Antrittsbesuch beim Bundesverfassungsgericht

Schwerpunktthema: Rede

Karlsruhe, , 21. Juni 2017

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat bei seinem Antrittsbesuch beim Bundesverfassungsgericht am 21. Juni eine Ansprache gehalten. Darin sagte er: "Die Herrschaft des Rechts, gerichtliche und verfassungsgerichtliche Kontrolle staatlichen Handelns, der selbst der Gesetzgeber unterworfen ist, sind völlig unverzichtbar, weil sie ein Wesenskern des freiheitlichen Rechtsstaates sind."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache im Sitzungssaals des Bundesverfassungsgerichts anlässlich seines dortigen Antrittsbesuchs in Karlsruhe

Ich habe vor ein paar Jahren in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen, wie ich fand, ganz wunderbaren Artikel mit der Überschrift Wertschätzender Umgang der Verfassungsorgane gelesen. Ich bin hier, um Ihnen zu sagen: Ich will meinen Teil dazu beitragen, dass wir genau das in ein paar Jahren als Ergebnis unserer Zusammenarbeit feststellen können. Was Günter Bannas damals in seinem Artikel vielleicht sogar etwas ironisch hat anmerken wollen, das trifft, jedenfalls nach meiner Überzeugung, durchaus einen ganz wesentlichen Punkt in unserem Verfassungsleben: Das Grundgesetz etabliert ein System der gegenseitigen Mäßigung und Kontrolle, um Konflikte zwischen den politischen Akteuren in geordneten Bahnen zu halten oder, wo notwendig, auch zu lenken. Ja, wir wissen, dass der Konflikt nicht der Normalfall unseres politischen Lebens und des Verfassungslebens ist.

Aber von diesem Normalfall kann das Grundgesetz, jedenfalls nicht ausschließlich, handeln. Im Wissen um Spannungsverhältnisse zwischen den demokratischen Institutionen, aber vielleicht noch mehr aus leidvollen Erfahrungen, baut das Grundgesetz auf rechtsstaatliche Sicherungen. Die wirkmächtigste ist das Bundesverfassungsgericht und das nicht nur im Streit der Verfassungsorgane untereinander. Nein, es ermöglicht – und das ist selbst in den demokratischen Staaten Europas keine Selbstverständlichkeit – den Bürgerinnen und Bürgern, staatliches Handeln am Maßstab der Verfassung kontrollieren zu lassen. Aber jenseits dieser institutionellen Sicherungen erwartet unsere Verfassung – das ist meine feste Überzeugung –, dass die Verfassungsorgane nicht bewusst gegeneinander agieren, sondern miteinander für das bonum commune arbeiten.

Nun ist der wertschätzende Umgang miteinander maßgeblich durch Übungen und Regeln geprägt, und ich vermute, zu diesen ungeschriebenen Regeln gehört auch der regelmäßige Besuch des Bundespräsidenten beim Bundesverfassungsgericht, möglichst frühzeitig in seiner Amtszeit. Ich darf Ihnen nun sagen, dass das noch in den ersten hundert Tagen im neuen Amt gelungen ist. Ich bin deshalb heute sehr gerne hier und freue mich darüber, dass Sie mich – lieber Herr Voßkuhle – sehr herzlich begrüßt haben, zusammen mit vielen Ihrer Richterkollegen, die ich jetzt überwiegend nach dem Altersdurchschnitt schon nicht mehr aus meiner universitären Praxis kenne, aber den einen oder anderen von Ihnen bei den früheren Begegnungen von Bundesverfassungsgericht und Bundesregierung natürlich schon gesehen habe und mit Ihnen habe diskutieren können. Und ich bin natürlich auch hier, weil ich die besonders große Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts für unsere Rechtskultur, für das Rechtsbewusstsein unserer Bevölkerung, die prägende Kraft für die Verfassungsentwicklung unseres Landes kenne – eine Bedeutung, die weit über die Grenzen unseres Landes hinausreicht, wie ich Ihnen aus meiner Erfahrung in früheren Ämtern versichern kann.

Sie wissen, ich bin vor meinem Leben als Bundespräsident ein bisschen unterwegs gewesen in der Welt. Und ich bin auf diesen Reisen nicht nur einmal gefragt worden: Was begründet eigentlich den Erfolg des deutschen Rechtsstaates? Die Frage scheint einfach, aber die Antwort darauf ist nicht ganz banal.

Recht ist zuallererst eine Errungenschaft und eine kulturelle Leistung. Ein Blick in die Welt zeigt uns allerdings, dass diese Kulturleistung eben nicht überall so ausgeprägt ist wie bei uns. Was macht also die Attraktivität des Rechtsstaates eigentlich aus?

Ich glaube, zuvörderst schafft Recht Erwartungssicherheit. Rechtsnormen gestalten das Zusammenleben, ja, sie dirigieren das Verhalten der Menschen auch. Aber die Einhaltung rechtlicher Normen vermeidet etwas, was ganz wichtig ist im Zusammenleben: Das Recht gibt Sicherheit bis ins Private hinein, es lässt Menschen nicht zu ohnmächtigen Objekten von Strukturen oder gar der Willkür einzelner werden. Das gilt für verfassungsrechtliche Bestimmungen in besonderem Maße: Sie geben uns die Gewissheit, dass nicht morgen unsere Freiheit eingeschränkt, den Bürgern der Mund verboten oder die Menschen gepeinigt werden, weil sie etwa eine andere Religion haben. Und wer gegen Regeln verstößt, muss – und das gilt für alle – mit Konsequenzen rechnen.

Die Grundlage dafür sind Rechtstreue und Rechtsgehorsam, also die Bereitschaft, sich tatsächlich auch an Regeln zu halten. Und dieses rechtstreue Verhalten durchzieht unsere Gesellschaft vom privaten Vertrag bis hin zum Verhältnis der Bürger zum Staat, aber eben auch der staatlichen Akteure untereinander. Das Grundvertrauen der Bürgerinnen und Bürger wird dadurch gestützt, dass sie bei unabhängigen staatlichen Gerichten ihr Recht suchen können – also bei Institutionen, die, weil unabhängig von politischem Einfluss, sich selbst in ihren Entscheidungen allein am Recht orientieren können. Und dieses System einer Herrschaft des Rechts wird dadurch vollendet, dass das Bundesverfassungsgericht eben nicht nur über Streitigkeiten der Verfassungsorgane untereinander entscheidet, sondern vor allem auch für die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit bietet, ihre Grundrechte geltend zu machen: Grundrechte stehen nicht nur auf dem geduldigen Papier, sondern auch zur Durchsetzung bereit. Grundrechte können durchgesetzt werden.

Wenn ich den Schwerpunkt im Augenblick auf dem können lasse, dann, Herr Präsident, könnte man sich fragen, ob das eigentlich den Erfolg und das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts stützt: Denn nach Statistiken ist die Feststellung von verfassungswidrigem, weil grundrechtswidrigem, staatlichen Verhalten keineswegs an der Tagesordnung, sondern eher die Ausnahme. Entscheidend ist, glaube ich, etwas anderes, dass Gesetzgeber und Regierung wissen: Das Bundesverfassungsgericht scheut nicht vor Entscheidungen mit unangenehmen, manchmal auch weitreichenden Konsequenzen zurück. Dort, wo Sie Fehlentwicklungen und Korrekturbedarf sehen, ziehen Sie klare Grenzen, und das haben Sie auch in der Vergangenheit immer wieder getan. Zuletzt hat die Politik das gespürt bei ihrer Entscheidung über das Kernbrennstoffsteuergesetz.

Daneben aber haben Sie auch immer wieder die Rechte des Parlaments gegenüber der Regierung betont und diese Balance zwischen Legislative und Exekutive unter sich immer wieder verändernden Regierungen oder politisch-praktischen Bedingungen neu geschaffen. Mit Ihren Entscheidungen, zum Beispiel über Unterrichtungsrechte im Zusammenhang mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus oder Rüstungsexportgenehmigungen, haben Sie zugleich die Demokratie als solche gestärkt. Sie haben der Regierung gezeigt: An der Demokratie zu sparen, erweist sich am Ende als zu kostspielig. Dies alles führt letztlich dazu, dass schon die bloße Existenz des Verfassungsgerichts eine Art Verfassungsprävention entfaltet, die die staatlichen Organe dazu veranlasst, Verfassung eben nicht nur als bloße Orientierung für politisches Handeln zu begreifen, sondern Inhalt und Grenzen der Verfassung schon bei Bestimmung der Spielräume für politisches Handeln ernstzunehmen. Der Erfolg des Bundesverfassungsgerichts besteht also nicht darin, möglichst viele Gesetze, Entscheidungen oder staatliche Handlungen für verfassungswidrig zu erklären. Vielmehr sorgen seine Existenz und seine Korrekturmöglichkeiten dafür, dass die staatliche Ordnung in Deutschland nach den Vorgaben der Verfassung überwiegend funktioniert.

Über Widerstände gegen das Bundesverfassungsgericht haben wir eben schon gesprochen. Kritik hat es immer wieder erfahren. Ihrer Beliebtheit und dem Vertrauen, das Sie bei den Bürgerinnen und Bürgern genießen, hat das keinen Abbruch getan. Und Sie haben die Kritik auch immer ausgehalten, wussten und wissen immer angemessen und selbstbewusst, auch in der Öffentlichkeit, damit umzugehen.

Die Herrschaft des Rechts, die Unabhängigkeit der Justiz, gerichtliche und verfassungsgerichtliche Kontrolle staatlichen Handelns – eine Kontrolle, der selbst der Gesetzgeber unterworfen ist, sind also Errungenschaften, die unser Verfassungssystem herausheben und in ganz besonderer Art und Weise stabilisieren. Sie sind sogar völlig unverzichtbar, weil sie – nach meiner Überzeugung – ein Wesenskern des freiheitlichen Rechtsstaates sind. Und deshalb erstaunt es auch kaum, dass diktatorische oder autoritäre Regime als einen der ersten Schritte immer die Unabhängigkeit der Gerichte einschränken, rechtsstaatliche Maßstäbe an ihre Herrschaftssysteme anpassen und unabhängige Amtsträger durch mehr oder weniger willfährige ersetzen. Institutionelle Sicherungen reichen allein nicht. Es kommt – und das ist mir wichtig – also gerade auf das rechtsstaatliche Bewusstsein, nicht nur der Bürgergesellschaft, sondern vor allen Dingen der Amtsträger an. Jede Frau, jeder Mann muss dort, wo sie stehen, Haltung zeigen. Und wir wissen aus unserer eigenen Geschichte, wie wenig selbstverständlich das ist.

Wie wichtig eine in diesem Sinne unabhängige Justiz ist und wie sehr autoritäre Systeme danach trachten, diese unabhängige Rechtskontrolle möglichst umgehend auszuschalten, sehen wir leider in jüngsten Entwicklungen, und das nicht nur außerhalb der Grenzen der Europäischen Union. Es entspricht nicht unserer westlichen Werteentwicklung und Rechtskultur, wenn die Sicherungen des freiheitlichen Rechtsstaats durch eine falsche Betonung demokratischer Mehrheitsverhältnisse beseitigt werden sollen. Einige bezeichnen das, was wir sehen, als Hypertrophie der Demokratie: wenn rechtsstaatliche Kernelemente mit dem Argument, man habe ja die Mehrheit bei den Wahlen errungen und das Volk stehe hinter der Regierung, ausgehebelt werden. Ich bin nicht sicher, ob Hypertrophie wirklich die angemessene Beschreibung ist. Da in der Praxis diese Politik regelmäßig einhergeht mit Vorteilsverschaffungen unterschiedlicher Art und politisch bedingten Entlassungen, geht es – glaube ich – um mehr als Hypertrophie. Liberale westliche Demokratie, wie sie den europäischen Rechtskulturen zugrunde liegt und die man eine gemeineuropäische Errungenschaft nennen kann, beinhaltet eben Gewaltenteilung, Rechtsstaat, aber auch Minderheitenschutz, Grundrechtsgeltung und unabhängige Gerichte. Wo das nicht der Fall ist, wo das aufgegeben wird, wird auch der Boden dieser eben beschriebenen gemeinsamen Rechtskultur verlassen.

Ich weiß, lieber Herr Voßkuhle, lieber Herr Kirchhof, und meine Damen und Herren Richterinnen und Richter, dass Sie diese Entwicklung in manchen Teilen Europas genauso umtreibt und beunruhigt wie mich. Auch ich sehe die Entwicklung mit tiefer Besorgnis und bin froh darüber, dass Sie sich im Rahmen Ihrer Möglichkeiten im Verbund der europäischen Verfassungsgerichte für eine Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz einsetzen. Ich kann Sie nur bitten: Lassen Sie nicht nach. Sie dürfen sicher sein: Den Bundespräsidenten haben Sie bei diesen Bemühungen an Ihrer Seite.

Das ist nur ein kleiner Ausschnitt der Fragen, die uns heute und in den nächsten Jahren miteinander gemeinsam bewegen werden. Auch wenn wir nicht alarmistisch sein müssen – und das bin ich schon von meiner ostwestfälischen Wesensart her nicht –, so sollten wir aufmerksam und wachsam sein. Die Errungenschaften unserer freien Gesellschaften und Staaten sind keine Selbstverständlichkeit. Sie werden in Frage gestellt, und sie sind gegenwärtig schon in anderen Regionen Europas Anfechtungen ausgesetzt. Und deshalb müssen wir nachhaltig für sie werben und sie – wo das notwendig ist – auch verteidigen.

Ich bin gespannt, wie Sie alle über diese Fragen denken und freue mich auf unseren Gedankenaustausch, den wir gleich haben werden. Ich bin wirklich neugierig auf die Gespräche.

Nochmals: Danke – auch im Namen meiner Frau – für das herzliche Willkommen, das wir hier genießen dürfen. Ich bin gerne, und ich darf Ihnen versichern, aus Überzeugung hier.

Vielen Dank!