Jahresempfang der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 17. Mai 2017

Der Bundespräsident hat am 17. Mai beim Jahresempfang der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen eine Ansprache gehalten: "Berührungsängste und Vorurteile verschwinden nur, wenn Menschen mit und ohne Behinderung sich begegnen. Wenn möglichst viele bei der Inklusion mitmachen und selbst erleben, dass Offenheit und Toleranz zu einem besseren Miteinander führen, einem besseren Miteinander, von dem am Ende alle etwas haben."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache beim Jahresempfang der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen im Café Moskau in Berlin

Ich freue mich wirklich riesig, an diesem schönen sonnigen Nachmittag heute bei Ihnen zu sein, und bedanke mich ganz herzlich für die Einladung und für das ebenso herzliche Willkommen. Hier in der Karl-Marx-Allee, der alten Prachtstraße des realen Sozialismus, da muss man an Revolutionäres denken und wenn wir uns nur drei oder vier Jahrzehnte zurückversetzen, ich glaube, das wofür Sie stehen, das hätte man damals als revolutionär, als unrealistisch beschrieben. Das Ziel einer Gesellschaft, in der jeder Mensch, mit oder ohne Behinderung, nicht nur gleiche Rechte, sondern auch gleiche Chancen hat und überall dabei sein kann – in der Schule, am Arbeitsplatz, im Wohnviertel und in der Freizeit. Aber Sie alle wissen auch: Ein solcher gesellschaftlicher Wandel lässt sich eben nicht durch Revolution von heute auf morgen verwirklichen, sondern nur durch das, was Sie alle zeigen, beharrliches Engagement und schrittweises Vorwärtsgehen.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie wir in Deutschland kurz nach der Jahrtausendwende am Beginn des letzten Jahrzehnts um das Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen gerungen haben. Ich war damals Chef des Bundeskanzleramts und konnte miterleben, mit welcher Leidenschaft, mit wie viel Aufwand an Zeit und Kraft der damalige Behindertenbeauftragte Karl Hermann Haack, und viele andere wie Ulla Schmidt, Ulrike Mascher, damals an diesem Entwurf gearbeitet haben. Der politische Prozess war dann mühsam, auch das erinnere ich. Es gab Widerstände und Abstriche und selbstverständlich, wie das so ist in Gesetzgebungsprozessen, es gingen nicht alle Wünsche in Erfüllung. Aber am Ende stand ein Ergebnis, das von wirklich allen Parteien im Deutschen Bundestag getragen wurde – und am 1. Mai 2002 konnte ein Gesetz in Kraft treten, das längst nicht alle, aber doch einige und wichtige Barrieren in unserem Land beseitigt hat.

Das war damals ein großer Schritt, aber aus heutiger Sicht eben doch nur ein Zwischenschritt auf dem langen Weg zur Verwirklichung des Grundrechts, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Einer von vielen Zwischenschritten, die Mut machen, weil sie zeigen, dass unsere Gesellschaft entgegen manchem Verdacht eben doch bereit ist zu Veränderungen, die Verbesserungen bedeuten.

Und gerade hat die Politik einen weiteren Schritt getan: Im vergangenen Jahr ist die Novelle dieses Gesetzes verabschiedet worden und am Jahresende das Bundesteilhabegesetz. Ich weiß, liebe Frau Bentele, auch diesmal sind nicht alle zufrieden mit dem Ergebnis des demokratischen Ringens. Sie selbst haben auch Kritik geübt, aber auch Erfolge anerkannt, und Sie haben einen wirklich schönen Satz geprägt, der da lautet: Nach der Reform ist vor der Reform. Genau das ist die Haltung, die wir brauchen.

Liebe Verena Bentele, dieses Beispiel ist nur eines von vielen, das zeigt, wie selbstbewusst und unermüdlich gerade Sie sich einsetzen für eine Gesellschaft, in der es eigentlich normal sein sollte, verschieden zu sein. Vor Ihrem Elan, Ihrer Ausdauer und Ihrer Zuversicht habe ich persönlich, das wissen Sie, ganz, ganz großen Respekt. Mein Vorgänger im Amt hat einmal gesagt: Sympathische Vorbilder helfen uns, eine breite Öffentlichkeit für die Inklusion zu gewinnen, und ich finde, Sie sind so ein Vorbild, und ich danke Ihnen für Ihr großes Engagement.

Wie viel sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten verändert hat, das habe ich am Ostermontag zuletzt erlebt, als ich zum 150. Jubiläum zu Besuch in Bethel war. Bethel hat eine gewissermaßen exemplarische Geschichte mit hellen und dunklen Kapiteln. Die bedrückende Situation von Behinderten, auch in öffentlichen Anstalten, selbst in christlichen Einrichtungen, war, das wissen die meisten hier, lange nicht aufgearbeitet.

Aber ich habe auch anderes gesehen. Mir ist zum Beispiel dort ein ganz beeindruckendes junges Paar begegnet, das ein wirklich erfülltes, selbstbestimmtes Leben mitten in unserer Gesellschaft führt. Beide wohnen in Bielefeld – die Frau in einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft, der Mann in einer eigenen Wohnung. Beide gehen arbeiten – sie in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen, er in einer archäologischen Einrichtung des Landschaftsverbands. Und beide gehen in ihrer Freizeit gerne tanzen, auch gemeinsam mit Menschen, die ohne Behinderung leben.

Ich nenne dieses Beispiel stellvertretend für viele – aber ein Beispiel wie dieses, auch das macht Mut. Daneben gibt es gleichzeitig eben noch eine ganz andere Realität: Für viele Menschen mit Behinderung ist der Weg in ein selbstbestimmtes Leben, ich weiß das, nach wie vor schwer. Noch immer werden Behinderte im Alltag diskriminiert, noch immer gibt es viele, ich würde sagen zu viele Barrieren, das zeigt auch der jüngste Teilhabebericht der Bundesregierung. Dabei gilt oft: Mehr Lebenskomfort und Chancengleichheit kosten nicht unbedingt mehr Geld. Manchmal würde schon eine kleine Rampe oder eine Speisekarte in Brailleschrift eine große Veränderung bedeuten.

Ich könnte jetzt hier einen Bewusstseinswandel einfordern und sagen, dass wir auch die Barrieren in den Köpfen beseitigen müssen. Aber wir wissen: So etwas lässt sich eben nicht einfach verordnen und auch nicht mit Appellen herbeireden. Berührungsängste und Vorurteile verschwinden nur, wenn Menschen mit und ohne Behinderung sich begegnen. Wenn möglichst viele bei der Inklusion mitmachen und selbst erleben, dass Offenheit und Toleranz zu einem besseren Miteinander führen, einem besseren Miteinander, von dem am Ende alle etwas haben.

Deshalb ist es wichtig, dass wir klarmachen: Inklusion ist, trotz dieses etwas sperrigen Begriffs, eben kein Thema nur für Experten. Jede und jeder kann in seinem Umfeld einen Beitrag leisten. Und es ist wichtig, dass wir vor allen Dingen mehr über gelungene Inklusion reden. Natürlich gibt es Probleme, Spannungen und Konflikte. Wie soll das auch anders sein bei einem so großen und komplexen Thema? Aber wir dürfen eben nicht zulassen, das ist meine Bitte, dass wenn das Thema schwierig ist, alles, was gelingt, noch mit schlechtgeredet wird.

Ich habe von einer Lehrerin aus Hamburg gelesen, die sagt: Ich höre von anderen Schulen oft, dass Inklusion dort ungefähr so beliebt ist wie die Steuererklärung. Diese Lehrerin, die ich meine, die findet das tragisch. Denn sie erlebt an ihrer Schule seit vielen Jahren, wie viel Spaß der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderungen macht. Aber viel Arbeit eben auch.

Zur Aufklärung über Inklusion gehört auch, dass wir entschieden einem Missverständnis entgegentreten: Wer gleiche Rechte und gleiche Chancen fordert, der redet damit nicht der Gleichmacherei das Wort. Menschen mit Behinderungen sind so unterschiedlich wie Menschen ohne Behinderungen, sie leben auch so unterschiedlich und legen auch genauso viel Wert auf Anders-Sein. Es ist schön, dass wir die Vielfalt unserer Gesellschaft, wenn ich hier in diesen Saal gucke, auch heute Nachmittag hier im Café Moskau erleben können.

Aber bevor jetzt doch noch eine Revolution ausbricht, weil der Bundespräsident zu lange spricht, will ich gern zum Schluss kommen – und da bleibt eigentlich, ja da bleibt eigentlich nur noch eins, und das ist das Wichtigste: Allen, die der Inklusion Gesicht und Stimme geben, hier im Saal und im ganzen Land, allen, die sich beruflich oder ehrenamtlich für ein gleichberechtigtes Miteinander einsetzen, all denjenigen will ich von Herzen danken. Sie sind es, die Verantwortung leben und die Verständnis fördern. Sie bringen unsere Gesellschaft voran – und dafür herzlichen Dank.