Besuch der Hebräischen Universität von Jerusalem

Schwerpunktthema: Rede

Jerusalem/Israel, , 7. Mai 2017

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 7. Mai beim Besuch der Hebräischen Universität von Jerusalem eine Rede gehalten: "Ich rate uns: Lasst uns über die Anfechtungen von Demokratie ehrlich und ohne Sprechverbote miteinander reden. Meine Erfahrung ist jedenfalls: Sprechverbote helfen nicht beim Verstehen, und sie schaffen kein Verständnis."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede im Auditorium der Hebräischen Universität Jerusalem anlässlich des Besuches in Israel und in den Palästinensischen Gebieten

הִנֵּה מַה טּוֹב וּמַה נָּעִים שֶׁבֶת אַחִים גַּם יָחַד

Siehe, wie fein und lieblich ist‘s, dass Brüder einträchtig beieinander wohnen!

Der Psalm beschreibt, was ich beim Blick in dieses Auditorium empfinde. Die Hebräische Universität zu besuchen – das bedeutet für mich Rückkehr an einen vertrauten und geliebten Ort. Just hier habe ich einen der schönsten Tage in meiner Zeit als deutscher Außenminister verbringen dürfen.

Dieser 31. Mai 2015 hat sich auf ewig in meine Erinnerung eingegraben. Damals war ich gemeinsam mit meiner Frau und meiner Tochter hier an Ihrer Universität – als eine Familie unter ganz vielen. Gemeinsam mit dreihundert Ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen und deren Eltern, Großeltern und Geschwistern saßen wir bei der feierlichen Zeugnisverleihung – nicht hier in einem Vorlesungssaal, sondern draußen in der Nachmittagssonne im Amphitheater.

Der Titel des Ehrendoktors, den ich damals erhielt, war eigentlich schon Ehre genug – doch ich konnte mich damals gleich doppelt geehrt fühlen. Denn ich saß gemeinsam mit einem Mann auf der Bühne, der den Weg Israels über so viele Jahrzehnte so tief geprägt hat: Es war Shimon Peres, der Staatsmann und unermüdliche Friedenssucher, der – wie ihn eine deutsche Zeitung einmal genannt hat – realistische Visionär. Jemand, dessen politische Arbeit ich mit großem Respekt und, je häufiger ich ihn traf, immer mehr persönlicher Zuneigung verfolgt habe, und dessen persönliche Geschichte ich kannte – eine Geschichte, die ihn auf schreckliche Weise mit der Geschichte meines Landes verband: Shimon Peres liebte seinen Großvater, den Rabbi Meltzer im Schtetl Wischnewo, im damaligen Polen. Oft hat sich der kleine Shimon in kalten Winternächten unter seinem Gebetsmantel gewärmt. 1941 – der Jugendliche Shimon lebte damals glücklicherweise schon hier, im Kibbuz Alumot – fielen die deutschen Soldaten in das Schtetl ein. Sie zwangen alle Juden des Schtetls in die Synagoge, die Synagoge seines Großvaters. Rabbi Meltzer ging seiner Gemeinde voran, gehüllt in eben diesen Gebetsmantel. Die Nazis verriegelten die Türen hinter ihnen und steckten die Synagoge in Brand. Von Wischnewos jüdischer Gemeinde blieb nichts als glühende Asche.

Und dennoch hat derselbe Shimon Peres, der – wie viele Israelis – seine Liebsten und seine Heimat durch Mord und Vertreibung verloren hat, später als israelischer Staatsmann unseren beiden Ländern den Weg zueinander gewiesen. Er hat dabei geholfen, dass unser Weg aus dem dunklen Abgrund der Schoah in das helle Licht der Versöhnung geführt hat. Und so kamen wir vor zwei Jahren hier auf dem Skopusberg zusammen und feierten, genau 70 Jahre nach dem Ende des Krieges und 70 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, den fünfzigsten Geburtstag der deutsch-israelischen Beziehungen. Nach Verfolgung und Vernichtung ist Versöhnung möglich geworden, weil das Land der Opfer dem Land der Täter die Hand gereicht hat. Aus ersten vorsichtigen, tastenden, auch schmerzhaften Kontakten zwischen unseren Ländern ist Freundschaft geworden. Das ist und bleibt nichts weniger als ein Wunder!

Nun sagt sich das, als politisches Bekenntnis, ziemlich leicht dahin, manchmal vielleicht sogar zu leicht. Aber an jenem Tag vor zwei Jahren an Ihrer Universität war dieses Wunder für uns alle in diesem Amphitheater nicht nur politisch, sondern ganz persönlich, tief im Herzen, zu spüren. Morgen beim Empfang im Konvent der Borromäerinnen treffe ich, wie schon oft zuvor, einige der vielen hundert jungen Deutschen, die ein Lebensjahr hier verbringen und die sich mit vielen jüdischen Israelis und mit arabischen Israelis angefreundet haben. Und damals vor zwei Jahren traf ich unter den Absolventen Ihrer Universität junge Israelis, die mir mit leuchtenden Augen von ihren Studienaufenthalten in Deutschland berichteten – oder ehrlicherweise von den Biergärten in München und den Technoclubs in Berlin. Und zugleich saßen im Publikum ihre stolzen Großeltern. Nicht wenige von ihnen hatten die Schrecken der Schoah am eigenen Leibe erlebt und dennoch empfingen sie an diesem Festtag ihrer Enkel den Gast aus Deutschland mit offenen Armen. Ja, an diesem Tag, da war das Wunder der deutsch-israelischen Freundschaft hier auf dem Skopusberg mit Händen zu greifen.

Liebe Studierende: Dieses Wunder lasst uns pflegen – in der Politik natürlich, aber genauso sehr in den Herzen der Menschen, in Reisen, Projekten und Freundschaften, die gerade in Ihrer Generation so wunderbar zahlreich geworden sind!

Leider war der 31. Mai 2015 aber auch der Tag, an dem ich Shimon Peres zum letzten Mal gesehen habe. Heute Morgen haben meine Frau Elke und ich, in Trauer und in Dankbarkeit, sein Grab besucht. Liebe Familie Peres, Ihnen fehlt, wie könnte es anders sein, der Mensch Shimon Peres besonders. Doch seine Klugheit und Freundschaft und auch seinen Humor vermissen auch wir in Deutschland. Seine Verdienste um Frieden und Verständigung, im Nahen Osten wie weltweit, werden wir nie vergessen. Jedes meiner Gespräche, die ich mit Shimon Peres führen durfte, hat mich bereichert – und gerade unsere letzte Begegnung hier an Ihrer Universität bleibt mir unvergessen: diese unnachahmliche Art und Weise, wie er mit der Kraft seiner Persönlichkeit und der Summe seiner Lebenserfahrung die Jungen in den Bann gezogen hat.

Nach seinem Tod habe ich mich gefragt: Wie können wir als Deutsche seine kluge, optimistische Sicht auf die Zukunft bewahren und weitertragen? Im deutschen Außenministerium wurde an diesem Gedanken weitergearbeitet, und so kann ich heute voller Freude einen Preis ankündigen, dessen Namenspatron Shimon Peres sein soll. Mit dem Shimon Peres-Gedächtnispreis werden wir künftig junge Israelis und Deutsche auszeichnen, die an Themen arbeiten, die für Israel und Deutschland in gleicher Weise relevant sind, von Ideen zur Friedenserhaltung über Fragen der demografischen Veränderung, bis hin zu den Folgen von Klimawandel oder Digitalisierung. Die Botschaft heißt – ganz in Shimon Peres‘ Sinne: Wir wollen eine gemeinsame Zukunft, also lasst uns gemeinsam dafür arbeiten! Im Herbst werden wir den Preis zum ersten Mal vergeben. Liebe Tsvia Peres: Wie schön, dass wir seinen Namen in dieser Weise ehren können. Und ich bin sicher – niemand hätte sich so sehr gefreut wie er, wenn in seinem Namen junge Deutsche und Israelis gemeinsam die Zukunft in die Hand nehmen. Sie alle werden hoffentlich dazu gehören!

Liebe Studierende,

ich beginne meine Rede mit Shimon Peres nicht nur, um an einen Tag im Mai vor zwei Jahren an Ihrer Universität zu erinnern – sondern weil die Zukunft der Demokratie, über die ich heute mit Ihnen reden will, auch sein Thema war. In einer seiner unzähligen Schriften bin ich auf einen Satz gestoßen, an dem ich hängen geblieben bin:

Demokratie, sagt er, ist Harmonie von Gegensätzen. Sie beruht auf zwei Grundrechten: dem Recht auf Gleichheit und dem Recht auf Verschiedenheit.

So kurz hätte es kein deutscher Politikwissenschaftler formulieren können, aber vielleicht hat Peres gerade in der lakonischen Beschreibung den augenblicklichen Kern vieler Sorgen in den Gesellschaften des Westens erfasst. Heute fragen sich viele Menschen in meinem Land, nicht anders als in Ihrem Land: Welche Gleichheit hält unsere Gesellschaft eigentlich zusammen? Und – vielleicht noch drängender: Wie viel Verschiedenheit hält unsere Gesellschaft aus?

Die Harmonie, von der Peres spricht, ist in Wahrheit ein schwieriger Balanceakt. Demokratie ist beileibe kein Naturzustand. Sie ist nirgendwo auf der Welt vom Himmel gefallen – nicht in Israel und erst recht nicht in Deutschland.

Ich habe über das Wunder der deutsch-israelischen Annäherung gesprochen – darüber, wie wenig selbstverständlich, vor dem Spiegel der Geschichte, diese Freundschaft ist, auch wenn sie uns in der Gegenwart heute fast alltäglich vorkommt. Nun gibt es noch ein Zweites, das nicht selbstverständlich ist – und das wir auch mit Fug und Recht ein Wunder nennen dürfen: Das ist das Wunder einer geglückten Demokratie. Als geglückte Demokratien sehe ich unsere beiden Länder und als solche wünsche ich sie mir auch in der Zukunft. Und doch zeigt ein kurzer Blick in unsere Geschichte, wie wenig selbstverständlich das Entstehen und das Gelingen von Demokratie eigentlich ist.

Israel hat seine Demokratie einer feindlich gesinnten Umgebung geradezu abgetrotzt. 2017 erinnert sich Israel an gleich mehrere Wegmarken:

1897 – vor 120 Jahren – kam in Basel der erste Zionistische Kongress zusammen. Theodor Herzls politische Vision stieß auf enorme Widerstände – sogar auf eine Menge Spott. Die Geschichte aber sollte ihm Recht geben. Es war sein überlebensgroßes Porträtbild, vor dem David Ben Gurion später den Staat Israel ausrief.

1917 – vor 100 Jahren – erklärte der britische Außenminister Balfour – er war übrigens auch bei der Eröffnungsfeier Ihrer Universität dabei –, seine Regierung werde die Schaffung einer nationalen Heimstätte in Palästina für das jüdische Volk unterstützen.

Diese Formulierung wurde zu einer wichtigen Grundlage für die Resolution, mit der die Vollversammlung der Vereinten Nationen 1947 – also vor siebzig Jahren – die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat beschloss.

Vor einem halben Jahrhundert dann, 1967, begann nach dem Sechs-Tage-Krieg die israelische Besatzung palästinensischer Gebiete – zweifellos eine Zäsur in der Geschichte Israels, die bis heute, nach vielen gescheiterten Versuchen einer Lösung, tiefe Spuren in der politischen Landschaft Israels und auch im Zusammenleben von Israelis hinterlassen hat.

Das sind die Jahresringe der israelischen Demokratie, die man hier in diesem Gedenkjahr vielleicht auch neu betrachtet.

Und in Deutschland? Der lange Weg nach Westen, den es im Laufe seiner neueren Geschichte zurückgelegt hat, verlief über Umwege und Irrwege. Am Ende kam mein Land zur Demokratie. Doch es gelang erst im dritten Anlauf.

Die liberalen Revolutionäre von 1848 wollten Demokratie, Freiheit und die nationale Einheit.

Obwohl sie scheiterten, legten sie Grundsteine, auf welchen die Weimarer Demokratie 1918 aufbauen konnte. Doch auch sie war anfällig, angefochten vom ersten Tag, und sie führte nach nur 14 Jahren direkt hinein in den tiefsten Abgrund der deutschen Geschichte.

1949 wurde mit der Gründung der Bundesrepublik zumindest ein Teil Deutschlands demokratisch, während im östlichen Teil auch nach dem Ende der NS-Diktatur Freiheit fehlte. 1990 schließlich wurde ganz Deutschland demokratisch – zu unserem großen Glück.

Aber dieses Glück kam nicht von selbst. Uns Deutschen ist bewusst, dass wir unsere Demokratie nach dem Krieg weniger errungen haben – als dass sie uns ermöglicht worden ist. Wir wurden Teil des Westens, weil die ehemaligen Kriegsgegner uns in ihre Gemeinschaft aufgenommen haben. Und wir konnten in dieser Gemeinschaft, trotz unserer historischen Schuld, erst wirklich ankommen, weil es mutige Menschen in Israel gab, die die Vergangenheit nicht vergessen, aber überwinden wollten, und uns Deutsche als Partner akzeptiert haben. Deutschland wäre heute nicht dasselbe ohne die ausgestreckte Hand unserer israelischen Freunde damals.

Das Wunder dieser Freundschaft zu bewahren, ist für uns Deutsche unverbrüchliche Aufgabe. Deshalb stand für mich fest, dass meine erste Reise als Bundespräsident außerhalb Europas hierher nach Israel führen sollte. Daran haben auch die Ereignisse der vergangenen beiden Wochen, über die viel diskutiert worden ist, nichts geändert – im Gegenteil: Die Diskussionen haben mich bestärkt in meiner Absicht, hier in Israel mit Ihnen über die Demokratie zu sprechen. Denn die Demokratie war für unsere beiden Länder niemals selbstverständlich und sie ist auch heute weder fertig noch auf ewig gesichert.

Gerade weil Deutschland und Israel auf so unterschiedlichen Pfaden zur Demokratie gefunden haben, blicken wir Deutsche mit großem Respekt auf den Weg der israelischen Demokratie.

Werfen wir doch einmal einen Blick auf den Anfang zurück: Obwohl dieser jüdische Staat von Anfang an äußeren Bedrohungen ausgesetzt war, war die Demokratie in Israel vom ersten Tag an quicklebendig. Das ist nicht zuletzt dem großen Ben Gurion zu verdanken, der um den Wert des Kompromisses wusste; der wusste, dass Israel stark sein muss, aber auch Partner braucht – Partner, die Israels Lage und seinen politischen Weg, erstens verstehen und zweitens, ihm zur Seite stehen.

Die Lage der Bundesrepublik dagegen war unvergleichlich anders: Keine Umgebung, die unserem Land feindlich gegenüber stand, vielmehr eine Nachbarschaft, die Demokratie in Deutschland wollte. Bei uns waren es eher die inneren Verhältnisse der jungen Bundesrepublik, in der die Demokratie erst noch laufen lernen musste. Es dauerte, bis die Seilschaften und die Denkmuster der Diktatur verschwanden und auch die schonungslose Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nazizeit einsetzte – ich bin alt genug, mich an die schmerzhaften Fragen zu erinnern, die wir unseren Eltern und Großeltern stellen mussten, aber die eine anfänglich tastende, später intensiver werdende Annäherung an Ihr Land erst möglich machten.

Auch heute blicke ich mit Hochachtung auf die Leistungen der israelischen Demokratie. Manches ist in Israel sicher besser gelungen als bei uns in Deutschland. Ich denke zum Beispiel an das Thema Integration: Israel hat Millionen Einwanderer in seine Demokratie integriert, die aus nicht-demokratischen Ländern stammten, ob aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion oder aus arabischen und afrikanischen Ländern.

Ich finde es beispielhaft, wie dieser junge Staat es geschafft hat, seinen Einwanderern die Prinzipien und Werte der Demokratie zu vermitteln – und übrigens auch die Sprache. Voller Staunen bin ich in den Straßen von Tel Aviv an einigen Ulpanim vorbei gelaufen, habe darin Junge und Alte aus aller Welt sitzen sehen und mir im Stillen gedacht: Ob ich das in meinem Alter wohl könnte? Denn ähnlich wie das Deutschlernen ist auch Hebräischlernen nicht gerade ein Zuckerschlecken.

Noch etwas möchte ich hervorheben: Seit vielen Jahrzehnten lebt die israelische Demokratie inmitten der permanenten Bedrohung des Terrorismus. In den vergangenen Jahren hat uns der islamistische Terrorismus auch in Deutschland, Frankreich, Belgien, mitten in Europa heimgesucht. Die Bedrohungslage ist gewachsen – und konfrontiert uns in Europa mit schwierigen Fragen, die man in Israel lange kennt: Was, zum Beispiel, ist die rechte Balance zwischen Freiheit und Sicherheit? Wie viel Überwachung bei gleichzeitiger Wahrung der Persönlichkeitsrechte darf sein oder muss sein? Israel ist länger und sehr viel härter geprüft worden als wir Europäer, aber ich weiß aus eigenen Gesprächen: Auch hier in Israel hat man sich die Antworten nie leicht gemacht. Wieder denke ich an Shimon Peres; oder an Jitzchak Rabin und an ihren Umgang mit dem Terrorismus in den 1990er Jahren. Wir Europäer erfahren heute, dass es in diesen Fragen kein einfaches Richtig oder Falsch gibt, aber wir schauen nach Israel und stellen fest: Trotz der Bedrohungen von Krieg und Terror ist die israelische Demokratie lebendig und selbstbewusst geblieben. Das sehen Europäer heute vielleicht mit mehr Wertschätzung als noch vor Jahren.

Ich habe mich gefragt: Was macht die israelische Demokratie eigentlich so stark und lebendig? Am Ende, wenn ich an meine vielen Freundschaften mit Israelis denke, an die unzähligen durchwachten Nächte voller hitziger Debatten, dann liegt in meinen Augen der vitale Kern der israelischen Demokratie in ihrem Widerspruchsgeist – in ihrer Leidenschaft am demokratischen Streit!

Dafür gibt es auf den ersten Blick viele institutionelle Belege:

• Nicht nur ist die Beteiligung an Wahlen und am demokratischen Prozess in Israel ein gutes Stück höher als etwa in Deutschland und anderen europäischen Staaten,
• nicht nur hat Israel mit Justiz und Oberstem Gerichtshof einen unbeugsamen Verteidiger der Freiheitsrechte des Einzelnen,
• und nicht nur verfügt Israel über eine ungemein vielfältige Presselandschaft, die sich mit weit größeren Demokratien messen lassen kann. Wenn Sie als deutscher Tourist nach Tel Aviv kommen und in die Stadt hineinfahren, dann läuft im Taxi selten Musik – sondern meistens politisches Radio. Und spätestens bis zur Autobahnauffahrt hat Ihr Taxifahrer sie in eine hitzige politische Diskussion verwickelt.

Wenn ich an meine Freunde und meine Begegnungen in Israel denke, dann reicht dieser Widerspruchsgeist, diese Leidenschaft tief hinein in die jüdische Kultur und Religion, bis hinein ins Talmud-Studium, wo jedes Wort von allen erdenklichen Seiten ausgeleuchtet wird. Ich muss an die Geschichte denken, die mir ein israelischer Freund schon vor langer Zeit erzählt hat: Ein verschollener Israeli wird nach 20 Jahren von einer einsamen Insel gerettet. Es kommen Presseleute vor Ort, und berichten staunend über den Verschollenen. Mit noch mehr Staunen sehen sie drei Hütten, die der Mann eigenhändig nur aus Sand, Palmenzweigen, und Kokosnüssen erbaut hat – und sie fragen ihn: Was ist das? Er sagt: Das ist mein Haus. Und diese Hütte da? Das ist die Synagoge, in die ich gehe. Und die dritte Hütte? Das ist die Synagoge, in die ich niemals gehe!

In der jüdischen Kultur, so sagte mein Freund, streitet man mit niemandem so gern und leidenschaftlich wie mit Familie und Freunden. Und genau so, als Freunde nämlich, wollen wir Deutsche am Streit teilnehmen! Und wir hoffen, dass wir Ihnen als streitwürdig gelten.

Streitwürdige Fragen an unsere Demokratien gibt es ja genug. Anfechtung von Demokratie erleben wir heutzutage nicht nur in Deutschland und in Israel, sondern in vielen Staaten der Europäischen Union, und ganz gewiss bei unserem großen Partner in Übersee. Es geht inzwischen wieder ums Grundsätzliche, es geht um das normative Fundament des Westens. Und Sie wissen vermutlich, dass wir darüber auch innerhalb der Europäischen Union sehr intensive Debatten führen.

Weil wir Deutsche die Vielfalt der Demokratie in Israel kennen und bewundern, wollen wir auch weiterhin die schwierigen Fragen mit möglichst vielen unterschiedlichen Gruppen in Ihrem Land besprechen und möglichst viele unterschiedliche Sichtweisen kennenlernen – so wie wir das doch über Jahrzehnte im Vertrauen zueinander gehalten haben.

Ich rate uns: Lasst uns über die Anfechtungen von Demokratie ehrlich und ohne Sprechverbote miteinander reden. Meine Erfahrung ist jedenfalls: Sprechverbote helfen nicht beim Verstehen, und sie schaffen kein Verständnis.

Denn am Ende sitzen wir im selben Boot: Wir sind Demokraten und als Demokraten wollen wir unter Beweis stellen, dass die anderen – die Autokraten, die Totalitären, die selbst ernannten starken Männer, die die Mühen und Anstrengungen der Demokratie schlechtreden, die den Wert von Kompromissen nicht kennen, und die mit den ganz einfachen, den brachialen Antworten daherkommen –, dass diese Leute eben nicht die besseren Antworten haben!

Und warum glaube ich das? Weil Demokratie die Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbstkorrektur hat – bei Autokraten gibt es das nicht. Demokratie ist die einzige Staatsform, die ein größtmögliches Spektrum von Gesellschaft integriert, die die Mächtigen hinterfragt, die – häufig genug – Irrwege als Irrwege erkennt und neue Wege möglich macht.

Ich habe einige Streitfragen mitgebracht, die mich als deutscher Bundespräsident umtreiben und die ich gern mit Ihnen diskutieren will:

Die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit zum Beispiel: Wie erhalten wir ethische Standards, die das Oben und Unten in einer Gesellschaft zusammenhalten? Wie verhindern wir, dass Menschen sich vom Gemeinwesen abgehängt fühlen und sagen: Demokratie hilft ja scheinbar nur denen da oben.

Oder der Verlust politischer Vernunft, den wir ganz besonders in den sozialen Medien beobachten: wenn die Unterscheidung von Fakt und Lüge zurücktritt hinter gefühlte Wahrheiten, wenn im öffentlichen Diskurs Lüge neben Wahrheit, wenn Hass und Vorurteil neben Sachkenntnis und Neugier gleichwertig nebeneinander stehen, dann steht das Funktionieren von Demokratie in Frage. Und dann öffnet das Tür und Tor für diejenigen, die ihre eigenen Machtinteressen durchsetzen, indem sie den kritischen Geist der Universitäten, der Medien und der Zivilgesellschaft in Misskredit bringen. Und wo die Freiheit der Wissenschaft eingeschränkt wird – das ist unsere mehrfache bittere Erfahrung in Deutschland –, ist der Weg zur Einschränkung anderer Freiheiten nicht mehr weit.

Und drittens schließlich müssen wir über die Polarisierung in unseren Gesellschaften reden. Ein israelischer Freund sagte kürzlich zu mir: Wo früher Links und Rechts leidenschaftlich miteinander gestritten haben, stehen sich heute Freund und Feind unversöhnlich gegenüber – eine Entwicklung, die ich auch in europäischen Demokratien in gleicher Weise beobachte. Die Polarisierung in unseren Gesellschaften nimmt in beunruhigender Weise zu. Manche der Gründe dafür mögen in unseren beiden Ländern ähnlich sein. Vieles aber ist unvergleichbar, wenn ich auf die Gesamtlage hier im Nahen Osten schaue und die Folgen einer dauerhaft angespannten Sicherheitslage hier in Israel. Natürlich beeinflussen auch die Spuren von Besatzung, die ich erwähnt habe, der Stillstand im Friedensprozess und nicht zuletzt die völkerrechtswidrigen Siedlungsaktivitäten die Spannungen – nicht nur gegenüber den Palästinensern, sondern auch innerhalb der eigenen israelischen Gesellschaft. Sie kennen unsere deutsche Haltung hierzu, die gemeinsame Position aller in der Regierung vertretenen politischen Kräfte ist. Ich will nur eines hinzufügen: Gerade weil wir auch die Demokratie im Blick haben, werben wir Deutsche für eine Zwei-Staaten-Lösung. Wenn ich ein paar Jahre vorausdenke, dann hat Israel nach meiner Überzeugung nur in einer Zwei-Staaten-Lösung eine Zukunft als jüdischer und demokratischer Staat. Und diesen Weg wollen wir gerne von unserer Seite weiter unterstützen.

Ich bin dankbar, dass Deutsche und Israelis heute solche Fragen miteinander diskutieren können. Fragen, die wehtun – nicht nur die Fragen über unsere schmerzhafte Vergangenheit, sondern auch die schwierigen Fragen der Gegenwart.

Nun fragen Sie mich vielleicht: Was ist denn Ihre Antwort auf diese Fragen?

Und Sie haben ganz recht: Auch in Deutschland müssen wir uns Fragen stellen, die wehtun. Auch davon habe ich Ihnen einige mitgebracht: Müssen wir es ertragen, wenn Populisten in ihren Reden völkisches und rassistisches Gedankengut aus unheilvollen Tagen wieder aufkochen? Müssen wir uns daran gewöhnen, dass Synagogen in unserem Land immer noch von Polizei bewacht werden müssen? Müssen wir akzeptieren, dass Menschen, die aus der muslimisch geprägten Welt zu uns kommen, auch ihre Feindbilder importieren? Oder müssen wir es ertragen, wenn eine für die Demokratie lebenswichtige Berufsgruppe mit dem Schlachtruf Lügenpresse bedacht wird? Meine Antwort auf alle diese Fragen ist: Nein, ganz gewiss nicht. Weder dürfen wir uns an all das gewöhnen, es als normal empfinden, noch dürfen wir es hinnehmen.

Im Zweifel gilt in der Demokratie: Vielfalt aushalten. Aber es gibt Grenzen. Demokratie heißt Herrschaft der Mehrheit, aber auch Schutz von Minderheiten. In einigen westlichen Demokratien, leider auch in meinem Land, gibt es heute populistische Kräfte, die für sich in Anspruch nehmen, die wahre Stimme des wahren Volkes zu sein – und alle anderen seien Lügner oder Eindringlinge oder Verräter. Für mich steht fest: Wer die Pluralität von Gesellschaft ablehnt, und wer anderen ihren legitimen Platz abspricht, stellt sich selbst ins Abseits.

Demokratie heißt Herrschaft des Volkes. Aber das Volk gibt es nur im Plural. Das Volk hat viele Stimmen – Vielstimmigkeit ist der Sauerstoff von Demokratie! Und deshalb finde ich: Wer seine Stimme erhebt, wer Kritik übt, aber zugleich die Stimmen der anderen respektiert – der ist kein Volksverräter sondern eigentlich ein Volksbewahrer.

Deshalb verdienen in meinen Augen zivilgesellschaftliche Organisationen, die Teil einer gesellschaftlichen Debatte sind, unseren Respekt als Demokraten; und zwar, das ist in Deutschland nicht anders, auch dann, wenn sie einer Regierung kritisch gegenüber stehen.

Sie alle wissen, dass es zu der Frage, wer legitime Gesprächspartner sind, zwischen der deutschen und israelischen Regierung in den letzten Tagen unterschiedliche Auffassungen gab. Ich habe lange darüber nachgedacht, was das auch für meinen heutigen Besuch in Israel bedeutet. Es gab nicht wenige Stimmen, die mir nahegelegen wollten, dass jetzt der falsche Zeitpunkt für eine Reise nach Israel sei. Mindestens Verschiebung, wenn nicht Absage, schien für einige die eher angemessene Haltung zu sein.

Für mich wäre das vielleicht sogar die einfachere Lösung gewesen. Ich habe anders entschieden. Nicht, weil ich die Ausladung des deutschen Außenministers durch Ihren Ministerpräsidenten richtig finde. Sondern weil ich glaube: es entspräche nicht meiner Verantwortung, die Beziehungen unserer beiden Staaten tiefer in eine Sackgasse geraten zu lassen, an deren Ende alle Seiten viel verloren hätten. Unsere beiden Länder sind durch eine grausame Vergangenheit miteinander verbunden. Generationen vor uns – nicht nur Politiker – haben dafür gearbeitet, die Gräben der Vergangenheit zu überwinden und – politisch, kulturell, wirtschaftlich, menschlich – neue Bindungen zwischen unseren Völkern zu knüpfen. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel werden immer besondere bleiben. Das dürfen wir gerade dann nicht vergessen, wenn es schwierig ist und der Wind etwas rauer weht. Gerade dann bleiben wir gefordert, dieses kostbare Erbe zu bewahren, gerade dann darf uns diese auf den Trümmern der Vergangenheit gebaute Freundschaft nicht gleichgültig oder weniger wichtig werden. Was auch immer geschieht – niemals darf Sprachlosigkeit zwischen Deutschland und Israel einkehren! Das ist meine Verantwortung als Bundespräsident, und das sagt mir auch mein Herz. Deshalb bin ich hier.

Davon abgesehen: Zuhause zu bleiben hätte ich auch nicht als besonders mutig empfunden. Mutig ist es aus meiner Sicht nie, sich im Konflikt in die Schmollecke zurückzuziehen und das Gegenüber auf Distanz zu halten. Das ist meine Erfahrung aus vielen Jahren Außenpolitik, aber sie gilt, glaube ich, weit darüber hinaus: Das direkte Gespräch miteinander mag mitunter schwieriger sein als der Verzicht darauf. Irritationen beseitigen, Missverständnisse aufklären, neues Vertrauen aufbauen – all das kann nur gelingen, wenn der Dialog nicht abbricht. Deshalb ist meine Überzeugung: Das Gespräch zu suchen ist besser als das Gespräch zu verweigern.

Wie die israelische Gesellschaft mit dem Recht auf Verschiedenheit umgeht, von dem Shimon Peres gesprochen hat, dazu habe ich als deutscher Bundespräsident anderen Demokratien keine Ratschläge zu geben. Ich kann nur sagen: Ich bewundere die israelische Demokratie dafür, wie sie jahrzehntelang den Bedrohungen von außen mit stolzer Vielfalt getrotzt hat. Und deshalb bin ich zuversichtlich, dass sie diese stolze Vielfalt auch im Inneren bewahren wird.

Am Ende strahlt unser eigenes Handeln auch hinaus auf die noch größeren Fragen unserer Zeit. Die Welt da draußen verändert sich rasant – manchmal schneller, als wir gucken können. Neue Mächte streben empor, es herrscht ein Ringen um die zukünftige Ordnung der Welt. Die liberale Demokratie wird herausgefordert durch neue Kräfte des Autoritären und des Fanatismus. Und diese Neuordnung der Welt erzeugt mehr Unfrieden, mehr Gewalt und mehr Konflikte, als ich das in meiner eigenen Biographie je erfahren habe.

Ich verstehe jeden jungen Menschen, jeden von Ihnen, der fragt: Wie soll ich mich orientieren in dieser unübersichtlichen Welt?

Ich frage zurück: Kennt nicht jeder von uns Momente, in denen man einfach spürt, wo man hingehört? Momente wie, wenn nach einem Tag im Wind auf hoher See, der Anker in den Grund fährt. Ich persönlich habe das heute Morgen erlebt. Da war ich – nicht zum ersten Mal, aber zum ersten Mal als deutsches Staatsoberhaupt – in Yad Vashem. Als der Kantor vom Leid der Juden gesungen hat, da war das für mich so ein Moment der Verankerung. Der Anker heißt: Nie wieder! Der Anker heißt: Deutschlands Verantwortung für die Sicherheit Israels. Und der Anker heißt: Widerstand gegen jede Form von Antisemitismus und Rassismus!

Ich kann nur hoffen, dass auch Sie in der Geschichte unserer beiden Länder ein Stück Orientierung finden. Also, wenn Sie manchmal daran zweifeln sollten, ob Demokratie und Menschenrechte und friedliches Zusammenleben in dieser Welt überhaupt noch eine Zukunft haben, dann schauen Sie auf die Geschichte von Israel und Deutschland!

Ich gebe zu: Politische Wunder sind selten. Und wo sie passieren, sind sie nicht vom Himmel gefallen, sondern von mutigen Menschen gemacht. Also warten Sie nicht auf Wunder – sondern arbeiten Sie dafür, dass Sie wahr werden. Nicht weniger hätte Shimon Peres Ihnen zugetraut – und ich tue das auch.