Festakt "100 Jahre Synagoge Augsburg"

Schwerpunktthema: Rede

Augsburg, , 28. Juni 2017

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 28. Juni beim Festakt zum 100-jährigen Jubiläum der Augsburger Synagoge eine Ansprache gehalten: "Es gibt Antisemitismus in unserem Land. Er steckt in der tumben Hetzparole ebenso wie in der versteckten, scheinbar entgleisten intellektuellen Nebenbemerkung. An das eine wie das andere dürfen wir uns niemals gewöhnen!"

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache beim Festakt zum 100-jährigen Jubiläum der Augsburger Synagoge

Wie schön sind deine Zelte, Jakob – so hieß eine Ausstellung über die Synagogen in Schwaben, die vor einigen Jahren auch in diesen Räumen zu sehen war. Und, ja: Das ist es, was einem einfällt, wenn man hier um sich blickt. Was für ein schöner Raum, was für ein besonderes Haus!

Es gab viele Synagogen in dieser Gegend. Schöne, große und kleine, bedeutende und weniger bedeutende – unter ihnen war diese hier, die Augsburger, erbaut von Fritz Landauer und Heinrich Lömpel, sicher die bedeutendste. Die wenigsten Synagogen haben die Zeit des Nationalsozialismus überdauert. Von den vielen sichtbaren Zeichen deutsch-jüdischen Selbstbewusstseins sind oft nur Spuren geblieben – meistens nicht einmal Ruinen. Was weithin sichtbar war, sollte verschwinden. Auch diese Synagoge sollte zerstört werden. Gerettet hat sie am Ende nicht der Mut Einzelner, sondern die Angst des braunen Mobs, der befürchtete, eine benachbarte Tankstelle könnte explodieren, und die ganze Häuserzeile zerstören.

Die Barbarei der Nationalsozialisten, aber auch das mangelnde Mitgefühl mit den jüdischen Nachbarn, der fehlende Mut der Mehrheit, den Mächtigen in den Arm zu fallen – das macht es schwer, Worte zu finden, für einen deutschen Bundespräsidenten, aber letztlich für jeden, der hier an meiner Stelle stehen und über die Geschichte dieser Synagoge sprechen will, über die Abgründe ihrer Geschichte und das Schicksal ihrer Besucher. Das Entsetzen über Hass und Zerstörung, die Trauer über den Verlust, der Schmerz über das Unwiederbringliche mischen sich auf ewig in die Freude über dieses Haus, über die Schönheit seiner Räume, über das, was es für seine Gemeinde und für die Augsburger nun seit einhundert Jahren bedeutet.

Die Augsburger Synagoge war und ist eine der schönsten Deutschlands. Es ist ein Glück, dass Sie erhalten geblieben ist – ein Glück für die Gemeinde, für die Stadt und für uns alle. Eine Synagoge ist immer auch ein Zuhause, ein Ort der Geborgenheit für ihre Gemeinde. Das gilt auch heute wieder.

1985, 40 Jahre nach Kriegsende, in dem Jahr, in dem mein Vorgänger Richard von Weizsäcker den Deutschen – und sich selbst – dabei half, ihre Geschichte als das anzunehmen, was sie war, da begann hier in Augsburg das neue Leben der jüdischen Gemeinde. Und damals, vor der Einweihung, sprach Walter Jacob, der Sohn des letzten Rabbiners in Augsburg, und er erinnerte die Deutschen daran, dass die Erbauergemeinde sich hier vor dem Krieg – ich zitiere ihn – vollkommen zu Hause gefühlt habe. Er hoffe, so sagte Walter Jakob damals, dass diese Synagoge nicht nur ein Denkmal sein würde, sondern das Zentrum einer neuen, wachsenden, kraftvollen Gemeinde. Heute scheint mir: Das ist gelungen!

Walter Jacob hat seine Kindheit in diesen Räumen verlebt. Er spielte im Garten der Synagoge, ging in einem Nebengebäude des Gemeindehauses zur Schule und er genoss die Geborgenheit einer Gemeinschaft, die außerhalb dieser Mauern angefeindet und bedroht wurde. Es gelang seinen Eltern, schrieb er später, die Schrecken jener Zeit von uns Kindern fernzuhalten.

Es gelang ihnen nur bis zum frühen Morgen des 10. November 1938, als der Mob in die Synagoge eindrang, randalierte, plünderte, Feuer legte und schließlich den Rabbiner, seinen Vater Ernst Jacob, verhaftete, um ihn gemeinsam mit dem Synagogendiener ins Konzentrationslager Dachau zu bringen. Mit diesem Tag endete nicht nur die deutsch-jüdische Familiengeschichte der Jacobs. Es endete ein Teil deutsch-jüdischer Geschichte: die Geschichte jüdischer Emanzipation, politischer, gesellschaftlicher und religiöser Gleichberechtigung, die Geschichte des jüdischen Bürgertums und des liberalen Judentums in Deutschland. Jüdische Bürger haben diese Synagoge erbaut. Für diesen Teil gemeinsamer Geschichte steht dieses Haus. Der gewaltsame Abbruch dieser Geschichte bedeutete Verfolgung, Vertreibung, Folter und millionenfachen Mord – die Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland, ohne dass das Land der Täter ahnte, oder wahrhaben wollte, welch irreparablen Schaden es sich selbst zufügte.

Wir können deshalb nicht nahtlos an Vergangenes anknüpfen. Bei seiner Rückkehr 1985 sagte Walter Jacob, der Weg zurück nach Augsburg führe durch Dachau. Aber dass wir mit seiner Hilfe und der Hilfe vieler anderer neu beginnen konnten, ist ein kostbares Geschenk. Ich denke an Julius Spokojny, an Mitek Pemper und Ernst Cramer und ich danke Henry Stern und Gernot Römer, die heute Abend unter uns sind. Wir wollen dieses starke selbstbewusste, orthodoxe wie liberale jüdische Leben in Deutschland. Es ein weiteres Mal preiszugeben, das muss auf ewig undenkbar bleiben.

Und deshalb will ich es auch an diesem Jahrestag deutlich aussprechen: Ja, es gibt Antisemitismus in unserem Land. Er steckt in der tumben Hetzparole ebenso wie in der versteckten, scheinbar entgleisten intellektuellen Nebenbemerkung. An das eine wie das andere dürfen wir uns niemals gewöhnen! Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass Synagogen in unserem Land immer noch von der Polizei bewacht werden müssen. Wir dürfen nicht ertragen, dass völkisches Gedankengut wieder Einzug hält in politische Reden. Wir dürfen es nicht hinnehmen, wenn Einwanderer aus muslimisch geprägten Regionen auch Feindbilder importieren. Wir dürfen es nicht durchgehen lassen, wenn aus Kritik an israelischer Regierungspolitik mit einem boshaften Winkelzug eine Infragestellung Israels wird. Antisemitismus muss uns empören, nicht weil wir eine Schuld abzutragen haben, sondern weil wir Menschen sind und weil wir Verantwortung tragen. Lassen Sie uns wachsam sein – wachsamer denn je!

Wie schön sind deine Zelte, Jakob,
deine Wohnungen, Israel.
Gleich Tälern breiten sie sich aus,
gleich Gärten am Strome,
gleich Aloebäumen, die der Herr gepflanzt hat,
gleich Zedern am Gewässer.

Ja, diese Sehnsucht, die Sehnsucht nach Heimat – wie wunderbar ist sie beschrieben, hier im vierten Buch Mose, und wie vertraut hört sich das für uns an. Ich glaube, man muss nicht jüdisch sein, wenn diese Zeilen einem direkt ins Herz dringen.

Juden, Christen und Muslime; Gläubige und Nichtgläubige; die, die schon immer in Deutschland sind, und die, die neu hinzugekommen sind: Wir alle wollen in unserem Land vollkommen zu Hause sein, wie der Rabbiner damals formuliert hat.

Ich weiß sehr wohl: Das ist ein hehres Ziel, und eine schwierige Aufgabe, in Zeiten, in denen so viele, so unterschiedliche Menschen in unserem Land ihre Heimat suchen, und in denen so viel Spannung herrscht, im Inneren und im Äußeren. Vieles ist ungeklärt, und vieles müssen wir neu verhandeln, wenn Deutschland für die einen Heimat bleiben, und für die, die hinzugekommen sind, Heimat werden soll.

Aber eines, meine Damen und Herren, ist gewiss: Antisemitismus zerstört Heimat für uns alle. Der Kampf gegen den Antisemitismus ist nicht nur eine Frage der Solidarität, er ist ein Kampf für all das, was uns als Gesellschaft zusammenhält. Oder, mit anderen Worten: Nur wenn Juden in Deutschland vollkommen zu Hause sind, ist diese Bundesrepublik vollkommen bei sich. Nur dann ist sie ein Zelt, ein Garten am Strome, ein Ort, der den schönen Namen Heimat verdient.