Antrittsbesuch in Brandenburg: Verabschiedungsfeier von Absolventen der Universität Potsdam

Schwerpunktthema: Rede

Potsdam, , 22. Juni 2017

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 22. Juni bei einer Absolventenfeier der Universität Potsdam eine Ansprache gehalten. Darin sagte er: "Demokratie lebt von denen, die mehr tun als sie müssten. Demokratie lebt von denen, die an ein bisschen mehr denken als an sich selbst, die Verantwortung übernehmen, die Veränderungen nicht nur erhoffen, sondern sie vielleicht sogar anstoßen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei einer Absolventenfeier der Universität Potsdam in der Kolonnade am Neuen Palais anlässlich seines Antrittsbesuch in Brandenburg

Gratulation! Dieser Tag gehört mit großer Wahrscheinlichkeit zu denen, die Sie in Ihrem Leben nicht vergessen werden. Endlich scheinfrei. Endlich da angekommen, wo man über sechs, acht, zehn, mancher vielleicht über deutlich mehr Semester lang gern hinwollte. Endlich am Ende der Mühen! – Und zugleich am Anfang von etwas Neuem.

Was für ein Moment. Wir feiern heute all das, was Sie geleistet haben in den vergangenen Jahren, was Sie geworden sind durch Fleiß und Ausdauer, vielleicht auch mal durch ein bisschen Glück, weil zum entscheidenden Zeitpunkt die für Sie richtigen Fragen gestellt wurden und nicht die falschen. Ich darf Ihnen verraten: Das wird so bleiben. Die Zukunft wird andere Arten von Prüfungen für Sie bereithalten, sie wird Ihnen immer wieder Durchhaltevermögen abverlangen.

Dabei sollten Sie weiterhin auf sich selbst vertrauen, gelegentlich auch auf das, was man Fügung nennt. Wilhelm von Humboldt hätte wohl gesagt: Fortune. Ich kann hier nicht guten Gewissens eine Rede halten, ohne ihn zu erwähnen, den liberalen Vordenker und Fackelträger der Aufklärung, den Bildungspolitiker und Sprachwissenschaftler, den Schriftsteller und Staatsmann. Heute nämlich, vor genau 250 Jahren, wurde Wilhelm von Humboldt in Potsdam geboren, nur zwei Kilometer entfernt von diesem Ort. Damals befand sich das Neue Palais, auf das ich gerade blicke, noch im Bau. Das Zeitalter Humboldts war in vieler Hinsicht mit unserem natürlich nicht zu vergleichen, aber manche seiner Sätze sind so zeitlos wie die Architektur seiner Epoche. Ein Beispiel, das ich Ihnen, liebe Absolventinnen und Absolventen, mitgebracht habe, ein Motto von Wilhelm von Humboldt, es lautet: Nur der Wechsel ist wohltätig. Unaufhörliches Tageslicht ermüdet. Zitat Ende.

Unaufhörliches Tageslicht ermüdet… Humboldt will Ihnen wohl raten: Feiern Sie heute bis tief in die Nacht hinein! Aber der erste Teil des Zitats ist vielleicht auch ein guter Rat für andere Situationen in Ihrem Leben. Nur der Wechsel ist wohltätig. Will sagen: Wer sich entwickeln will, der muss Wandel akzeptieren, ja wollen, muss offen bleiben für Veränderung. Das mag in Ihrem jugendlichen Alter wie eine Binse klingen. Aber wenn sich einige von Ihnen in zehn oder zwanzig Jahren gemütlich eingerichtet haben in einem Beruf, oder in einer Stadt, oder in einem Lebensmodell, dann werden Sie zweimal, dreimal überlegen, ob Sie diese Komfortzone, die Sie erreicht haben, eigentlich jemals wieder verlassen wollen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich dann an Wilhelm von Humboldt erinnern. Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich dann etwas Neues zutrauen, etwas Schwieriges wagen, vielleicht sogar ein Risiko eingehen, weil Sie erfahren genug sind, dieses Risiko zu kalkulieren. Nur so kommt Exzellenz, nur so kommt Innovation in die Welt. Großartiges entsteht ja nicht, wenn wir es gerade bequem haben. Großartiges entsteht aus Anstrengung, aus Zweifel, manchmal auch aus vorläufigem Scheitern.

Das kennt jeder – das kennt auch der Bundespräsident. Vor acht Jahren habe ich mich zur Wahl als Bundeskanzler in diesem Land gestellt. Habe geworben, geredet, Konzepte erklärt – und bin nach einem anstrengenden Wahlkampf krachend gescheitert. Das war bitter, ja. Aber Sie müssen wissen: Im gleichen Moment entstand für mich etwas völlig Neues, ich habe in Brandenburg, nicht weit von hier im schönen Havelland, eine neue politische Heimat gefunden. Ich durfte als Bundestagsabgeordneter über acht Jahre lang in dieser Region dienen, hier zuhause sein – und das, obwohl ich eigentlich nicht von hier, sondern in Ostwestfalen geboren bin. Sie sehen: Nur der Wechsel ist wohltätig.

Bitte geben Sie sich nicht mit weniger zufrieden, als Sie leisten können – und lassen Sie sich von Rückschlägen nicht aufhalten. So viele Menschen setzen große Hoffnungen in Sie. Als die Jüngsten von Ihnen geboren wurden, startete das wiedergegründete Land Brandenburg gerade seine Hochschuloffensive. Der schönste Erfolg all dessen, das sind Sie, liebe Absolventinnen und Absolventen. Noch wichtiger als die hohen Erwartungen von außen wird allerdings sein, dass Sie selbst eines Tages nicht das Gefühl haben, hinter Ihren Möglichkeiten zurückzubleiben, sei es als Wissenschaftlerin oder Unternehmer, als Selbständige oder Beamter, als Mitarbeiterin oder ganz einfach als Mitmensch.

Wir leben in einer Zeit, in der viele möglichst entspannt ihr Glück finden wollen. Ich gönne das wirklich jedem. Aber Teil meiner Erfahrung ist eben auch: Glück entsteht oft dann, wenn man wirklich hart für etwas arbeitet – und es gelingt. Selbstwirksamkeit nennen das die Psychologen. Und das bezieht sich bei weitem nicht nur auf den Beruf oder das, was gemeinhin Karriere heißt. Selbstwirksamkeit spürt auch, wer nach einem unspektakulären Bürotag abends einem syrischen Flüchtling beim Deutschlernen hilft. Selbstwirksamkeit spürt, wer ein Kind groß zieht – sogar in doppelter Weise, denn die Kleinen lernen früh, sich durchzusetzen. Selbstwirksamkeit ist ein Moment, in dem wir wissen, warum wir etwas tun und für wen. Und Selbstwirksamkeit ist auch der Moment, in dem wir uns entscheiden: Jetzt ändere ich etwas – persönlich, vielleicht sogar politisch.

Wenn ich hier in die Reihen sehe – in so viele Gesichter Mitte, Ende Zwanzig –, dann wüsste ich gern: Sitzt hier der künftige Oberbürgermeister von Potsdam, Cottbus, Frankfurt an der Oder, die neue Generalsekretärin der Vereinten Nationen oder der Leiter eines Klimaschutzreferates? Sitzt hier jemand, dessen Namen in dreißig Jahren alle kennen, weil er beschlossen hat, vielleicht in kleinen Schritten, aber doch die Welt zum Besseren zu verändern? Nur der Wechsel ist wohltätig. Das könnte dann auch bedeuten: Perspektivwechsel. Als Außenminister hätte ich ohne diese Bereitschaft jedenfalls nicht bestehen können. Wenn unterschiedliche Auffassungen aufeinandertreffen, gewinnt ja nicht der, der am lautesten ruft: Ich habe Recht. Ich kenne die Lösung. Fast im Gegenteil: Wer so auf Sieg setzt, der hat meistens ganz am Anfang schon verloren. Meine Erfahrung ist eine andere: Erfolgreich sind am Ende diejenigen, die in der Lage sind, eine Situation auch aus der Warte der anderen zu sehen, Gegenargumente anzuhören und sinnvoll aufzunehmen.

Ihr Präsident, Herr Professor Günther, hat gerade in einer Beilage zum Berliner Tagesspiegel geschrieben, dass und warum die Universität Potsdam zum Erbe der Europäischen Aufklärung steht und sich ihm verpflichtet fühlt. Und zu diesem Erbe gehört eben auch der vernunftgeleitete Lehrsatz, dass man in jeder Debatte für möglich halten sollte, dass auch der andere Recht haben könnte. Das gilt in der internationalen Politik. Und das gilt zuhause bei den Mühen der Ebene, die wir mit der Überschrift Demokratie versehen. Streitkultur will gelernt sein. Nur gibt es dafür eben leider keine wirksame Prüfungsvorbereitung, kein Zertifikat, mit dem man absichern könnte: Jetzt sind Sie ein guter Demokrat! Unbenommen: Bildungsträger aller Art versuchen immer wieder, Sachkenntnis und Lust auf politische Teilhabe zu verbreiten. Aber im Alltag erleben wir oft das genaue Gegenteil: Hassparolen auf den Straßen oder in den sozialen Medien. Egotrips, die nur noch die eigene Meinung, das eigene Weltbild zulassen. Von Perspektivwechsel ist dann weit und breit keine Spur.

Das trifft doch auf uns nicht zu, mögen Sie jetzt vielleicht sagen. Wir sind doch anders, Herr Bundespräsident. Ja, das will ich gerne glauben, und weil ich das glaube, will ich eine Bitte anschließen: Machen Sie etwas aus all dem, was Sie gelernt haben! Mischen Sie sich ein – gesellschaftlich, sozial und politisch. Seien Sie das Korrektiv, wenn ein Online-Forum aus dem Ruder zu laufen droht. Seien Sie derjenige, der kandidiert, wenn ein Stadtrat gesucht, ein Betriebsrat gewählt oder eine Bürgerinitiative gegründet wird. Seien Sie der Mann oder die Frau der Stunde, wenn Zivilcourage gefragt ist, wenn mal jemand einschreiten und sagen muss: Bis hierher und nicht weiter!

Mut zur Demokratie habe ich in meiner Antrittsrede im Deutschen Bundestag gefordert und bin von nicht wenigen gefragt worden: Was das ist – dieser Mut? Ist das wirklich nötig? Ist das nicht übertrieben in Deutschland, während Menschen in ganz anderen Regionen der Welt ihr Leben riskieren, weil sie sich für Demokratie, Freiheit und Pluralismus einsetzen? Ja und Nein könnte man antworten – je nach Perspektive. Es braucht natürlich ungleich größeren Mut, auf einer Dorfstraße in Ostafrika zu seiner Homosexualität zu stehen als auf dem Campus von Golm. Es braucht ungleich größeren Mut, einen regierungskritischen Blog in der Diktatur zu schreiben als bei uns, wo die Sorgen um die Kommunikationsqualität im Internet ganz anderer Natur sind. Das alles stimmt natürlich. Aber eines stimmt auch: Demokratie lebt von denen, die mehr tun als sie müssten. Demokratie lebt von denen, die an ein bisschen mehr denken als an sich selbst, die Verantwortung übernehmen, die Veränderungen nicht nur erhoffen, sondern sie vielleicht sogar anstoßen.

Ich finde es mutig, das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen, das Amt des Bürgermeisters in einer Kommune anzutreten, die vielleicht verschuldet ist und bei der man schon beim Antritt weiß, dass man mit den nötigen Einschnitten viel Kritik auf sich zieht. Ich finde es mutig, für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung gegen Anfeindungen einzustehen, sei es gegen Extreme von ganz rechts oder ganz links – wohl wissend, wie schnell man bei solchen Kontroversen in Gefahr geraten kann. Ich finde es mutig, in einer hitzigen Diskussion – sei es online oder offline – gegen die mit den ganz lauten und einfachen Antworten anzustinken und zu sagen: Moment mal, so schwarz-weiß ist die Lage nicht – nicht in der Europäischen Union, nicht in der Flüchtlingspolitik, nicht im Nahen Osten, nicht in Syrien.

Und ich finde es mutig, dass eine Frau wie Hilal Alkan in ihrem Heimatland, der Türkei, Zivilcourage gezeigt hat, damit angeeckt ist, sich aber nicht aufhalten lässt, sondern ihren wissenschaftlichen wie persönlichen Weg weitergeht. Dass Frau Dr. Alkan heute bei uns ist und den ersten Voltaire-Preis bekommt, freut mich außerordentlich. Und deshalb vorab schon einmal: Ganz herzlichen Glückwunsch!

Liebe Absolventinnen und Absolventen, der Alltag in der Demokratie mag vielen Ihrer Altersgenossen hier in Deutschland selbstverständlich erscheinen, bequem ist er bei genauerem Hinsehen nirgendwo. Und erst recht kein Selbstläufer, Demokratie ist nicht auf ewig garantiert, wenn sich nicht einige und möglichst viele darum kümmern.

Wir werden in Ihrer Generation deutlich mehr Menschen brauchen, die für das Miteinander der Verschiedenen einen Modus finden. Wir werden deutlich mehr Menschen brauchen, die in großen Zusammenhängen denken, forschen und sich vernetzen, damit wir globale Aufgaben wie den Klimawandel, den Umgang mit knappen Ressourcen und die weltweite Migration so bewältigen, dass es nicht zu politischen Eskalationen kommt. Deshalb werbe ich so sehr um die Entschlossenen, um diejenigen, die mutig sind oder wie immer Sie es dann nennen wollen.

Wilhelm von Humboldt jedenfalls wäre heute stolz auf Sie, auf einen Absolventenjahrgang mit so vielen lebenden Beweisen für das Humboldtsche Bildungsideal, wie ich sie hier sehen kann. Wenn Sie Ihre Zeugniskopien demnächst in Bewerbungsmappen legen, dann lassen Sie sich nicht gleich entmutigen, falls eine Absage kommt. Ich hatte mich 1987 im Hessischen Umweltministerium als Hilfsreferent beworben, bin umstandslos und ohne jede Begründung abgelehnt worden. Zu Unrecht, fand ich damals, und natürlich war ich betrübt. Aber stellen Sie sich vor, das hätte damals geklappt: Ich wäre mit Sicherheit weder Außenminister geworden noch Bundespräsident, sondern, was auch ehrenhaft ist, vielleicht Referatsleiter für Abfallwirtschaft.

Warum sage ich Ihnen das, meine Damen und Herren? Weil ich Ihnen zum Schluss eines wünschen möchte: Finden Sie die richtige Mischung – einerseits am Glück des Lebens bauen, ja, aber andererseits eben auch ein Stück weit darauf vertrauen.

In diesem Sinne, liebe Absolventinnen und Absolventen, ganz herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Abschluss und für Ihren weiteren Lebensweg: alles, alles Gute!

Herzlichen Dank!