Antrittsbesuch in Hessen: Kommunalkonferenz auf dem "Hessentag"

Schwerpunktthema: Rede

Rüsselsheim, , 13. Juni 2017

o etDer Bundespräsident hat am 13. Juni bei der Kommunalkonferenz auf dem "Hessentag" eine Ansprache gehalten: "Wo erlernen und erleben wir Demokratie, wenn nicht zu Hause in den Städten, Dörfern und Gemeinden? Wo beweist sich, ob das Zusammenleben in unserem Land wirklich funktioniert? Die Kommunen so etwas wie der Heimathafen unserer Demokratie – und dafür sorgen Sie, die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die Landrätinnen und Landräte und alle kommunalpolitisch Engagierten."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache in der Stadthalle in Rüsselsheim anlässlich des 57. Hessentages bei seinem Antrittsbesuchs in Hessen

Natürlich bedanke ich mich zu Anfang ganz, ganz herzlich für die Einladung zum Hessentag hier nach Rüsselsheim!

Mit Hessen verbinden mich viele Erinnerungen. Ich habe meine Studienjahre hier verbracht. Aus dieser Zeit weiß ich wohl: Der Hessentag ist eine wahre Festwoche für dieses Bundesland.

Später bin ich dann auf verschiedenen beruflichen Stationen quer durch die Republik unterwegs gewesen. Und erst danach, als ich schon lange nicht mehr in Hessen wohnte, ist mir klar geworden: Bei weitem nicht jedes Bundesland hat eine so wunderbare, fröhliche Tradition wie diese hier – und deshalb freue ich mich ganz besonders, jetzt als Bundespräsident und dann noch zusammen mit meiner Frau hierher zurückzukehren. Herzlichen Dank für die Einladung.

Sie wissen es: Zu einer solchen Festwoche, selbst wenn es fröhlich zugeht, gehören natürlich auch protokollarische Ehren. Deshalb sind alle hier – der Oberbürgermeister, der Ministerpräsident, die kommunalen Würden- und Verantwortungsträger, der Bundespräsident, die First Lady. Und vor allem: das Hessentagspaar.

Liebe Selma Kücükyavuz und Marcel Sedlmayer, ich danke Ihnen ganz herzlich für die freundlichen und wunderbaren Begrüßungsworte. Ich habe Ihnen nicht nur gerne zugehört – sondern eigentlich kriegt man richtig Lust auf Ihren Job.

In Gießen, wo Elke, meine Frau, und ich studiert haben, fand der letzte Hessentag leider schon 1969 statt, also vor unserer Zeit. Und wer weiß: Wenn er ein bisschen später stattgefunden hätte, vielleicht hätten wir uns beworben. So sind wir beide leider kein Hessentagspaar – aber ein Hessenpaar, das sind wir geworden. Hier in Hessen haben wir uns kennengelernt, sind seitdem beieinander und fühlen uns beide diesem Land ganz besonders verbunden.

Meine Antrittsbesuche als Bundespräsident in den 16 Bundesländern stehen unter der Überschrift: Demokratie stärken. Ich will hin zu den Orten der Demokratie und vor allen Dingen zu den Menschen, die sie Tag für Tag mit Leben erfüllen. Mit anderen Worten: die mit ihrem Tun, sei es im Ehrenamt oder im kommunalen Mandat, ein Beispiel geben.

Und deshalb war ich sehr froh über die Einladung zu dieser Kommunalkonferenz – eine Einladung, die ich sehr gerne angenommen habe. Denn wo erlernen und erleben wir Demokratie, wenn nicht zu Hause in den Städten, Dörfern und Gemeinden? Wo beweist sich, ob das Zusammenleben in unserem Land wirklich funktioniert?

Die Kommunen sind so etwas wie der Heimathafen unserer Demokratie – und dafür sorgen Sie, die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die Landrätinnen und Landräte und alle kommunalpolitisch Engagierten. Es ist Grund, hier am Anfang meiner Rede Ihnen allen für Ihre Arbeit ganz herzlichen Dank zu sagen.

Und wenn ich so in die Runde schaue und mir vergegenwärtige, wie die Strukturen in Hessen sind, dann darf ich vermuten, viele von uns und auch von Ihnen sind in gar nicht so großen Städten aufgewachsen. Vielleicht kommt der eine oder andere auch – wie ich selbst – vom Dorf. Ich bekenne das offen: Ich wohne in Berlin, aber eigentlich bin ich ein Landei. Groß geworden in einem Ort namens Brakelsiek, in Lippe-Detmold, ein Ort mit weniger als 1.000 Seelen. Als ich als Erstsemesterstudent nach Gießen kam, die siebtgrößte Stadt des Landes – da war das für mich schon fast ein Gefühl von der großen, weiten Welt.

Und deshalb ist es mir so wichtig, uns an die Verhältnisse gerade in den kleineren Kommunen zu erinnern, weil dort das vermeintlich Kleine eben eine ziemlich große Bedeutung hat. Ob es eine Lokalzeitung gibt, einen Fußballplatz oder Freibad, eine Schule oder Arztpraxis, Einkaufsladen oder Gasthaus, oder auch historische Baudenkmäler, die gepflegt werden wollen – das macht eben einen Unterschied. Das sind die Orte, an denen man sich begegnet, an denen über das Private hinaus der öffentliche Raum beginnt, an denen Gemeinsamkeit entstehen kann und deshalb etwas, was wir dringend brauchen in unserem Gemeinwesen, nämlich Gemeinsinn.

Und das geht ja noch weiter. Gemeinsamkeit und Gemeinsinn sind auf Aktivität angelegt. Sie wecken die Bereitschaft zum Engagement. Und ehrenamtliches Engagement wirkt ansteckend, es motiviert gleich noch ein paar andere, mitzumachen. So kommt Leben in die Vereine, aber auch in die Gemeinderäte und in die kommunale Selbstverwaltung. Wenn ich aus meinem eigenen Leben berichten darf: Es begann nicht als Außenminister, es begann auch nicht als Chef des Bundeskanzleramtes oder als Chef der Niedersächsischen Staatskanzlei, sondern viel früher. Mein allererstes Engagement, mein – wenn Sie so wollen – politisches Erweckungserlebnis war etwas ganz anderes. Es war der Streit um ein Jugendzentrum in meinem kleinen Dorf. Der entstand, als unsere kleine Grundschule geschlossen wurde, wir plötzlich alle zu Fahrschülern wurden und gesagt haben: Jetzt brauchen wir aber einen Ort, einen Treffpunkt, wo wir sicherstellen können, dass unsere Freundschaften im Ort nicht verloren gehen, dass wir uns nicht aus den Augen verlieren. Was haben wir gemacht? Wir haben dafür gestritten, die Schule zu einem Jugendzentrum zu machen. Wir haben Plakate gemalt, wir haben Journalisten der Lokalzeitung ins Boot geholt, und am Ende trat etwas ein, womit wir vielleicht selbst gar nicht so richtig gerechnet haben: Durch dieses gemeinsame Handeln haben wir nicht nur Unterstützung gefunden, sondern am Ende die Dinge verändert. Das Jugendzentrum ist damals eingerichtet worden, und ob Sie es glauben oder nicht, es gibt es bis heute.

Ich glaube, ganz viele Menschen in Deutschland sind von ähnlichen Erfahrungen geprägt worden. Dieses kommunale Leben ist die Wurzel unserer Demokratie. Und die Bundesrepublik schöpft daraus ihre Kraft, ihre Stabilität in stürmischen Zeiten, und besonders ihre Vielfalt in der Kultur. Und wer noch einen Beweis braucht, der frage die Quotenkontrolleure des Fernsehens: Der Zuschauertrend geht eindeutig vom großen Hollywood-Thriller zum Regional-Tatort.

Wir haben für all das im Deutschen ein sehr schönes Wort, und dieses Wort heißt Heimat.

Heimatgefühl, wie es in der Kommune wächst, halte ich gerade unter den Bedingungen unserer modernen Welt nicht für sentimental, überlebt oder gar reaktionär. Und deshalb finde ich, wir sollten diesen oft missbrauchten Begriff der Heimat vielmehr wieder zurückerobern: Heimat als das, was selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger miteinander aufbauen; Heimat nicht als verschlossener, sondern als zugänglicher Ort, in dem auch die ein Zuhause finden, die nicht schon seit fünf Generationen ansässig sind, kurz: auch ein Ort der Integration.

Genau das ist der Geist, in dem die Tradition des Hessentages zu Beginn der 1960er Jahre begründet wurde: Hesse ist, wer Hesse sein will! Das war der Ausruf von Georg-August Zinn. Er galt damals den vielen, die aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten geflohen waren. Aber seither hat er viele Hunderttausende andere erreicht – aus Südeuropa, aus der Türkei, aus den ehemaligen Sowjetrepubliken.

Auch Sie, liebe Frau Kücükyavuz, können davon berichten: von Ihren Eltern, die aus der Türkei kamen und hier in Hessen erst Arbeit und über die Zeit auch ein Zuhause fanden, und die nicht nur Rüsselsheimer wurden, sondern Opelaner durch und durch.

Ja, Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten für Millionen von Menschen neue Heimat geworden – und das sollte uns Mut machen für die großen Integrationsaufgaben, die noch vor uns liegen.

Ich finde, niemand hat es schöner formuliert als Karl Jaspers, der gesagt hat: Heimat ist dort, wo ich verstehe und verstanden werde.

Ich meine, das ist eine sehr kluge Definition, denn sie zeigt: Heimat ist kein geographischer Ort, sondern vor allen Dingen ein Sehnsuchtsort – aber einer, der Realität werden kann; und zwar für ganz unterschiedliche Menschen, trotz unserer Unterschiede und trotz der Umwälzungen um uns herum. Heimat ist nicht rigide, sondern kann sich verändern. Heimat steht offen, aber sie ist nicht beliebig.

Ich will nicht unterschlagen: Wenn für Millionen Zuwanderer Deutschland eine neue Heimat geworden ist, dann hat sich für uns Einheimische die alte Heimat verändert.

Für mich bedeutet das Mehrfaches: Ja, wir sollten den Zugezogenen dabei helfen, zu verstehen und sich verständlich zu machen. Aber auch die Einheimischen wollen in ihrem Zuhause verstehen und verstanden werden. Und das wird eben schwierig, wenn die Veränderung zu schnell und zu radikal passiert. Die Sprache, die vertrauten Regeln, die Gepflogenheiten des Zusammenlebens, all das gehört dazu. Man braucht das nicht Leitkultur nennen. Nach meiner Erfahrung ist die Debatte unter dieser Überschrift in der Vergangenheit immer eher schief gegangen. Sondern dieses Verstehen und Verstandenwerden, das ja gleichzeitig Angebot, aber auch Erwartung ist: Ich finde, das ist ein gutes Ziel, sowohl für die Neuen als auch für die Eingesessenen. Und beide miteinander müssen diese schwierige Balance hinkriegen.

Wenn ich vor Bürgermeistern und Landräten spreche, dann weiß ich auch, dass wir uns über die konkreten Bedingungen unterhalten müssen, unter denen unsere Kommunen Heimat sein und vor allen Dingen Heimat werden können.

Seit dem Jugendzentrum in meinem Heimatdorf, von dem ich berichtet habe, habe ich in meinem politischen Leben, sei es als Chef der Staatskanzlei in Niedersachsen oder später im Bundeskanzleramt, immer wieder mit der Frage zu tun gehabt, wie dort, wo das Geld fehlt, noch ein öffentliches Schwimmbad, ein Theater oder auch eine baufällige Kirche zu retten sind.

Ich bin überzeugt: Es ist eine der wichtigsten Aufgaben dieses Staates, die Finanzen unserer Kommunen in Ordnung zu halten, mit anderen Worten: ihnen Luft zum Atmen und Möglichkeiten zum Investieren zu bieten. Natürlich weiß ich, dass es Gemeinden gibt, deren Steueraufkommen glänzend ist und um die wir uns wenig Sorgen machen müssen. Meine Hessenreise hat in Bad Homburg begonnen. Aber gleichzeitig weiß jeder, dass es in anderen Kommunen eben ganz anders aussieht: Es gibt natürlich auch hier Kommunen, in denen schließt erst der Industriebetrieb, dann die Arztpraxis, am Ende die Dorfkneipe und die Tankstelle. Die Jüngeren ziehen fort, dann wird irgendwann die letzte Busverbindung gekappt. Ich habe das als Bundestagsabgeordneter über viele Jahre erlebt und versucht, Gegenwehr zu leisten.

Deshalb kommen wir nicht umhin, auch immer wieder über die möglichst gerechte Verteilung von Finanzen zu sprechen – und natürlich ist uns allen der aktuelle Streit über das Reformwerk zur Zukunft der Bund-Länder-Finanzbeziehungen noch im Ohr. Es mag zwar technisch klingen, aber es geht dabei um nicht mehr und nicht weniger als um die Zukunft unserer föderalen Ordnung: Sichern wir die finanzielle Handlungsfähigkeit aller Länder und Kommunen? Schaffen wir den solidarischen Ausgleich? Sollen Zukunftschancen, hohe Lebensqualität, intakte öffentliche Räume ein Privileg der wohlhabenden Ballungsräume sein oder Realität in allen Landesteilen?

Wenn solche Reformwerke angegangen werden, wie dieses der Zukunft der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, sitzen 16 Bundesländer und eine Bundesregierung in jahrelangen Verhandlungen in grauen Konferenzräumen. Als Chef des Bundeskanzleramtes habe ich den Bund-Länder-Finanzausgleich 2003 in der Schlussphase mitverhandelt - mit manchem Leid und am Ende mit Freude. Sie sitzen da beieinander und beugen sich über endlose Zahlenreihen und Formeln. Aber eigentlich steht da eine noch größere Frage im Raum: Bewahren wir uns in diesem Land das, was viele andere Länder dieser Welt nicht oder nicht mehr schaffen – nämlich die Fähigkeit zum vernünftigen Kompromiss, auch bei harten Interessengegensätzen und unter Wahrung unserer bundesstaatlichen Ordnung.

Jetzt sind wir einen Schritt weiter, der Kompromiss ist gefunden. Ob er vernünftig ist, darüber gibt es bei allen an der Verhandlung Beteiligten einen unterschiedlichen Befund. Aber vielleicht bewahrheitet sich das, was ich zum letzten Länder-Finanzausgleich 2003 gesagt habe: Wenn alle Seiten unzufrieden sind, ist das ein Anzeichen dafür, dass der Kompromiss jedenfalls nicht gänzlich unvernünftig ist.

Aber ich bin auch hier, um zu sagen: Geld ist immer nur die eine Seite. Die andere und viel wichtigere sind Sie – die Menschen, die sich engagieren. Und Ihnen allen will ich danken: den mutigen Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, Landrätinnen und Landräten. Sie hatten in der Flüchtlingskrise wirkliche Mammutaufgaben zu schultern, und manche von Ihnen wurden dafür nicht nur angefeindet, sondern geradewegs bedroht. Lassen Sie mich einfach einmal deutlich sagen: Es ist großartig, was Sie geleistet haben, und unerträglich, was manche dafür ertragen mussten!

Ich danke deshalb genauso den unzähligen ehrenamtlichen Kommunalpolitikern, die abends, nach einem Achtstundentag, nicht vor dem Fernseher ins Sofa sinken, sondern ins Gemeindeparlament gehen und über die Umgehungsstraße diskutieren – und das noch mit der Gefahr, dass sie am Samstagmorgen beim Brötchenholen dafür rüde Kommentare einstecken müssen. Ihnen allen will ich den Rücken stärken: Was Sie tun, das ist nicht Glamour und Cocktail, sondern das ist das Brot-und-Butter-Geschäft der Demokratie, die harte Arbeit im Weinberg der Demokratie. Das macht nicht immer Spaß, aber eines kann ich Ihnen versichern: Auf Cocktails kann man verzichten, aber ohne Sie alle geht es nicht.

Neulich habe ich etwas Wunderbares gelesen, und das will ich Ihnen zum Schluss nicht vorenthalten. Da hat nämlich ein Bürgermeister am Ende seiner jahrzehntelangen Laufbahn eine Stellenausschreibung für seine Nachfolge verfasst, und die ging so:

Ein Bürgermeister muss natürlich sein, muss ein begabter Gastredner sein, ein Sportler, ein Gesellschafter, der so nebenbei gleichzeitig noch sein Amt als Verwaltungschef zu führen hat. Er muss seinen privaten, familiären und natürlich auch beruflichen, politischen Verpflichtungen exzellent nachkommen und sich dabei noch kulturell und wissenschaftlich fortbilden. Die entscheidende Frage: Was braucht ein vollkommener Bürgermeister?, beantwortet der Autor dieser Zeilen gleich selbst. Der vollkommene Bürgermeister braucht den Humor eines Karnevalisten, die Urteilsfähigkeit eines Advokaten, den sprühenden Geist des Satirikers, die Kraft eines Büffels, das Gedächtnis eines Elefanten, die Würde eines Bischofs, das dicke Fell eines Rhinozeros und die dauernde Hoffnung, es könnte einmal etwas ruhiger zugehen.

Den einen oder anderen sehe ich lächeln, viele eher seufzen. Vermutlich wird es den Allermeisten von Ihnen häufig genauso gegangen sein.

Aber ich frage Sie am Ende: Könnte es einen schöneren Beruf geben als den, den Sie alle haben? Und ich bin sicher, Sie antworten: Nein!

Herzlichen Dank!