Begegnungsreise mit dem Diplomatischen Korps

Schwerpunktthema: Rede

Sachsen-Anhalt, , 13. September 2017

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 13. September mit dem Diplomatischen Korps Sachsen-Anhalt besucht. Bei einer Ansprache an die Diplomaten sagte er: "Der erste und wichtigste Bezugsrahmen für deutsches außenpolitisches Handeln ist und bleibt das vereinte Europa. Anders gesagt: Es gibt deutsche Verantwortung nur in und durch Europa."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache beim Mittagessen in der Orangerie des Schlosses Oranienbaum in Wörlitz anlässlich der Informations- und Begegnungsreise mit dem Diplomatischen Korps in Sachsen-Anhalt

Ich heiße Sie herzlich willkommen in Sachsen-Anhalt und ich freue mich sehr, dass ich Ihnen heute ein besonders schönes Stück Deutschland zeigen darf!

Das Gartenreich von Dessau-Wörlitz ist in meinen Augen – und ich hoffe, Sie konnten den Eindruck auch ein wenig mitbekommen – eine der kulturell, landschaftlich, aber eben auch politisch bedeutendsten Schöpfungen deutschen Geistes. Wenn sich Deutschland in den Jahrhunderten, als es noch mit dem Wort Reich konnotiert wurde, immer so präsentiert hätte wie in diesem besonderen Garten-Reich, dann hätte mein Land wohl niemandem Angst gemacht, keinen Schrecken verbreitet, dann wäre es im Gegenteil immer ein einladender und inspirierender Ort für alle Menschen guten Willens gewesen.

Ein Garten, erst recht ein Gartenreich wie dieses, ist eine sprechende, nämlich philosophisch und kulturell sprechende Angelegenheit und politisch keineswegs neutral. Wie wir uns das Schöne vorstellen, das hat immer auch sehr viel damit zu tun, wie wir uns das Verhältnis des Menschen zur Natur, wie wir uns das Verhältnis des Menschen zum Unendlichen und wie wir uns das Verhältnis der Menschen untereinander vorstellen – also wie Zusammenleben und auch wie so etwas wie Herrschaft organisiert werden soll.

In der Zeit des Absolutismus und des Rationalismus baute man überall in Europa Gärten und Parks – verehrte Botschafterin Descôtes – nach dem strengen Vorbild von Versailles. Beherrscht von Zentralperspektiven, die Natur auf jede Weise beschnitten und im rechten Winkel organisiert. Der menschliche Gestaltungswille macht sich die Natur untertan, ein perfektes Abbild des barocken Staates, der rational durchgestaltet und perfekt hierarchisch geordnet sein sollte. Die Klarheit dieser Gärten kann man in Versailles noch immer bewundern, aber auch in Potsdam oder hier in Oranienbaum.

Dann aber fängt die Aufklärung an, das europäische Denken zu bestimmen. Mit einem Wechsel der philosophischen und politischen Perspektive auf die Welt ändert sich wie selbstverständlich auch die Gartenbaukunst in Europa, zuerst – verehrter Botschafter Wood – in England, dann in Wörlitz und sehr schnell an vielen anderen Orten. Nicht mehr eine, nein: Viele Perspektiven bieten sich an. Eine verschwenderische Fülle von Blickmöglichkeiten, von Erlebnishorizonten öffnet sich einem dezentralen Sehen. Spazierengehen ist die Kunst, die zu diesem Garten erfunden wurde, das heißt die Kunst, sich verschiedenste Blickwinkel zu erobern, ungelenkt und selbstbestimmt seine Wege und seine Perspektiven wählen. Hierin liegt eben auch das politische und philosophische Programm der Aufklärung verborgen. Übrigens sollte in Wörlitz diese Erfahrung von Anfang an jedermann möglich sein, der Park war – eine Neuheit – öffentlich zugänglich für Menschen jeden Standes.

Exzellenzen, meine Damen und Herren, und heute? Dieser schöne Ort symbolisiert den großartigen Moment, die historische Wasserscheide, an der die Werte der Aufklärung in den Köpfen der weltlichen Herrscher ankamen und ihre transformative Kraft entfalteten – in der Gartenbaukunst und weit darüber hinaus, in allen Bereichen der Gesellschaft. Nun war der Weg der aufklärerischen Ideen in die gesellschaftliche und politische Realität niemals ein linearer – immer gab es Rückschritte und Einbrüche – und das weiß niemand so gut wie wir Deutsche.

Aber heute – nun, da scheint es, als gingen die Werte der Aufklärung in einigen führenden Köpfen erneut verloren. Das jedenfalls befürchte ich, wenn in beunruhigend vielen Weltregionen die Grundpfeiler von Menschenrechten, von Toleranz und Demokratie selbst von höchster politischer Stelle in Frage gestellt werden. Wenn die Träger der Aufklärung – Journalisten, Schriftsteller, Intellektuelle – in Gefängnissen verschwinden. Wenn die Vernunft als Währung des politischen Diskurses in digitalen Echokammern, in rabiaten Twitter-Gefechten oder in gezielten Desinformationskampagnen entwertet wird. Wenn auf der internationalen Bühne die Regeln und Instrumente für Verständigung und friedlichen Interessenausgleich zunehmend einem aggressiven und brandgefährlichen Machtgebaren weichen – siehe die Lage in Nordkorea. Und, verehrte Exzellenzen Botschafter aus der Europäischen Union: wenn die politischen Errungenschaften der Aufklärung – Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung – selbst innerhalb unserer Union scheinbar nicht mehr zweifelsfreie Geltung besitzen.

Das, meine Damen und Herren, ist keine gute Diagnose. Aber – dies ist meine Botschaft an Sie – das ist noch lange keine Wasserscheide, von der ab die Welle der Aufklärung sich zurückzieht und eine – wie auch immer geartete – Sintflut der Unvernunft folgen wird. Nein, ich bin überzeugt, und auch deshalb habe ich Sie heute an diesen Ort geladen: Es liegt an uns, die Werte der Aufklärung und ihre politischen Errungenschaften zu bewahren! Darin selbst liegt doch ein zutiefst aufklärerischer Gedanke: Die Zukunft ist nicht festgeschrieben, sie steht offen, und es ist an uns, sie zu gestalten!

Im 21. Jahrhundert können an dieser Gestaltung mehr Menschen in mehr Weltregionen teilhaben als jemals zuvor. Sie, Exzellenzen, werden dafür in Deutschland immer einen starken Partner finden – einen Partner, der mit Ihnen an einer friedlichen und regelbasierten internationalen Ordnung bauen will. Das haben wir beispielsweise im Jahr 2016 – in neuer, angespannter Lage zwischen Ost und West – als Vorsitz der OSZE getan, das tun wir dieses Jahr – unter nicht minder schwierigen Umständen – im Vorsitz von G20, und dafür treten wir vor allem auch im Rahmen der Vereinten Nationen ein. Und wo ich schon dabei bin, möchte ich Sie in bescheidener Weise auf unsere Kandidatur für einen nicht-ständigen Sitz im Sicherheitsrat 2019/2020 hinweisen. Wer von Ihnen noch vor dem Hauptgang seine Stimmkarte abgibt, dem versprechen unsere Köche ein besonders großes Dessert.

Immanuel Kant hat den Grundsatz der Aufklärung in dem berühmten Satz formuliert: Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Ein englischer Garten wie hier in Wörlitz spricht diesen Satz in etwa so aus: Habe den Mut, deine eigenen Wege zu gehen – lass deinen Blick schweifen – ja, lass ihn vom Vordergrund über den Mittelgrund bis zum Horizont und ins Unendliche gehen.

Dafür, für diesen Perspektivwechsel, spielen Sie, die Botschafterinnen und Botschafter in unserem Land, eine ganz wesentliche Rolle. Sie haben eben nicht nur die Aufgabe, die täglichen, operativen Beziehungen unserer Regierungen friedlich und zu beiderseitigem Nutzen zu gestalten. Sondern sie haben auch die wichtige Rolle von Brückenbauern und von Übersetzern, die den Perspektivwechsel und die Verständigung zwischen unseren Gesellschaften ermöglichen.

Das heißt: Sie als Diplomatinnen und Diplomaten gehen Wege wie im Gartenreich von Wörlitz – damit meine ich jetzt nicht, dass Botschafter zu viel Zeit zum Spazierengehen haben. Sondern ich meine: Sie erfahren in Ihrer täglichen diplomatischen Arbeit, dass die eigene Perspektive immer nur eine unter vielen möglichen ist. Und dieser ständige Perspektivwechsel, das Wissen um die Perspektive der anderen und die Vermittlung zwischen den verschiedenen Wahrnehmungen – sie sind die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben der Völker.

Als Botschafterinnen und Botschafter in Berlin sind Sie insbesondere Übersetzer und Erklärer unseres Landes, der Bundesrepublik Deutschland. Und ich weiß wohl: Deutsche Positionen, deutsche Eigenheiten – viele davon liegen in unserer wechselvollen Geschichte begründet – sind von außen nicht immer leicht und unmittelbar zu lesen. Doch zugleich wächst in Ihren Heimatländern das Interesse an unseren Positionen, denn über die Rolle meines Landes, auch über seine wachsende Verantwortung in einer sich wandelnden Welt wurde und wird viel diskutiert. Diese Debatte ist wichtig und beileibe nicht abgeschlossen, aber eines ist aus meiner Sicht gewiss: Der erste und wichtigste Bezugsrahmen für deutsches außenpolitisches Handeln ist und bleibt das vereinte Europa. Anders gesagt: Es gibt deutsche Verantwortung nur in und durch Europa. Und deshalb wird Deutschland seinen Teil dazu beitragen, dass Jean-Claude Juncker Recht behalten wird, mit dem, was er gerade heute Morgen in seiner großen Rede in Straßburg gesagt hat: Dieses Jahr hat Europa wieder Wind in den Segeln. Sorgen wir dafür, dass er Recht bekommt mit dieser Einschätzung.

Ich hoffe, dass der heutige Tag, unsere Ausflüge in Sachsen-Anhalt und im Wörlitzer Gartenreich, und vor allem unsere gemeinsamen Gespräche Ihnen weitere Perspektivwechsel, und ein tieferes Kennenlernen meines Landes ermöglichen. Einen bestimmten Ausblick kann ich Ihnen heute allerdings nicht bieten, auch wenn das für Ihren nächsten Drahtbericht womöglich das spannendste Thema ist: Der Bundespräsident wird keine Vorab-Prognosen für die Bundestagswahl und mögliche Regierungskonstellationen abgeben.

Stattdessen will ich Sie am Ende an einen ganz anderen, einen historischen Wendepunkt erinnern. Auch hier geht es letztlich um Perspektive: ein einfacher Wechsel der Perspektive – und die ganze Welt sah anders aus! Das ist die Erfahrung, die Europa mit der Reformation gemacht hat. Wo plötzlich der einzelne, fragende Mensch in den Mittelpunkt des theologischen Denkens rückte – da veränderten sich nach und nach alle Verhältnisse: das Verhältnis des Menschen zu seinem Gott, das des Gläubigen zu seiner Kirche, das der Kirche zum Staat, und so weiter. Wie Sie wissen, jährt sich in diesem Jahr der Beginn der Reformation zum fünfhundertsten Mal – ein welthistorisches Ereignis, das sich einem Perspektivenwechsel verdankt. Ich freue mich, dass wir zum Abschluss heute Nachmittag den Ursprungsort dieses Weltereignisses besuchen werden: die Lutherstadt Wittenberg.

Ich danke dem Land Sachsen-Anhalt für die große Gastfreundschaft am heutigen Tag und ich sage Ihnen, Exzellenzen, noch einmal: Seien Sie uns herzlich willkommen! Vielen Dank.