Eröffnung der Ausstellung "Luthereffekt – 500 Jahre Protestantismus in der Welt"

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 11. April 2017

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 11. April bei der Eröffnung der Ausstellung "Luthereffekt – 500 Jahre Protestantismus in der Welt" im Berliner Martin-Gropius-Bau eine Ansprache gehalten: "Die Freiheit, die der Reformation innewohnt, ist nicht ziellos. Es ist die Freiheit zu etwas: zur Verantwortung, zur Solidarität, zum Engagement, zur Mitarbeit an einer lebenswerten Gesellschaft."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache im Lichthof des Martin-Gropius-Baus bei der Eröffnung der Ausstellung 'Luthereffekt – 500 Jahre Protestantismus in der Welt' in Berlin

Mit den Effekten ist das so ja so eine Sache. Mal weiß man nicht, worauf die Wirkung tatsächlich beruht – so zum Beispiel beim Placebo-Effekt. Mal weiß man nicht, ob der Effekt überhaupt Wirkung hat. Beim Luthereffekt dagegen sind beide Besorgnisse unbegründet. Im Gegenteil: 500 Jahre nach dem Anschlag der 95 Thesen an das Portal der Wittenberger Schlosskirche ist Martin Luthers Kraft und Wirkung ungebrochen: bei den Protestanten sowieso, vermutlich bei allen Christen in den Ländern der Reformation, aber eben auch weit darüber hinaus, und das sehen wir in dieser Ausstellung – selbst auf fernen Kontinenten. Nicht ganz so kirchennahe Menschen wird die Überschrift – immerhin auf der Titelseite der Süddeutschen Zeitung – interessiert haben: Luther schlägt Darth Vader. Nicht mit dem Laserschwert, aber doch immerhin in den Verkaufszahlen einer kleinen Plastik-Spielfigur, die zum Reformationsjubiläum auf den Markt gebracht wurde und die seitdem zum Verkaufsschlager avanciert ist. Playmobil statt Cranach! Erstaunlich genug. Aber der Vorgang gibt auch Anlass zu der Frage: Wie kann ein Mönch aus dem 16. Jahrhundert heute zum Verkaufsschlager werden? Und das lässt vielleicht auch die Kirchenfernen fragen: Worin liegt die anhaltende Anziehungskraft dieses Reformators begründet? Und dass es diese Anziehungskraft gibt, habe ich noch als Außenminister im letzten Jahr erfahren dürfen, als ich in New York eine Ausstellung unter der Überschrift Here I stand eröffnen durfte, die gleichzeitig auch in Minneapolis und Atlanta gezeigt wurde. Eine weitere Ausstellung aus Deutschland ist vor wenigen Wochen im Los Angeles County Museum erst zu Ende gegangen. Beide Ausstellungsprojekte haben rekordverdächtige Besucherzahlen vorzuweisen.

Wahrscheinlich, und in aller Vorsicht, liegt es auch an der facettenreichen Persönlichkeit Luthers, wie mein Amtsvorgänger Joachim Gauck gesagt hat: großer Theologe, versierter Prediger, begnadeter Publizisten, wortgewaltiger Übersetzer der Bibel, Rebell der Gnade, unermüdlicher Kirchenreformer, leidenschaftlicher Familienmensch. All das beinhaltete Luthers Persönlichkeit, darin inbegriffen auch seine Ecken und Kanten, an denen wir uns auch noch heute reiben.

Die Ausstellung, die wir heute eröffnen, geht der jahrhundertelangen, ebenso facettenreichen Wirkgeschichte Martin Luthers nach. Und Sie werden mir als jemand, der weniger aus der lutherischen, vielmehr der calvinistischen Reformtradition kommt, den Hinweis erlauben: Sie geht der reformatorischen Bewegungen insgesamt nach. Die Ausstellung tut das gründlich, über fünf Jahrhunderte und vier Kontinente hinweg. Schnell bekommt der Besucher eine Ahnung von der ungeheuren Kraft, die diese Bewegungen entfaltet haben: Wie sie neue Antworten gaben auf drängende Fragen in einer Zeit, in der viele Menschen auch, aber nicht nur um ihr Seelenheil bangten; wie sie regelrecht Ketten sprengten und neue Entwicklungen in Gesellschaft, Arbeit, Kunst und Musik, bis hinein in die Familien vorantrieben; und wie sie – auch das gehört dazu – zu einem politischen Faktor wurden, selbst Politik machten, und das beileibe nicht immer mit friedlichen Mitteln.

Die Ausstellung nimmt uns hautnah mit hinein in vier ganz unterschiedliche protestantische Realitäten. Sie weitet bewusst den Blick über das lutherische Kernland hinaus und macht uns bewusst, dass die Reformation Weltbürgerin‘ geworden ist. Schlaglichtartig zeigt sie uns die große Vielfalt, die sich unter dem Label Reformation zu entwickeln begann, und zwar weltweit: Sie führt uns nach Schweden, in die USA, nach Südkorea und Tansania. Geschichten von blutiger Unterdrückung und friedlicher Koexistenz, von großen Errungenschaften und fortbestehender Ungerechtigkeit. Und wenn wir vor der Erstausgabe des Neuen Testaments in koreanischer Sprache stehen oder eine Halskette der Maasai mit Kreuzanhänger bewundern, wenn wir das Gemälde von Emanuel Gottlieb Leutze betrachten, in dem er die Besiedlung von Amerikas Westen anlehnt an die Heimkehr des erwählten Volkes ins Gelobte Land – dann wird vor allem deutlich, wie sich die Ideen der Reformation immer verwoben haben mit vorhandenen Traditionen, Denkmustern und Kulturen, und erst dadurch und gerade deshalb einen festen Platz im Leben der Menschen gefunden haben. Wie sie von der Geschichte geprägt worden sind, und gleichzeitig selbst Geschichte geschrieben haben.

Genau hier zeigt sich der Kern der Reformation; hier liegt der Schlüssel zum "Luthereffekt", der bis heute andauert. Weder Luther, dem ohne Zweifel wirkungsmächtigsten der Reformatoren, noch den meisten anderen, ging es um eine Abkehr von der Welt. Im Gegenteil! Nehmt die Welt um Euch herum wahr, mischt Euch ein, gestaltet mit – das war, und das ist ihr Grundgedanke. Die Freiheit, die der Reformation innewohnt, ist nicht ziellos. Es ist die Freiheit zu etwas: zur Verantwortung, zur Solidarität, zum Engagement, zur Mitarbeit an einer lebenswerten Gesellschaft.

Nicht nur als bekennender Christ, sondern auch als Bundespräsident eines weltanschaulich neutralen Staates kann ich daher aus vollem Herzen sagen: Möge dieser Effekt der Reformation noch lange andauern. Denn die Kraft dieser Botschaft ist noch längst nicht erschöpft.

Herzlichen Dank.