Eröffnung des Erinnerungsortes zum Olympia-Attentat 1972 in München

Schwerpunktthema: Rede

München, , 6. September 2017

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 6. September bei der Einweihung des Erinnerungsorts für das Olympia-Attentat 1972 in München eine Ansprache gehalten: "Deshalb gehört in Deutschland zu unserer Art zu leben eines untrennbar dazu: das Bekenntnis zu unserer Geschichte, auch zur Geschichte der Schoah, die Verantwortung für die Sicherheit Israels, die aus dieser erwächst, und die Absage an jegliche Form von Antisemitismus!"

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache im Auditorium der BMW-Welt bei der Gedenkveranstaltung anlässlich der Einweihung des Erinnerungsorts für das Olympia-Attentat 1972 in München

Die heiteren Spiele sind zu Ende. Mit gebrochener Stimme meldete sich am Abend des 5. September im Bayerischen Rundfunk Bundeskanzler Brandt zu Wort, und er endete mit dem Satz: Was das bedeutet, werden viele von uns noch gar nicht ermessen können.

Er hatte Recht. Wir haben nicht ermessen können, was die Geiseln und was Sie, die Angehörigen, in jenen qualvollen Stunden erleiden mussten: den Schock der Geiselnahme, die rasende Angst um die Lieben. Verzweiflung, die einem den Verstand raubt, zwischendurch das Aufflackern von Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang, eine Hoffnung, die Stunde um Stunde schwächer wurde. Vor allem aber die Ohnmacht, den Mann, den Vater in den Händen von brutalen Terroristen zu wissen und nichts tun zu können, als zu warten, zu hoffen, zu beten. Und schließlich der Moment – der furchtbare Moment der Gewissheit, dass die schlimmsten Albträume Realität geworden waren.

Verehrte Angehörige, nein, ermessen konnten wir die Tiefe Ihres Leidens nicht, und wir können es ehrlicherweise bis heute nicht vollständig. Aber erinnern können wir. Und erinnern müssen wir! Am Ende jenes 5. September hatten zwölf unschuldige Menschen ihr Leben verloren, darunter elf Geiseln der israelischen Mannschaft, junge jüdische Sportler, die im Vertrauen darauf nach München gekommen waren, hier willkommen, aber eben auch sicher zu sein.

Erinnern – gemeinsam erinnern, und öffentlich erinnern hier an diesem Ort – das heißt auch: sich bekennen. Heute, mit 45 Jahren Abstand, bekennen wir: Ja, dieser Tag ist nicht einfach Geschichte; man spürt das heute, er prägt immer noch die Gegenwart. Er hat tiefe, schmerzhafte Spuren hinterlassen – in Ihrem Leben, in Ihren Familien, in Ihrer Heimat Israel, aber auch hier, bei uns, in der Stadt München und in ganz Deutschland.

Diese Olympischen Spiele vor 45 Jahren sollten doch so heitere Spiele sein, und zunächst waren sie es auch. So haben wir, und so hat auch die israelische Mannschaft sie in den ersten Tagen nach der feierlichen Eröffnung erlebt. Weltoffen sollten sie sein, fröhlich und entspannt. Alles sollte anders sein, als 36 Jahre zuvor in Berlin, als das NS-Regime den olympischen Gedanken missbrauchte für seine Propagandaschau. München 1972 sollte das ganz andere, das neue, das demokratische Deutschland repräsentieren. Diese Bundesrepublik war eben nicht mehr das Deutschland von 1936, war angekommen in der freien Welt, in der Gemeinschaft demokratischer Staaten. Das wollte sie zeigen.

Aber zugleich war dieser jungen Bundesrepublik eben auch die Sicherheit der Gäste aus aller Welt anvertraut – auch die Sicherheit von jungen israelischen Sportlern, damals zum ersten Mal seit Gründung des Staates Israel. Diese Sicherheit hat Deutschland – ausgerechnet Deutschland – nicht gewährt.

Zur Wahrheit von 1972 gehört, dass man auf die Möglichkeit eines Attentats nicht vorbereitet war – obwohl doch der 5. September gewiss nicht die Geburtsstunde des internationalen Terrors war, nicht in Deutschland, auch nicht in München.

Zur Wahrheit von 1972 gehört, dass das aufrichtige Bemühen, dem Publikum ein weltoffenes, friedliches und friedfertiges Deutschland zu präsentieren, auf tragische Weise scheiterte. So wurde – Herr Präsident Rivlin, Sie haben es eben gesagt, das Olympische Dorf – ein Ort, an dem der Frieden unter den Völkern gefeiert werden sollte – zu einer Bühne palästinensischer Terroristen des Schwarzen Septembers, eine Bühne, die für maximale Aufmerksamkeit sorgte, für eine weltumspannende Verbreitung von Angst und Schrecken, eine Bühne für ihren grenzenlosen Hass auf Israel und Israelis.

Das hätte niemals passieren dürfen.

An dieser Katastrophe tragen auch wir bis heute schwer. Auch dieses bittere Bekenntnis gehört zur Erinnerung an diesen Tag – und ich finde, es ist überfällig, und wir schulden es zuallererst Ihnen, verehrte Angehörige.

Aber ich kann hier nicht vor Sie treten, ohne über die Gegenwart genauso ehrlich zu sprechen wie über die Vergangenheit. Es gibt immer noch Menschen, die in ihrem Hass auf den Staat Israel vor nichts zurückschrecken. Es gibt immer noch Menschen, die Antizionismus und Antisemitismus predigen und rechtfertigen. Es gibt immer noch Menschen, die unsere freiheitliche Lebensform mit terroristischer Gewalt treffen und zerstören wollen. Und ihre Instrumente sind gefährlicher und heute perfider als womöglich jemals zuvor.

Auch wir Europäer – Deutsche, Franzosen, Belgier, Spanier und Briten – haben zuletzt die Geißel des Terrorismus in den vergangenen Jahren in dramatischem Ausmaß erfahren müssen. Dieser Gefahr – Sie haben darauf hingewiesen – müssen wir uns stellen. Aber das ehrliche Bekenntnis zu unserer Geschichte, auch zu den Fehlern von 1972, kann doch nur bedeuten: Es muss unsere Entschlossenheit stärken.

Deswegen, verehrter Staatspräsident Rivlin: Ja, die Gefahren des Terrorismus sind groß, aber unsere Entschlossenheit ist umso größer. Wir sind entschlossen, Demokratie und die Offenheit unserer Gesellschaft, unserer Lebensart zu verteidigen.

Lieber Reuven Rivlin, uns vereint das Bekenntnis zu Freiheit und Menschenwürde. Uns vereinen die Grundprinzipien des Rechts – des Rechtsstaats und der Menschenrechte. Uns vereint der Wunsch einer überwältigend großen Zahl von Menschen in unseren Ländern nach einem Leben ohne Gewalt und ohne den Albtraum eines nicht endenden Hasses.

Und noch etwas haben wir gemeinsam: nämlich die Stärke einer wehrhaften Demokratie – eines Staates, der auch deshalb stark ist, weil er dem Recht und der Freiheit verpflichtet ist. Freiheit und Sicherheit, das ist meine Überzeugung, widersprechen sich nicht, sie bedingen einander. Freiheitliche Gesellschaften streben nach Offenheit, und dafür brauchen sie Sicherheit, die Offenheit erst ermöglicht. Diese Balance zu wahren – zwischen Freiheit und Sicherheit – und diese Balance unter sich verändernden Bedingungen immer wieder neu herzustellen, das ist Aufgabe von Politik. Eine solche freiheitliche Gesellschaft wird nicht jedes perfide Verbrechen voll und ganz ausschließen können, aber sie wird ihre Art zu leben behaupten.

Ich spreche von unserer Art zu leben – und das schließt für mich ein: zu wissen, woher wir kommen. Deshalb gehört in Deutschland zu unserer Art zu leben eines untrennbar dazu: das Bekenntnis zu unserer Geschichte, auch zur Geschichte der Schoah, die Verantwortung für die Sicherheit Israels, die aus dieser erwächst, und die Absage an jegliche Form von Antisemitismus!

Und das bedeutet auch: Genau wie die deutschen Juden müssen auch Israels Bürger in Deutschland sicher sein. Israelische Künstler, Intellektuelle, Wissenschaftler müssen willkommen sein. Wir brauchen das Gespräch, wir brauchen die Begegnung, den Austausch – und wir müssen all das ermöglichen und auf keinen Fall darf es verhindert werden – wie manche es bei einem großen Kulturereignis in Berlin zuletzt versucht haben.

Dieser Auftrag gehört zu Deutschland. Deshalb, liebe Angehörige, gehört zum heutigen Tag nicht nur die dringend notwenige Erinnerung, sondern auch ein immerwährendes Versprechen: Nur wenn Juden in Deutschland vollkommen sicher, vollkommen zuhause sind, ist dieses Deutschland vollkommen bei sich.

Deutsch zu sein heißt: sich unserer Geschichte bewusst zu sein – einer Geschichte, die für nachwachsende Generationen zwar nicht persönliche Schuld, aber doch bleibende Verantwortung bedeutet.

Und, meine Damen und Herren, deutsch zu werden heißt, diese Geschichte zu kennen, zu verstehen und anzunehmen. Das gilt auch für die, die aus anderen Kulturkreisen, mit einer anderen Geschichte zu uns kommen. Wer Deutscher wird, kann nicht sagen: Das ist Eure Geschichte, nicht meine. Deutsch zu sein heißt, diesem Land anzugehören, mit all seinen vielen Vorzügen, aber eben auch mit seiner historischen Verantwortung. Die Lehren, ich setze hinzu, die unwiderruflichen Lehren der deutschen Geschichte gelten für alle – sie müssen für alle gelten, die in Deutschland ihre Zukunft suchen.

Liebe Angehörige, liebe Gäste aus Israel, dieser neue Erinnerungsort, der heute eröffnet worden ist, ist also ein wichtiger Ort – für Israelis und für uns Deutsche. Aber zuallererst gilt dieser Ort den Opfern des 5. September 1972. Lange, viel zu lange fehlte dieser Ort. Lange, viel zu lange sind die Opfer in der öffentlichen Wahrnehmung hinter den Tätern verblasst. Es ist richtig, dem Terror nicht nachzugeben, und unser Leben nicht in seinem Schatten führen zu wollen. Aber das darf uns nicht dazu verleiten, den Schmerz um die Opfer und das Leid ihrer Angehörigen zu verdrängen. Im Gegenteil: Wir treten dem Terror auch dadurch entgegen, dass wir den Opfern zur Seite stehen.

Wir sind vereint im Schmerz, wir sind vereint im stillen, ehrenden Andenken an Ihre Männer, Väter und Freunde. Und wir sagen Ihnen, verehrte Angehörige, und allen daheim, denjenigen, die trauern, denjenigen, die an Leib und Seele verletzt sind: In Eurer Trauer seid Ihr nicht allein!