Antrittsbesuch in Niedersachsen: Besuch der Georg-August-Universität Göttingen

Schwerpunktthema: Rede

Göttingen, , 7. Juni 2017

Der Bundespräsident hat am 7. Juni beim Besuch der Georg-August-Universität Göttingen eine Ansprache gehalten: "Dass die Georg-August-Universität Göttingen heute wieder eine der besten Universitäten Deutschlands ist, dass sie an ihre große liberale Tradition anknüpfen konnte – das verdanken wir – und wir sollten das nicht vergessen – auch den Frauen und Männern des 20. Juli 1944."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede in der Georg-August-Universität Göttingen während des Antrittsbesuches in Niedersachsen

Ein Sämann überlässt nicht gern knospende Saaten anderen zur weiteren Bearbeitung, denn zwischen Saat und Ernte liegen ja noch so viele Stürme, schreibt Adam von Trott zu Solz am Abend des 14. August 1944 an seine Ehefrau Clarita.

Am folgenden Tag wird Adam von Trott vom Volksgerichtshof unter Vorsitz von Roland Freisler wegen Hoch- und Landesverrats zum Tode verurteilt.

Elf Tage später, am 26. August, wird er im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee erhängt. Er ist gerade 35 Jahre alt.

Noch in demselben August wird seine Ehefrau Clarita in Sippenhaft genommen und in Berlin-Moabit inhaftiert.

Seine Töchter Verena, zweieinhalb Jahre alt, und Clarita, neun Monate alt, werden von der SS unter falschem Namen in ein Kinderheim verschleppt und sehen ihre Mutter erst kurz vor Kriegsende wieder.

Der junge Adam von Trott zu Solz hatte sich früh dem Widerstand gegen das Hitler-Regime verschrieben und für eine friedliche und vor allen Dingen demokratische Zukunft Europas gearbeitet. Als Rechtsreferendar stritt er gegen die Gleichschaltung der Justiz, so lange ihm das möglich war. Als Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes sammelte er als einer der ganz wenigen einen Kreis gleichgesinnter und zuverlässiger Mitstreiter um sich, unternahm Reisen in die Schweiz, die Niederlande und ins neutrale Schweden und unterhielt Kontakte mit den alliierten Kriegsgegnern.

Er war der außenpolitische Berater der Männer und Frauen des 20. Juli und innerhalb des Kreisauer Kreises einer der wenigen, der rückhaltlos von der Notwendigkeit des Attentats auf Hitler überzeugt war. Er wusste aus seinen Gesprächen in Großbritannien, dass eine mögliche neue Regierung in Deutschland nur dann auf Verhandlungsbereitschaft der Alliierten hoffen könnte, wenn zuvor das NS-Regime beseitigt würde. Dafür setzte er sich ein, dafür riskierte er sein Leben und traf sich auch mit der politischen Opposition im Exil, zuletzt mit Willy Brandt, wenige Wochen vor dem Attentat, noch am 24. Juni 1944. Von Trott wusste längst, dass ein Scheitern des Plans seinen Tod bedeuten würde. Er kehrte dennoch von jeder seiner Missionen zurück nach Berlin, auch um seine Frau und seine beiden Töchter nicht zu gefährden.

Ich bin froh, um das gleich am Anfang zu sagen, dass die Universität Göttingen im Rahmen von Forschung und Lehre gemeinsam mit der Stiftung Adam von Trott das Andenken an diesen mutigen Widerstandskämpfer und seine Verbündeten im Kreisauer Kreis und in der Gruppe des 20. Juli wach und lebendig hält, und deshalb danke ich Ihnen ganz besonders für die Einladung zu dieser heutigen Veranstaltung und zur anschließenden Diskussion.

Wir erinnern uns seines mutigen Vorbilds, und doch müssen wir ihn dazu nicht auf ein Podest erheben, auf dem er unserer Zeit und unseren Lebensumständen in heldenhafte Verklärung entrückt. Sondern es lohnt sich – und das wollen wir heute gemeinsam tun –, sein Beispiel zu uns, in unsere Zeit zu holen.

Heute, 73 Jahre nach von Trotts Tod können wir sagen: Die knospende Saat, von der er gesprochen hat, ist aufgegangen. Wir leben in einer gefestigten Demokratie. Die Mutigen in unserer Demokratie müssen – zum Glück! – keine Märtyrer mehr sein.

Aber eine Frage bleibt: Wie wird ein junger Mensch zum Demokraten?

Wie wurde er es in einer Zeit, die geprägt war von Angst, Misstrauen und nationalem Wahn? Und wie wird ein Mensch zum Demokraten in dieser, unserer Zeit, in der Vernunft manchem politisch Verantwortlichen offenbar nicht mehr viel gilt, in der Demokratie – von innen wie von außen, zur Zeit sichtbar – angefochten wird?

Damals wie heute, fürchte ich, werden wir Menschen nicht als Demokraten geboren. Deshalb faszinieren mich an Adam von Trott zu Solz Fragen seines Lebensweges, die immer noch brennend aktuell sind:

Wie wird ein junger Adliger, ein Spross des höchsten kaiserlich-preußischen Beamtentums, zum Demokraten, leidenschaftlichen Internationalisten und frühen Verfechter der Idee von gleichen und unveräußerlichen Menschenrechten?

Was überzeugte ihn, der dem national-konservativen Milieu entstammte, vom Wert völker- und grenzüberschreitender Zusammenarbeit?

Und schließlich: Wie wird einer in einer Zeit der Ideologisierung und Radikalisierung und schließlich Gleichschaltung zu einem kompromisslosen Freigeist?

Ich glaube, liebe Studierende, die Antwort liegt genau hier, in Ihrer Universität.

Von Trotts Alma Mater, genauer: seine Almae Matres, nämlich Ihre Universität, die Universität Göttingen und die Oxford University in England, waren die Orte, an denen er seine geistige, politische und seine Herzensprägung erfuhr.

Natürlich – und das weiß niemand so gut wie Sie, liebe Studierende – sind Universitäten auch heute nicht nur Orte politischer Bildung und Orientierung, sie sind auch Abbilder des politischen und gesellschaftlichen Lebens unserer Zeit. Sie sind, besser: Sie können Keimzellen der Demokratie sein!

Was Adam von Trott zu Solz betrifft, so waren seine Studienorte Oxford und Göttingen ganz sicher, wenn auch in unterschiedlicher Weise, prägend. So haben Sie es, liebe Frau Präsidentin Beisiegel, einmal formuliert. Die Universität Göttingen erlebte Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts eine glanzvolle Zeit. Sie war damals, was sie auch heute ist, eine herausragende Hochschule, geprägt und geführt von Gelehrten, die dem kritischen Geist der Aufklärung verbunden waren und die Grundlagen für die modernen Geistes- und Naturwissenschaften legten. Hier erlebte der junge Wilhelm von Humboldt, dessen Geburtstag sich in diesem Jahr zum 250. Mal jährt und der hier – übrigens gegen damals geltendes Recht – außerhalb der preußischen Landesgrenzen studierte, hier lebten sie den Geist der akademischen Freiheit und der Aufklärung und, wie wir bei Wilhelm von Humboldt lesen können, die Freude am Studium. Es ist wirklich hier eine sehr gute Gelegenheit zum Studieren, und ich wünschte wohl, dass Sie sie einmal benutzen könnten, schrieb er in einem seiner Briefe: Die Studenten sind beinah durchgängig fleißig, und es herrscht ein sehr guter, gar nicht studentenmäßiger Ton unter ihnen. Was immer damit gemeint ist, verehrte ASTA Vorsitzende.

Adam von Trott zu Solz aber erlebte schon Ende der 1920er-Jahre das Ende dieser wirklich glanzvollen Zeit für diese Universität. Es brach nicht aus heiterem Himmel über die Universität herein. Es machte sich langsam, aber immer deutlicher bemerkbar. Die Knebelung der freien Lehre, die Demütigung und Ächtung jüdischer Professoren, Mitarbeiter und Studenten wurde der Universität weniger von außen aufgezwungen, sondern war der Schlusspunkt eines inneren Zersetzungsprozesses, eines langsam aber stetig um sich greifendenden antidemokratischen Geistes und eines Antisemitismus, der sich aus der Idee der Volksgemeinschaft und dem Hass gegen das politische System der Weimarer Republik speiste.

Von Trott zu Solz blieb von dieser Atmosphäre nicht unberührt. Er war, auf Wunsch seines Vaters, in den ersten Semestern seines Studiums in Göttingen Corps-Student – und hatte sich, wie die meisten seiner Kommilitonen, natürlich auch den einschlägigen Ritualen zu unterziehen. Einen wohl nicht untypischen Tag im Mai 1928 beschrieb von Trott so: 8 bis 9 Uhr Kleinkaliberschießen, 9 bis 10 Uhr Fechtstunde, 10 bis 11 Uhr Kolleg, 11 bis 12 Uhr Reiten, 12 bis 1 Uhr Kolleg, dann Essen, 2 bis 3 Uhr Kontraboden und 3 bis 7 Uhr Schnefter, der Begriff für einen Wanderausflug.

Der Tagesablauf in Oxford, wo von Trott ein Jahr später am Mansfield College ein Gastsemester verbrachte, sah dagegen deutlich anders aus. Er zeichnete sich vor allem durch Bibliotheksarbeit, Lectures, Vorträge und Clubmeetings aus. Von Trott fiel vor allem das starke Interesse seiner britischen Kommilitonen an Politik auf und die, wie er geschrieben hat, in England glänzend entwickelte Fähigkeit zum Kompromiss. In einer vergleichenden Studie – wohlgemerkt: er war Student – die von Trott anschließend an sein Trimester am Mansfield College schrieb, ist die Rede von einer unglücklichen Befindlichkeit der Deutschen. Er schreibt, die deutschen Studenten nähmen nicht ausreichend wahr, dass sie schon in einem ganz anderen Land lebten als die Generationen zuvor. Sie verhielten sich dem Staat gegenüber desinteressiert, und ihr Sinn für politische Verantwortung sei mehr als zweifelhaft.

Den jungen Engländern dagegen bescheinigte von Trott eine instinktive Neigung zum Handeln, sie eröffne ihnen eine Perspektive für ihr Leben und statte sie mit einem zunehmend sicheren Urteil über ihre Umgebung aus. Dazu gehörte das Bewusstsein für die eigenen Grenzen ebenso wie ein ausgeprägter Sinn für das Mögliche.

Was von Trott hier – mit gerade einmal gut 20 Jahren – beschreibt, sind eigentlich nichts anderes als die Voraussetzungen für Demokratie. Eine Idee, der Wille, sie in die Tat zu setzen, Urteilskraft und eben auch der Sinn für die eigenen Grenzen und Möglichkeiten, das gehört eigentlich in das Anforderungsprofil eines jeden Demokraten. Von Trotts Interesse an Politik, vor allem an internationaler Politik war vielleicht schon geweckt, bevor er nach Oxford ging. Aber erst dort – so vermute ich – wird er zu einem politischen Menschen und löst sich zunehmend aus dem national-konservativen Milieu seiner Zeit. Es gibt eine undatierte Notiz von Trotts Ende der zwanziger Jahre, vermutlich während seines Englandaufenthalts geschrieben, die lautet: Es muss etwas Größeres geben als die Nation. Das ist, wie seine Biografin später zutreffend festgestellt hat, eine wirklich erstaunliche Äußerung für einen jungen Mann mit dieser Herkunft und mit dieser Prägung. Denken in internationalen Zusammenhängen galt, das müssen wir uns in Erinnerung rufen, in konservativen und damals national-konservativen deutschen Kreisen seiner Zeit als höchst unpatriotisch.

Den geistigen, auch den politischen Horizont der Studierenden weiten und demokratische Werte vermitteln – das kann und sollte eine Universität im besten Falle leisten. Oxford, seine akademische Umgebung, hat von Trotts Denken neue Anregung gegeben, fortan gab es da einen Spannungsbogen zwischen Vaterland auf der einen Seite, Weltbürgertum auf der anderen Seite, zwischen Ost und West, zwischen Bewahren und Neugestalten, so hat es einer seiner Weggefährten beschrieben. Niemand hinderte ihn in Oxford daran, zu denken und sich seines Verstandes zu bedienen. Man hielt ihn vielmehr dazu an, während sich der vermeintlich größte Philosoph seiner Zeit in Deutschland an der Gleichschaltung des Geisteslebens sogar noch beteiligte.

Von Martin Heidegger lesen wir zu dieser Zeit, ich zitiere aus einem Artikel von 1933: Die gesamte deutsche Wirklichkeit ist durch den nationalsozialistischen Staat verändert worden, mit dem Ergebnis, dass unsere ganze vergangene Weise des Verstehens und Denkens ebenfalls anders werden muss.

Will nur sagen: Die akademische Freiheit jedenfalls, um die es uns geht, war genau zu der Zeit eben nicht Heideggers Thema. Er nennt sie sogar unecht, weil nur verneinend. Er spricht vielmehr vom Gegenteil, von der Bindung des deutschen Studenten, der Bindung in die Volksgemeinschaft, an Ehre und Geschick der Nation und an den geistigen Auftrag des deutschen Volkes durch – auch eine interessante Formulierung – den Wissensdienst.

Das mag uns heute alles seltsam fern klingen. Freiheit oder Bindung allerdings sind auch heute ein Thema unserer Zeit. Die Unübersichtlichkeit unseres globalisierten Wirtschafts- und Lebensraumes provoziert ja ganz offensichtlich eine Gegenbewegung, die ihr Heil in der Bindung an den Nationalstaat, an die Ethnie oder an eine Religionsgemeinschaft sucht. Ralf Dahrendorf hat das einmal Versuchungen der Unfreiheit genannt. Der Faschismus habe mit Bindung und Führung gelockt, der Kommunismus mit Bindung und Hoffnung.

Adam von Trott zu Solz hat sehr früh ein anderes Denken erlernt, ein britisch-liberales Denken. Er war befreundet mit dem jungen Isaiah Berlin, einer der großen liberalen Philosophen Oxfords. Mir scheint, es würde sich lohnen, ihn wieder häufiger zu lesen, in einer Zeit, in der wir den liberalen Rechtsstaat unter den Bedingungen der Globalisierung nicht nur erhalten wollen, sondern wie ich finde, erhalten müssen. Seine Spuren finden wir im Denken vieler großer Europäer, in dem von Timothy Garton Ash etwa, dem diesjährigen Karlspreisträger. Und wenn ich hinzufügen darf, was ich in meiner Laudatio vor zwei Wochen in Aachen gesagt habe: Diese liberale Tradition Großbritanniens wird hoffentlich immer zum Geist Europas gehören. Ein Brexit jedenfalls wird daran nichts ändern.

Adam von Trott zu Solz hat seine liberal-demokratischen Werte mit Mut, man müsste eigentlich sagen: mit Todesmut verteidigt. Ein Opfer, wie er es gebracht hat, kann man nicht verlangen. Aber man kann sich seiner würdig erweisen. Dass die Georg-August-Universität Göttingen heute wieder eine der besten Universitäten Deutschlands ist, dass sie an ihre große liberale Tradition anknüpfen konnte – das verdanken wir – und wir sollten das nicht vergessen – auch den Frauen und Männern des 20. Juli 1944. Sie entstammten ganz unterschiedlichen Milieus und Traditionen und vertraten ganz unterschiedliche politische Richtungen. Mit ihrer Haltung und ihrem Beispiel aber standen sie für ein Deutschland, in dem diese Pluralität der Meinungen eben gerade nicht mehr mit dem Tode bedroht werden sollte. Wir verdanken es auch ihnen, dass ein demokratisches Deutschland nach 1945 überhaupt denkbar war und dass es liberale Traditionen gab, an die angeknüpft werden konnte.

So auch an der Göttinger Universität, wo man sich an die Göttinger Sieben erinnerte: Sieben Wissenschaftler, Staatsrechtler, Historiker, Germanisten, Physiker, die sich gegen die Rücknahme der freiheitlichen Verfassung des Königreichs Hannover auflehnten. Einer im Übrigen britisch inspirierten Verfassung, die nach dem Ende der Personalunion des britischen und hannoverschen Königshauses unter Ernst August I. beseitigt werden sollte. 1957 folgten dem Beispiel der Sieben 18 führende Atomwissenschaftler, die sich gegen eine atomare Bewaffnung der Bundeswehr, aber die ganze Wahrheit ist, für eine friedliche Nutzung der Atomenergie aussprachen.

Dieser Dank an die Aufrechten von gestern erinnert uns Heutige zugleich an die Verantwortung in unserer Zeit und für die Gestaltung der gemeinsamen Zukunft.

Das ist es, was wir von Trott lernen können: dass wir aufgerufen sind, mitzugestalten. Denn das Gewissen, wie er es verstand, gebietet uns – ich greife seinen Gedanken auf – nicht die Unterwerfung unter jede Ordnung, gleichsam der Ordnung wegen, sondern das verantwortliche Mitgestalten von Ordnung.

Das ist es, worüber wir gleich im Anschluss sprechen können. Welche Verantwortung tragen die Universitäten heute für die Zukunft und die Gestaltung unserer Ordnung, der Demokratie? Welchen Beitrag können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, und damit auch Sie, liebe Studierende, leisten, um das Vertrauen in demokratische Prozesse gegen Fake-News und alternative Fakten zu stärken?

Gleichgültigkeit jedenfalls, das hat von Trott uns hinterlassen, können wir uns nicht leisten. Our mutual enemy is indolence.

Vielen Dank!