Eröffnung der "Weltausstellung Reformation. Tore der Freiheit"

Schwerpunktthema: Rede

Wittenberg, , 20. Mai 2017

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 20. Mai zur Eröffnung der "Weltausstellung Reformation. Tore der Freiheit" eine Ansprache gehalten: "Reformation ist kein abgeschlossener Prozess, sondern zieht Spuren auch in unsere heutige Gesellschaft hinein, in unser Zusammenleben und unser Verständnis einer gerechten und menschenwürdigen Gesellschaft. Diese Kraft ist nicht erschöpft. Sie ist hochaktuell und geht uns an."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache auf dem Marktplatz in Wittenberg anlässlich der Eröffnung der 'Weltausstellung Reformation. Tore der Freiheit'

Das ist ein wunderbarer Blick von hier oben auf den Marktplatz, der so gut gefüllt ist. Und ich vermute, ganz viele Wittenberginnen und Wittenberger sind dabei. Einige von Ihnen haben vielleicht den Truck gesehen – ein Truck, der in Wittenberg heute Morgen eingetroffen ist und der im letzten November von Genf aufbrach und auf seinem Weg an über 60 europäischen Orten in 19 Ländern Station gemacht hat. Er hat Geschichten und Erfahrungen aus Regionen aller Himmelsrichtungen hierher nach Wittenberg gebracht. Reformation in umgekehrter Reihenfolge könnte man meinen. Was hier vor 500 Jahren begann, kehrt heute nach Wittenberg zurück.

Das Reformationsjubiläum war und ist nicht allein ein deutsches Ereignis. Es ist ein europäisches und – wie ich in der Berliner Ausstellung Der Luthereffekt eindrucksvoll gesehen habe, mit Beispielen aus Afrika und Asien – ein wirklich weltweites Ereignis. Viele ebenso kluge wie mutige Reformatoren haben Anteil daran, dass die Reformation weltweite Ausstrahlung und Wirkung entfalten konnte.

Aber nicht nur geografisch ist die Reformation über die deutschen und europäischen Grenzen hinaus gewachsen. Sie entfaltete auch Wirkung weit über den Bereich der Religion hinaus. Die Reformation hat unsere gesamte Geschichte, Kultur und Lebensweise über Jahrhunderte entweder direkt, aber mindestens indirekt beeinflusst. Und sie tut das bis heute. Denn Reformation ist kein abgeschlossener Prozess, sondern zieht Spuren auch in unsere heutige Gesellschaft hinein, in unser Zusammenleben und unser Verständnis einer gerechten und menschenwürdigen Gesellschaft.

Diese Kraft ist nicht erschöpft. Sie ist hochaktuell und geht uns an. Tore der Freiheit – das ist gleichzeitig der verheißungsvolle, aber auch mahnende Titel dieser Weltausstellung Reformation hier in Wittenberg – eine gute Wahl, wie ich finde. Denn die Bekenntnisfreiheit eines Christenmenschen, um die es im europäischen Aufbruch zur Neuzeit ging, diese Freiheit ist weiterzudenken zur Freiheit von Zwang und Unterdrückung, zur Freiheit in Verantwortung. Das ist Teil der ungeheuren Wirkungsgeschichte, die die Reformatoren ausgelöst haben.

Und auch das zählt zu den historischen Lehren der Reformation und ihren Folgen: Dass uns schließlich nur der Respekt vor Andersgläubigen aus dem Krieg der Konfessionen herausführt und dass der Mensch die Intoleranz und die Gewalt, die im Namen von Religion verübt wird, überwinden kann.

Von Wittenberg aus sprang der Funke der von Martin Luther ausgehenden reformatorischen Bewegung über in andere Länder. Es entstanden Zentren der Reformation in ganz Europa. Zürich, Straßburg und Genf waren vielleicht die wichtigsten. Doch die tatsächliche Vielschichtigkeit dieser Bewegung lässt sich nur erfassen, wenn man den Blick auf die vielen weiteren Orte lenkt, die von der Reformation erfasst wurden: Augsburg oder Edinburgh, Antwerpen oder Venedig, Kronstadt oder Kopenhagen, und viele andere mehr, haben ihre jeweils ganz eigene Geschichte zu erzählen. Die Reformation in Europa bestand aus vielen großen, manchmal auch nur ganz kleinen Anstößen – aber mit einer Leuchtkraft, die bis in die entferntesten Winkel unseres Planeten hinein strahlte. Ganz zu Recht wird gesagt – inzwischen ein fast geflügeltes Wort –, dass die Reformation über die Jahrhunderte zu einer wirklichen Weltbürgerin geworden ist. Deshalb lautete auch das Motto des letzten Themenjahres innerhalb der Reformationsdekade Reformation und die Eine Welt. Das 500. Reformationsjubiläum kann sich in einer Zeit der Globalisierung ohnehin nicht mehr nur auf die eigene oder die europäischen Nationen beziehen, sondern muss die Wirkungsgeschichte auf der ganzen Welt in den Blick nehmen. Die Weltausstellung Reformation tut genau das und erinnert uns zugleich an das, was uns heute unverändert angeht.

Reformation heißt auch, Verantwortung zu übernehmen und Zukunft zu gestalten. Sieben Tore der Freiheit um die Wittenberger Altstadt öffnen genau dafür den Blick. Sechzehn Wochen lang bietet die Weltausstellung ein informatives und abwechslungsreiches Programm an dem Ort, an dem vor 500 Jahren diese bedeutsame Veränderung der Welt ihren Ausgang nahm. Eingeladen sind alle, denen Religion, Kultur, Spiritualität, Gerechtigkeit, Frieden, Umweltschutz, Ökumene oder Jugend ein Anliegen ist oder die mindestens neugierig darauf sind. Die Themenwochen wollen Menschen zusammenbringen und Impulse geben für ein gelingendes Zusammenleben. Es geht um echte Begegnung: ökumenisch, interreligiös und international. Und ich hoffe, dass viele Menschen diesen Ort hier nutzen werden, um miteinander und voneinander zu lernen sowie auch Ideen für eine gemeinsame Zukunft hier zu erarbeiten und auszutauschen.

Dieses Engagement, die Begegnung, der Austausch, das alles ist heute wichtiger denn je für unser Zusammenleben, für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt und für unsere Demokratie. Und dafür möchte ich allen danken, die sich hier haupt- und ehrenamtlich beteiligen und in der Vorbereitung beteiligt haben. Danken möchte ich auch allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die die Ausstellung in den kommenden 16 Wochen hier zu einem lebendigen Ort des Austausches machen.

Nicht nur in Europa, sondern auch anderswo auf der Welt begegnen wir neuem Nationalismus, Abschottung und Ressentiments. Es scheint für einige – aus meiner Sicht für zu viele – wieder attraktiv zu sein, Tore zu schließen, anstatt Tore der Freiheit zu öffnen. Dem entgegen können wir die Erinnerung an einen hoffnungsvollen und mutigen Aufbruch zur Emanzipation des Menschen stellen, der mit der Reformation verbunden bleibt. Luther sagte, dass vor Gott die Gänsemagd dem König gleich sei. Und auch heute brauchen wir sie, die vielen großen und kleinen Reformationen, die mutig das Versprechen von Gleichheit und Respekt wiederbeleben, um aus Angst und Engherzigkeit herauszutreten in die Offenheit einer Welt, die veränderbar ist und die besser werden kann. Ich bin sicher, dass alle die, die an dieser Weltausstellung teilnehmen, die Reformation nicht bloß als historisches Ereignis erleben, sondern spüren werden, dass die Botschaft der Reformation mitten hinein in unsere Gegenwart gehört. Die Botschaft von Freiheit, Vielfalt und Gerechtigkeit war in der Geschichte nie unbestritten. Sie ist nie eine Selbstverständlichkeit gewesen. Sie behält Sprengkraft und ist für zu viele eine unerfüllte Verheißung geblieben. Ein Blick in die Welt zeigt: Die Botschaft der Reformation hat nichts von ihrer Aktualität verloren, ganz im Gegenteil.

Herzlichen Dank!