Abendgespräch "Von der Bonner zur Berliner Republik – Erinnerungen und Lehrstücke"

Schwerpunktthema: Rede

Villa Hammerschmidt, , 5. September 2017

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 5. September zum Auftakt der Gesprächsrunde "Von der Bonner zur Berliner Republik – Erinnerungen und Lehrstücke" eine Ansprache gehalten: "In der Bonner Republik waren die Mechanismen der Meinungsbildung so überschaubar wie die Bundeshauptstadt selbst. Es gab vergleichsweise stabile Milieus und Wählerneigungen, das Leben in der Politik schien von heute aus betrachtet doch einigermaßen berechenbar."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache zum Auftakt der Gesprächsrunde 'Von der Bonner zur Berliner Republik: Erinnerungen und Lehrstücke' in der Villa Hammerschmidt in Bonn

Was für ein wunderbarer Auftakt. Erlauben Sie mir, nicht mit einer protokollarischen Anrede, sondern mit einem Gruß an unsere jungen Musiker zu beginnen: Dankeschön!

Ich liebe Jazz, und der erste Titel hätte passender für unser heutiges Thema kaum sein können: Where or when – wo oder wann habe ich das schon einmal gehört, schon einmal gesehen, schon einmal empfunden? Solche Déjà-vus erleben wir in vielen kleinen Momenten des Alltags, zuweilen auch in der Politik. Dann klingt ein Satz plötzlich sehr vertraut, vielleicht eine ganze Kampagne wie anno dazumal, obwohl doch viele Jahre vergangen sind. Natürlich kennen wir auch das Gegenteil, das berühmte Gefühl: Früher war alles anders, vor allem alles besser. Zwischen diesen beiden Extremen schwankt das Gedächtnis eines jeden Einzelnen, schwankt vermutlich auch das Gedächtnis einer Nation. Woran wir uns erinnern, ist selten objektiv, eher eine bunte Collage aus Schlagworten, Bildikonen, nicht zuletzt aus der Deutung, die Eltern, Lehrer, Freunde, Korrekturinstanzen aller Art in unseren Gemütern zulassen. Privat wie politisch gilt, glaube ich: Wir erinnern uns an das, was wir erinnern können und wollen, am liebsten an Geschehnisse, die sich reibungslos in die Glaubenssätze unserer Gegenwart einfügen.

Oder anders gesagt: Verklärung ist eine Naturgewalt, auch im Zeitalter schier unerschöpflicher Filmarchive und der vermeintlichen Gewissheit, im Internet doch jederzeit alles und jeden recherchieren zu können. Deshalb habe ich Sie heute ganz klassisch, ich könnte auch sagen ganz analog in die Villa Hammerschmidt eingeladen, an einen authentischen Ort und mit einem absichtlich etwas offenen Titel: Von der Bonner zur Berliner Republik – Erinnerungen und Lehrstücke. Ich wollte ja nicht schon mit der Überschrift vorgeben, was hier zur Sprache kommen soll, und vor allen Dingen, was nicht. Aber ich gebe zu, wenn Sie sich umschauen, an der Einladungsliste wird dann doch erkennbar, was ich mir im Stillen von diesem Abend erhoffe – möglichst viele Perspektiven, möglichst unterschiedliche Stimmen zu der Frage, wie unser Land wurde, was es ist. Woran sind wir gewachsen, woran gescheitert als Gesellschaft? Und was haben wir gegebenenfalls daraus gelernt?

Sie alle sind Zeitzeugen für solche Täler und Triumphe: vom Bundesminister a. D. bis zum amtierenden Oberbürgermeister, vom Journalisten bis zum Chefredakteur, vom Kulturschaffenden bis zur Ehefrau, die ihrem Mann jahrzehntelang den Rücken freigehalten hat, wie das in Zeiten umschrieben wurde, als Frauen in Führungspositionen eher die Ausnahme waren.

All diese Biografien sind Teil des großen Bogens, um den es heute gehen darf und gehen soll. Ein Mann wie Jürgen Schmude denkt vielleicht an seine Jahre im Kabinett von Helmut Schmidt zurück, oder Friedel Drautzburg an seinen Kampf um die Hauptstadt Bonn, die herbe Niederlage 1991, und wie es dann umso imposanter gelang, sich in Berlin niederzulassen und ein Stück Rhein an die Spree umzuleiten. In diesem Sinne: Alles fließt. Nachher gibt es übrigens auch Kölsch.

Wahrscheinlich wird sich der Abend bis dahin wie ein Mosaik entwickeln, ein Bild aus Erinnerungsschnipseln, von denen wir uns wünschen, dass sie im kollektiven Gedächtnis irgendwo ihren Platz finden, sei es als Inspiration oder wo nötig auch als Mahnung. Die Professoren hier im Saal mögen uns nachsehen, dass wir den Anspruch auf Vollständigkeit gleich zu Beginn aufgeben, denn dazu ist der Bogen von der Bonner zur Berliner Republik einfach zu weit, sind die Themen zu vielschichtig. Denken wir nur an die Geburtsstunde des Grundgesetzes und das Provisorium, das Bonn dann sehr lange bleiben sollte, an die Ära Adenauer von den Anfängen der Westbindung bis zum Mauerbau, oder an das Wirtschaftswunder, an die Soziale Marktwirtschaft unter Ludwig Erhard, an die Auschwitz-Prozesse, an die erste Große Koalition, an den Streit um die Ostpolitik, an Benno Ohnesorg, Rudi Dutschke und die Themen der protestierenden 1968er – Geschichtsvergessenheit, Bildungsnotstand, Vietnamkrieg, überkommene Konventionen – an die vielen danach noch folgenden Kämpfe gegen das Establishment, Kämpfe mit Worten und – auch das gab es – Kämpfe mit Waffen.

Die Bonner Republik hat blutige Einschnitte erlebt, zwei allein an diesem heutigen Datum, an einem 5. September. 1972 überfallen palästinensische Attentäter das Quartier der israelischen Mannschaft im olympischen Dorf von München. Sie ermorden zwei Sportler, nehmen neun Geiseln, fordern die Freilassung von mehr als zweihundert in Israel gefangenen Palästinensern und der RAF-Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof. In der Nacht zum 6. September scheitert die Befreiungsaktion am Fliegerhorst in Fürstenfeldbruck. Alle Geiseln sterben, auch ein Polizeibeamter und fünf der Attentäter.

Morgen werde ich gemeinsam mit Staatspräsident Rivlin auf der Gedenkfeier in München sprechen und den neuen Erinnerungsort im Olympiapark eröffnen. Ich gehöre zu denen, die sehr dankbar dafür sind, dass ein solcher Ort nun existiert. Aber ich werde auch eingestehen: Es war ein langer Weg dorthin. Diese Lücke schließt sich spät.

1977 geriet ein weiterer 5. September zur Zäsur. Für Gerhart Baum, den ich heute Abend herzlich begrüße, war es der Beginn eines politischen Ausnahmezustandes, wie er rückblickend einmal sagte. Es war der Tag der Entführung von Hanns Martin Schleyer. Der Tag, als dessen Fahrer Heinz Marcisz und die drei Begleiter – die Polizisten Reinhold Brändle, Roland Pieler, Helmut Ulmer – ermordet wurden.

Ich habe heute am Gedenkkreuz in Köln-Braunsfeld mit den Angehörigen der Opfer getrauert, mit ihnen gesprochen und erneut gehört, dass das Geschehene eben nicht Geschichte ist – nicht für die Angehörigen, die geprägt sind von den Ereignissen, von den Morden, die tiefe Spuren in ihrer eigenen Biografie hinterlassen haben.

Getroffen habe ich mich heute auch mit Menschen, die sich seit Jahren, teilweise Jahrzehnten intensiv mit der Geschichte der sogenannten Rote Armee Fraktion und mit dem Deutschen Herbst beschäftigen. Vielen Dank, liebe Frau Frenz, für die intensive Zusammenarbeit mit der Hanns Martin Schleyer-Stiftung, die wir bis zur Veranstaltung am 18. Oktober in Bellevue fortsetzen werden. Vielen Dank auch, lieber Hanns-Eberhard Schleyer, und Dank an Sie, liebe Experten, dass Sie mir Ihre Zeit geschenkt haben: Frau Professor Terhoeven, Frau Dr. Ameri-Siemens, verehrter Herr Peters, ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie alle nach Bonn gekommen sind.

Auch wenn die Forschung viel erreicht hat: Einige Fragen über die Geschehnisse sind immer noch offen. Sie sind offen, weil die Täter weiterhin schweigen. Der Mythos der Terroristen lebt von diesem Schweigen, lebt von den immer wiederkehrenden, unbeantworteten Fragen. Ich glaube, der Spiegel hat die RAF, zu Recht – und sogar mehrfach – die Untoten der Bonner Republik genannt.

Umso wichtiger ist es, dass wir solchen Unschärfen in der Aufarbeitung so viele Fakten wie möglich entgegen setzen. Danke an alle, die dazu beitragen. Etliche Medien haben den 40. Jahrestag des Deutschen Herbsts zum Anlass für eine Rückschau genommen. Die Redaktion des Kölner Stadt-Anzeigers hat mir gerade eben bei meinem Besuch im Neven DuMont-Haus eine aktuelle Sonderausgabe überreicht.

Der Rundgang dort passte noch in ganz anderer Hinsicht zum Thema unseres heutigen Abends. Neben der traditionellen Druckstraße gibt es bei Neven DuMont seit kurzem einen nagelneuen Newsroom, sozusagen das digitale Zeitalter zum Anfassen. Ein Zeitalter, in dem nicht zuletzt die politische Kommunikation, das spüren Sie alle, ganz offensichtlich anders funktioniert als wir es noch gelernt haben. Was viele von uns mit den Bonner Jahren verbinden – vielleicht die Beschaulichkeit, vielleicht die Vertrautheit, vielleicht auch die gewisse Nähe zwischen Politik und der Berichterstattung über Politik – vieles davon änderte sich. Unter 3 ist zwar auch heute noch unter 3, jedenfalls hoffen das Politiker immer, aber das Miteinander – auch der Journalisten – ist durch den tiefgreifenden Wandel der Medienwelt ein anderes geworden: hektischer, härter und wem sage ich es, zum Teil auch hemmungsloser.

Was bedeutet das für die Zukunft unserer Demokratie? In der Bonner Republik waren die Mechanismen der Meinungsbildung so überschaubar wie die Bundeshauptstadt selbst. Es gab vergleichsweise stabile Milieus und Wählerneigungen, das Leben in der Politik schien von heute aus betrachtet doch einigermaßen berechenbar. Inzwischen erreichen uns die Neuigkeiten aus aller Welt im Sekundentakt, und noch überraschender als die Nachricht selbst sind dann oft die Kommentare in den sozialen Medien, die ich dazu lese. Meine Frau und ich waren gerade im Baltikum unterwegs, unter anderem in Estland. Da wurde uns nicht nur einiges klar über die digitale Euphorie, die in diesen neuen kleinen Ländern innerhalb der EU herrscht, sondern wir haben auch gehört, dass junge Menschen häufig zuerst über einen Shitstorm stolpern und erst dann versuchen, der ursprünglichen Geschichte nachzugehen. Dabei posten sie fleißig mit. Jeder kann heute Sender und Empfänger zugleich sein, nonstop. Manchmal hat man den Eindruck: ohne ethische Schranken. Oder wie Professor Strohschneider, den wir gestern hier gesehen haben, es formulierte: Die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsäglichen wird offenbar eingerissen.

Ich bin mir sicher, dass wir – ohne Kulturpessimismus bitte – auf diesen Wandel und seine Folgen für die Demokratie gleich zu sprechen kommen, angesichts der Besetzung der Runde kann das gar nicht anders sein.

Herzlich willkommen, verehrte Diskutanten! Günter Bannas wird es sich bestimmt nicht nehmen lassen, den Journalismus in der Berliner Republik zu kommentieren. Im Rheinland sozialisiert und nach vielen Bonner Jahren dem Tross der politischen Korrespondenten nach Berlin gefolgt, kennt beide Welten so genau wie nur wenige andere. Vielleicht wird er auch auf einige Schwerpunkte seiner Parteienbeobachtung zurückkommen, zum Beispiel wie die Grünen Anfang der 1980er Jahre auf die politische Bühne kamen und sich trotz ungläubigem Staunen der Etablierten dort eingerichtet haben. Vielleicht wird er aber auch Veränderungen innerhalb der Volksparteien selbst aufgreifen. Wie wurden politische Debatten vor 30, 40 Jahren geführt – ähnlich oder anders als wir es jetzt gerade erleben? Ich würde gern hören, was beispielsweise Rita Süssmuth dazu sagt. Sie hat ja die großen gesellschaftlichen Themen lange begleitet, manchmal auch vor sich hergetrieben, wenn ich nur an unsere Gespräche über Bildung oder etwa über Zuwanderung denke.

Natürlich freue ich mich genauso auf Franz Müntefering. Seine biografischen Anknüpfungspunkte zum Thema des heutigen Abends sind so zahlreich, dass man damit einen eigenen Vortrag füllen könnte. Aber vielleicht ist er gerade deshalb prädestiniert, von den vielen Erlebnissen und Details ein Stück abzurücken und das große Ganze in den Blick zu nehmen: Haben sich von der Bonner zur Berliner Republik, lieber Franz Müntefering, auch politische Grundbegriffe verändert, etwa die Definition des sozialen Staates, des handlungsfähigen Staates oder des wehrhaften Staates?

Peter Schneider, Sie als Mann der Sprache und als erprobten Rebellen möchte ich gern einladen, ein wenig gegen den Strich zu bürsten, wenn die Erinnerungen in unserer Gesprächsrunde zwischen Politikern und denen, die darüber Bericht erstattet haben, etwas zu ähnlich werden, sicher nicht leichtfertig. Mir fallen auf Anhieb ein paar Optionen ein, etwa die Frage: Welche Rolle spielte eigentlich das Geschehen in der DDR für die Entwicklung und unsere Wahrnehmung von Politik in Westdeutschland? Oder zum Stichwort Protestkultur: Was hieß es damals, links zu sein, und was heißt es heute? Wie unterschied sich zum Beispiel die Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten 1981 von den Protesten beim G20-Gipfel in Hamburg 2017?

Ich glaube, dass der Stoff uns nicht ausgehen wird, ganz im Gegenteil, liebe Frau Kolster. Aber das Auswählen, Verdichten, Zuspitzen gerade von historisch-politischen Debatten ist ja bei Phoenix – wie ich finde – Ihre große Stärke. Und glücklicherweise haben Sie nicht den Druck, alles in 15 Sekunden oder gar 140 Zeichen unterzubringen. Wir werden uns heute Abend sicher gut bei Ihnen aufgehoben fühlen.

Ich würde mich freuen, wenn im letzten Teil der Diskussion auch Sie, liebe Gäste, die Möglichkeit nutzen, sich einzubringen – mit Fragen, Kommentaren, kleinen Anekdoten, wie Sie möchten. Von Tiefgang bis Heiterkeit ist alles erlaubt. Hauptsache, die Erinnerung bereichert unsere Gegenwart. Ich glaube, die Chancen dafür stehen nicht schlecht, denn in einem solchen Kreis wie heute treffen wir nicht allzu häufig zusammen. In diesem Sinne: Gutes Gelingen!