Eröffnung der Podiumsdiskussion "Ist die Vernunft noch zu retten? Verantwortliches Handeln in der Gegenwart" auf dem 36. Deutschen Evangelischen Kirchentag

Schwerpunktthema: Rede

Berlin, , 27. Mai 2017

Der Bundespräsident hat am 27. Mai bei der Podiumsdiskussion auf dem 36. Deutschen Evangelischen Kirchentag Berlin-Wittenberg eine Rede gehalten: "Wir können auch in der digitalisierten Welt nicht auf Vernunft verzichten. Wir können nicht auf den produktiven Zweifel verzichten, der der Suche nach besseren Lösungen immer voraus geht. Wer Fakten, wer wissenschaftliche Forschungsergebnisse für irrelevant erklärt, macht die ernsthafte Debatte über Zukunft unmöglich."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine  Rede zum Thema 'Ist die Vernunft noch zu retten? Verantwortliches Handeln in der Gegenwart' bei der  Podiumsdiskussion auf dem 36. Deutschen Evangelischen Kirchentag Berlin-Wittenberg

Haben Sie das eigentlich gewusst?

Die Mondlandung hat nie stattgefunden; die ist gefilmt worden in Hollywood-Studios.

Der Klimawandel ist keinesfalls durch Menschen verursacht.

Die Kondensstreifen von Flugzeugen sind in Wirklichkeit Chemikalien, mit denen uns die Regierung langsam vergiften will.

AIDS bekommt man nicht durch Ansteckung und wird am besten mit Vitamintabletten bekämpft.

Die Evolutionslehre ist Gotteslästerung und hat in Schulen nichts zu suchen!

Liebe Freunde, diese Litanei des alten und neuen Unsinns könnte man beliebig verlängern. Als wäre Bildung und Wissen, als wäre das europäische Erbe der Aufklärung plötzlich in Vergessenheit geraten, als sei die Emanzipation von Wissenschaft, das Ringen um Wahrheit nichts mehr wert, feiern Aberglaube, Unvernunft und Verschwörungstheorien fröhliche Urständ und dies vor allem im Netz. Schon eine knappe Stunde verbrachter Zeit im Netz genügt, sagt Susan Neiman in ihrem neuesten Buch, um einen nachdenklichen Leser zur schieren Verzweiflung zu bringen.

Vor ein paar Jahren hätte ich deshalb die Frage auf einem Kirchentag noch für vermessen gehalten, heute ist sie notwendig, und die Frage heißt:

Ist die Vernunft noch zu retten?

Ich finde: Sie ist notwendig und die Frage gehört auf den Kirchentag! Erst recht auf einen Kirchentag, der sich der Reformationsgeschichte erinnert!

Nun werden die Kritiker sagen: Vernunft?

Gerade Ihr? Ihr, die Ihr glaubt?

Ja, müssen wir antworten: Das Verhältnis von Glauben und Vernunft war nie einfach, nie endgültig geklärt, immer spannungsgeladen. Aber vor allem immer in Veränderung! Martin Luthers häufig und gern zitierte Polemik: die Vernunft ist die höchste Hur‘. Wer ein Christ sein will, der steche seiner Vernunft die Augen aus, hat er noch selbst widerlegt!

Das wundert nicht: Schon gut 1.000 Jahre vor Luther fand Augustinus diejenigen Christen kühn, die versuchten wissenschaftliche Erkenntnis mit Bibelzitaten anzufechten.

Immanuel Kant das wissen Sie, konnte sich natürlich die Vernunft nicht ohne Glauben vorstellen. Umgekehrt können wir uns heute Glauben ohne Vernunft vorstellen?

Wolfgang Huber hat darauf geantwortet, sicher ganz zugespitzt, aber ich finde es richtig: Ein nicht durch Vernunft aufgehellter Glaube trägt die Gefahr in sich, barbarisch und gewalttätig zu werden. Stattdessen ist es nötig, sagt Huber, die wechselseitige Verwiesenheit von Vernunft und Glauben immer wieder neu zu entfalten.

Nun wissen Sie, ich bin kein Theologe. Ich gehöre auch nicht zu denen, die mehr in die Bibel hineinlesen, als herauszulesen ist, aber ich frage mich: Gibt nicht auch die Bibel selbst hinreichend Beispiele für eigenverantwortliches Denken?

Ich gebe zu: Im neuen Testament sind aus dem irdischen Wirken des Jesus von Nazareth sicher die Wunder geläufiger, in denen Jesus den Lahmen wieder zu gehen lehrt oder Blinden das Augenlicht wieder gibt.

Aber es gibt eben auch Anderes, es gibt in der Überlieferung der Bibel auch die anderen Texte. Menschen werden geheilt, die nicht mehr Herr ihrer selbst sind, ihren freien Willen nicht gebrauchen können, fremdgesteuert dem Wahn ausgesetzt oder, in der Sprache des alten Orients damals: von bösen Geistern beherrscht sind.

Geht es nicht schon dort, meine Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder, geht es nicht dort auch schon um etwas, was wir heute Rettung der Vernunft nennen würden? Und kann es etwas Vernünftigeres geben, als Menschen zu helfen, ihre Irrwege zu verlassen, ihren Aberglauben zu durchschauen, ihre krankhafte Angst zum Beispiel vor dem Fremden zu besiegen, auch vor eigener Missgunst zu erschrecken, ihre Verblendung selbst zu erkennen, ihr schwarz-weißes Weltbild zu einem farbigen und lebenswerten zu verwandeln? Von quälenden, gleichsam dämonischen Fixierungen freizukommen – etwas Vernünftigeres kann man eigentlich nicht tun!

Immanuel Kant nannte das die Fähigkeit, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.

Sigmund Freud, dass das Ich Herr im eigenen Hause werde.

Und der christliche Glaube sagt, dass die Wahrheit uns freimacht.

Sozusagen alles Verbündete im Kampf für die Vernunft – auch heute und bis heute!

Viele Verbündete also, aber man fragt sich, warum dann so wenig Vernunft? Interessiert sich noch jemand für die Wahrheit? das ist die Überschrift einer deutschen Tageszeitung aus der Berichterstattung über den amerikanischen Wahlkampf im letzten Jahr. Andere haben geschrieben über den Virus des Absurden. Andere wiederum über das Zeitalter des Postfaktischen das angeblich angebrochen ist. Eine Bezeichnung, die für mich immer eine Nummer zu groß ist. Aber dass es, auch bei uns eine zunehmend aggressive Aversion gegen Fakten und eine gleichzeitig wütende Sehnsucht nach Sündenböcken gibt, ich glaube das ist unbestreitbar. Die Appelle an unsere niedrigsten, die bekanntlich nicht unsere besten Instinkte sind, werden gelegentlich lauter und schriller. Und auch wir erleben, dass bei uns Politik mit der Angst der Menschen gemacht wird, statt auf ihre Hoffnungen, statt auf ihren Gestaltungswillen zu setzen. Und mancherorts wird Wahrheit nicht mehr nur absichtlich gefälscht, sondern viel schlimmer: sie scheint da gar nicht mehr zu zählen. Es war immerhin im letzten Jahr ein Kabinettsmitglied in Großbritannien, das vor dem Brexit-Referendum öffentlich gesagt hat: Die Menschen in diesem Lande, haben die Schnauze voll von Experten!

Nun ist das nicht ganz neu: Über Wahrheit und Lüge in der Politik hat schon Hannah Arendt geschrieben und das vor einem halben Jahrhundert. Das Thema ist nicht neu! Aber was ist eigentlich neu? Was ist neu in der politischen Auseinandersetzung heute, anderswo vielleicht noch stärker als bei uns, was ist neu, dass ein so, nach unserem gemeinsamen Gefühl doch grassierender Verlust von Vernunft stattfindet?

Ich glaube, es ist gar nicht leicht zu erklären, weil es nicht leicht ist, Ursache und Wirkung auseinanderzuhalten.

Ist es die Überforderung, weil die Welt so kompliziert geworden ist? Ist es die Geschwindigkeit, in der sich die Welt verändert, ist es die Angst davor, dass wir die Kontrolle verlieren? Sind es die immer schnelleren Schübe der Informationen, die auf uns zulaufen? Vielleicht ist an allem was dran. Aber ich vermute auch, diese vier Gründe sind noch nicht ganz ausreichend.

Und die Tatsache, dass das so schwer zu erklären ist, das hängt für mich auch damit zusammen, dass wir noch ganz am Beginn einer neuen Debatte über Globalisierung sind.

Sie erinnern sich: Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs haben eigentlich alle geglaubt, die grundsätzlichen Fragen, die uns bewegen, sind beantwortet; der Westen hat gewonnen und die Globalisierung wird die anderen verändern, aber nicht uns.

Inzwischen sehen wir, anders als viele geglaubt haben: Die Geschichte ist offenbar nicht zu Ende. Im Vierteljahrhundert der deutschen Einheit ist eben nicht nur Deutschland zusammengewachsen, sondern die ganze Welt und hat ganz neue Kraftzentren – Zentren mit mächtigem Einfluss, vor allem in Ostasien – entstehen lassen und plötzlich ist beides entstanden: Es ist neuer Wohlstand geschaffen worden, ja, aber auch die Ungleichheit auf der Welt ist dramatisch vergrößert worden, vor allem ist sie augenfällig für jeden sichtbar geworden.

Und natürlich ist die stärkste Triebkraft dieser Globalisierung die digitale Revolution, die nicht nur weltweite Vernetzung, sondern eben auch das Wissen voneinander, und vor allem einen weltweiten Synchronisierungsdruck erzeugt, der auf ganz unterschiedliche Lebensverhältnisse, Kulturen, Traditionen, Wahrnehmungen einwirkt. Und der immer mehr dazu neigt, die Unterschiede zwischen den Regionen der Welt und den Kulturen einzuebnen. Viele der Migranten, die zu uns kommen, leben in ihrer Heimat in einer Zeitzone, deren Verspätung sie als unerträglich empfinden, wenn sie ihr dürftiges Dasein mit unserem Leben hier in Europa vergleichen. Und ich kann Ihnen das versichern von meinen eigenen Reisen, dieser Vergleich ist für jeden Smartphone-Besitzer in Afrika eine tägliche Selbstverständlichkeit. Wen sollte es wundern, schreibt Susan Neiman, dass es den jungen Mann aus Niger nicht zuhause hält, wenn er täglich den Unterschied zwischen dem Leben von Kim Kardashian und dem eigenen sieht.

Will sagen: Hier wie dort sind die Erwartungen der Menschen mit dem Blick auf andere Welten enorm gestiegen. Aber leider hat die Fähigkeit, sich in andere Wirklichkeiten, in andere Wahrnehmungen einzufühlen nicht Schritt gehalten. Diese Überforderung produziert Gegenreaktionen – Angst vor Identitätsverlust, Rückbesinnung auf das vermeintlich Bekannte, das uns bekannt ist oder auch nur bekannt zu sein scheint: Nation, Region, Ethnie, Religion. Und ich rate uns, dass wir diese Gegenreaktionen tatsächlich auch ernst nehmen. Identität, glaube ich, ist nicht nur Nebenbei-Bedürfnis. Ich sage voraus: In dieser Entgrenzung der globalisierten Welt, über die ich rede, gewinnt sie eher noch an Bedeutung, das ist so etwas wie die Suche nach einem Ort, in dem man sich wenigstens ein bisschen auskennt. Insofern ist die Suche nicht vorwerfbar. Aber wenn diese Suche am Ende nur noch gepaart ist mit Abgrenzung, Ausgrenzung, mit Ablehnung des Fremden, erst recht mit Angst vor Zukunft und Verklärung der eigenen angeblich großartigen Vergangenheit, dann ist diese Reaktion nicht nur unvernünftig, sondern gefährlich, weil sie den Blick für die Wirklichkeit verliert!

Es ist ja wahr: Mit der wachsenden Vernetzung ist die Komplexität unserer Welt und Umwelt erheblich gestiegen. Nationale, europäische, internationale Krisen, das geht Hand in Hand ineinander über, verstärkt sich gegenseitig. Handelsüberschüsse, griechische Schuldenlast, Ukraine, Mittlerer Osten, Libyen… Die Fähigkeit der allermeisten, mit den Instrumenten unseres Verstandes diesen Nebel zu durchdringen, stößt an seine Grenzen.

Und wen wundert es: Wenn wir schon die Unvorhersehbarkeit und Ungewissheit dieser Entwicklungen nur noch mit Mühe oder gar nicht verarbeiten können, dann fällt es natürlich noch schwerer, über diese Komplexität in unseren Gesellschaften zu streiten, es fällt selbst schwer, sie zu erklären. Und das ist nicht nur ein Problem der Ungeduld von Menschen oder Medien. Ich weiß aus eigener Erfahrung aus meiner Außenministerzeit: Wie soll ich die täglichen Schreckensbilder des furchtbaren Krieges in Syrien abwägen gegen das, was es auch gibt, langfristige Fortschritte im Bereich Bildung, Gesundheit und Armutsbekämpfung in anderen Teilen der Welt?

Wie verträgt sich das in nüchternen Zahlen gezeichnete Bild, liebe Schwestern und Brüder, dass wir heute – historisch betrachtet jedenfalls – in der besten aller Welten leben, mit dem subjektiven Gefühl, dass wir in einer aus den Fugen geratenen Welt leben, in der eine Krise die nächste jagt? Die Komplexität, in der wir leben, ist vieldimensional, das digital vermittelte Bild darüber häufig genug eindimensional!

Das führt dann zu einer nächsten und größeren Herausforderung: die Veränderung unseres Informationsverhaltens.

Das Internet, wir nutzen es alle, verschafft uns Zugang zu einer nie gekannten Fülle von Informationen aus einer Vielzahl von Quellen ganz unterschiedlicher Qualität. Wir dürfen die Flut an Informationen nicht mit Wissen verwechseln – schon gar nicht mit Weisheit. Wissen braucht nachprüfbare Fakten und gesicherte Zusammenhänge. Weisheit braucht Erfahrung und Urteilskraft. Und vieles in der Informationsmaschine Internet liefert eben genau das Gegenteil: diesen Dauerregen von Informationen, die 24-Stunden Berieselung mit Geschwätz, was entscheidende Standards der Objektivität langsam auswäscht. Studien sagen: Wo das Bedürfnis nach Selbstbestätigung in den Onlinegemeinschaften dominiert, dort wird nur noch aufgenommen, was der Nutzer ohnehin vorher schon glaubte oder vermutete. Und Gefühlte Wahrheiten drohen dauerhaft an die Stelle von überprüfbaren Fakten zu treten. Und wer's nicht glaubt, der sollte gelegentlich mal einen Blick in die Kommentarspalten von Facebook werfen.

Ich möchte nicht missverstanden werden: Die Vernetzung über soziale Plattformen kann auch enorm positive politische Wirkungen haben. Gerade in repressiven Gesellschaften können Sie Gemeinsinn mobilisieren, Protest organisieren und womöglich dazu beitragen, wie einmal jemand geschrieben hat, dass die Angst die Seite wechselt. Und für all das gibt es sogar Beispiele, eindrucksvolle Beispiele aus den letzten Jahren, etwa in Tunesien beim Sturz des Diktators Ben Ali.

In unseren demokratischen Gesellschaften sehe ich anderes: Ich befürchte, dass Häme, Hass, Härte vieler Online-Kommentare – alles das wird langfristig an unserer Gesellschaft und an der Art und Weise, wie wir miteinander kommunizieren, nicht spurlos vorbei gehen. Da werden dauerhafte Spuren bleiben. Es ist nicht nur so, wie Peter Strohschneider einmal formuliert hat, dass durch die Anonymität des Netzes die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsäglichen zusehends schwindet. Mir scheint, dass vor allem diejenigen Recht haben, die sagen, dass Zersplitterung, Selbstbestätigung, Selbstbespiegelung zunehmen, dass Menschen immer mehr ihre Zweifel ausblenden, dass sie mehr und mehr nach den einfachen Antworten suchen und die finden, die ihnen die Algorithmen oder Twitter-Bots oder Online-Freunde oder neuerdings sogar die Trolls von außen liefern. Diese Mechanismen, und wir stehen noch ganz am Anfang einer Entwicklung, machen es in der digitalen Welt eben immer schwieriger, zu überprüfen, was tatsächlich wahr ist und was nicht.

Das Abbilden und Verstärken von Stimmungen – ob aus privaten Überzeugungen oder weil sie manipulativ eingesetzt werden – ist auf der einen Seite der Reiz der neuen Medien, aber in ihm steckt eben auch die Gefährdung einer aufgeklärten, demokratischen Kultur im digitalen Zeitalter. Dieser Preis ist nicht nur hoch, sondern, wie ich finde, zu hoch. Ich fürchte: das, was die einen postfaktisch nennen, dieser spielerische Umgang mit alternativen Wahrheiten, das ist nicht nur ärgerlich, wie Frau Neiman geschrieben hat, und das ist nicht nur ein flottes Label für modernes Politikentertainment. Sondern – und das meine ich jetzt wirklich ernst: Wenn das zur Methode wird, dann steckt darin tatsächlich eine existentielle Gefahr für unser politisches Gemeinwesen.

Auch wenn es für den einen oder anderen außerhalb dieses Saales langweilig klingen mag: Wir können auch in der digitalisierten Welt nicht auf Vernunft verzichten. Wir können nicht auf den produktiven Zweifel verzichten, der der Suche nach besseren Lösungen immer voraus geht. Wer Fakten, wer wissenschaftliche Forschungsergebnisse für irrelevant erklärt, macht die ernsthafte Debatte über Zukunft unmöglich. Wir wissen: Die Zersetzung der Vernunft ist der Anfang der Zersetzung der Demokratie.

Was also können wir tun? Wir werden gleich darüber auf dem Podium diskutieren. Ich will aber eines hier vorher herausstellen:

Wir müssen in unsere Urteilskraft investieren. Nicht alles auf den möglichst gröbsten Holzschnitt vergrößern, sondern, jenseits von Klischees, jenseits von Ressentiments, auf Unterscheidungsfähigkeit, auf Ernsthaftigkeit und Genauigkeit achten. Und das heißt: Investieren in gesellschaftliche Institutionen und Systeme, die wenigstens den Anspruch haben, Wahrheit zu produzieren, Schulen, Wissenschaft, Justiz. Und dazu braucht es Medien, in denen nicht nur Klickzahlen und Quoten zählen, sondern in denen Neugier und Objektivität journalistischer Arbeit weiterhin der Antrieb sind.

Es wird sie vielleicht erstaunen, aber: Damit kommen wir am Ende doch wieder bei der Reformation an. Seit Luther und der Aufklärung ist bei uns die Überzeugung gewachsen, und das ist sicherlich in vielen Veranstaltungen hier auf dem Kirchentag berührt und diskutiert worden, dass Kultur und Bildung ein selbstbestimmtes Leben überhaupt erst möglich machen. Und jahrzehntelang haben wir alle mit der Sicherheit gelebt, dass diese Überzeugungen jedenfalls nie mehr in Frage gestellt werden.

Und tatsächlich: Deutschland ist eine stabile Demokratie mit Millionen von Menschen, die sich für die Demokratie einsetzen. Das unterscheidet uns von der ersten Demokratie auf deutschem Boden, die vor knapp 100 Jahren begann. Aber wir sollten die Warnsignale nicht ignorieren:

- Eine neue Faszination des Autoritären macht sich breit – auch in Europa.

- Es gibt auch bei uns das Verächtlichmachen demokratischer Institutionen.

- Erst vor kurzem der erneute Versuch der Wiederbelebung des Völkischen.

- Fakenews und gefühlte Wahrheiten gibt es auch bei uns als Fundament eines neuen Irrationalen.

Nochmal: Es gibt keinen Grund für Alarmismus. Aber es gibt Grund genug, dass wir wieder lernen, für das Erbe von Reformation und europäischer Aufklärung mit Haltung und mit Überzeugung einzutreten – den Grund gibt es. Und das heißt für das Zusammenleben in der Demokratie: erstens, sich nicht aus den Augen verlieren, Gesellschaft nicht atomisieren lassen, mit offenem Visier – wie das hier seit Tagen auf dem Kirchentag geschieht – das Gespräch, und natürlich auch das Streitgespräch suchen.

Und das heißt auch: Wissen, dass niemand allein den Stein der Weisen findet.

Und es heißt auch zu wissen, dass uns der allabendliche Talkshow-Wettlauf mit dem Ziel größtmöglicher Zuspitzung weder Politik ersetzen kann noch uns der Wahrheit näher bringt. Nein, Vernunft in der Demokratie heißt: die anderen mit Argumenten überzeugen zu wollen und dabei immer in Rechnung zu stellen, dass auch der andere Recht haben könnte.

Der Anspruch einer gemeinsamen politischen Vernunft, der Anspruch von Maß und Mitte im gesellschaftlichen Diskurs, den haben wir, finde ich, in einer wunderschönen deutschen Redewendung eigentlich ganz genau auf den Punkt gebracht: Lasst uns die Kirche im Dorf lassen.

Und ganz zum Schluss meiner Einstimmung auf das Gespräch, das wir jetzt miteinander führen werden, steht eine These, die gleichzeitig eine Ermutigung aber auch ein Appell sein soll.

Die Frage ist nicht: Ist die Vernunft noch zu retten?

Sondern die Frage ist: Was anderes soll uns denn retten als Vernunft?

Vielen Dank!