sie jetzt von den allermeisten Mitgliedsstaaten auf dem NATO-Gipfel gemacht worden sind, auch noch zu manchen Lernprozessen führen. Wir können es uns schlicht nicht leisten, uns auseinanderdividieren zu lassen. Keine der ganz großen Mächte – ob China oder Russland oder die USA – scheint im Augenblick, um es mal vorsichtig zu sagen, ein herausragendes Interesse an der Stabilität der Europäischen Union zu haben. Umso mehr müssen wir es haben.

Die Fragen stellte: Karl Birkenseer