Abendessen zu Ehren von Christoph Bertram anlässlich seines 80. Geburtstages

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 25. September 2017

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 25. September bei einem Mittagessen für Christoph Bertram anlässlich seines 80. Geburtstages eine Ansprache gehalten: "Die internationale Politik bietet wenig Eindeutigkeit. Fast alles schreit nach Differenzierung und verlangt – jenseits von richtig und falsch – Abwägung. Umso wertvoller war und ist Ihre Sicherheit im Urteil."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine kurze Ansprache beim Abendessen zu Ehren von Christoph Bertram im Schinkelsaal von Schloss Bellevue

Die Geschichte ist verbürgt: Einmal, in Ihren Jahren bei der ZEIT, und vor einer anderen Bundestagswahl, sind Sie in den kleinen Bodensee-Ort Allensbach gefahren, um Elisabeth Noelle-Neumann zu befragen. Es war im September 1994, im Monat darauf sollte gewählt werden. Die Meinungsforscherin, der "freundliche Adler", wie es in Ihrem Artikel heißt, erwies sich als Kassandra: "In Ostdeutschland" – klagte sie – "stellen wir von Halbjahr zu Halbjahr weniger Unterstützung für die Demokratie fest". Sie prophezeite eine Richtungswahl, nicht zwischen links und rechts, sondern zwischen Gut und Böse. Das Gute, die Demokratie, sah sie in Gefahr.

Den Alarmismus wollten Sie damals nicht recht teilen. Ich weiß nicht, ob Sie ihm nach dieser Wahl gestern nachgeben würden. Ich vermute einmal, nein. Nicht, weil der Wahlausgang Anlass zur Sorglosigkeit geben würde, sondern weil Alarmismus nicht zu Ihren Werkzeugen gehört. Ganz sicher weiß ich, dass die gelegentlich in der Politik, aber noch mehr im Journalismus betriebene Reduzierung des Farbenspektrums auf die Farben Schwarz und Weiß Ihnen genauso viel Sorgen macht wie mir.

Die internationale Politik bietet wenig Eindeutigkeit. Fast alles schreit nach Differenzierung und verlangt – jenseits von richtig und falsch – Abwägung. Umso wertvoller war und ist Ihre Sicherheit im Urteil. Präzision aber braucht Nuancen und Schattierungen. Um Tiefenschärfe zu erreichen, braucht man eben auch die Graustufen – vor allem aber den ernsthaften Willen zur Analyse von Konflikten, bevor man sich mit umfänglichen Lösungsvorschlägen an die Öffentlichkeit wendet.

Und auf Präzision kam es Christoph Bertram immer an: als Direktor des "International Institute for Strategic Studies" in London, als Diplomatischer Korrespondent der ZEIT in Hamburg und als Leiter der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Die Qualität der Analyse war ihm ebenso wichtig wie ihre Form. Die Form nicht als Selbstzweck. Die Form in der dienenden Funktion – die Analyse sollte ihre Adressaten erreichen: Knapp, strukturiert und konzise – das war das Design, das der neue Leiter der Stiftung Wissenschaft und Politik den Produkten des Hauses verordnete, als sie 2001 von Ebenhausen nach Berlin umzog.

In diese Neuausrichtung ist viel Bertramsche Erfahrung geflossen, die Weltläufigkeit der Londoner Jahre, das Netzwerk internationaler Kontakte ebenso wie das journalistische Handwerk der Jahre am Hamburger Speersort. So hat sich die SWP im Politikbetrieb der Hauptstadt eingeführt. Und so ist sie zu einer Berliner Institution geworden. Missen will sie hier und heute niemand mehr.

Und doch war dieser Umzug aus der Idylle Ebenhausens in die Hauptstadt der neuen Berliner Republik keine Kleinigkeit. Ein seit fast 40 Jahren etabliertes Haus in ein völlig neues Umfeld zu versetzen, vom gemütlichen Oberbayern ins brüllende Berlin, von ruhiger Forschungsatmosphäre in die aktive und riskante Politikberatung – das war ein Kraftakt. Davon, dass er notwendig war, waren Sie ebenso überzeugt wie ich – die Mitarbeiter in Ebenhausen waren es weniger. Kaum jemand wollte weg von dort. Weil auch noch die Verschmelzung der SWP mit dem Kölner Osteuropa- und Teilen des Münchner Südosteuropa-Instituts gestemmt werden musste, war das alles andere als einfach. Wer das leisten wollte, brauchte Durchsetzungs- und Überzeugungskraft. Christoph Bertram hatte beides. So habe ich ihn kennengelernt. Es war ein guter Start für eine Zusammenarbeit durch viele Jahre, in denen sich unsere Wege immer wieder gekreuzt haben. Berlin ist jedenfalls der richtige Platz für die SWP. Und das musste nach der Einheit so entschieden werden. Die außenpolitische Schonzeit war vorbei, es gab keine außenpolitische Community und deshalb musste die vorhandene Expertise am Ort der Entscheider gesammelt werden.

Die Bundesregierung eines erwachsen gewordenen Deutschlands – mit allen Rechten und Pflichten – braucht Ihren präzise aufbereiteten wissenschaftlichen Rat. Sie muss schnell reagieren und entscheiden. Und sie muss – besonders in ihrer Außenpolitik – die Balance zwischen Berechenbarkeit und Reaktionsfähigkeit halten können. Das ist – in einem immer volatileren Umfeld – in den letzten Jahren nicht einfacher geworden.

Die SWP nimmt Politikern die Entscheidung nicht ab, das wusste Christoph Bertram. "Aber wir können es ihnen erleichtern, die richtige Entscheidung zu treffen", davon war er überzeugt. Ja, und mitunter ist es ihm auch gelungen, einem die falsche Entscheidung zu erschweren, was genauso wichtig war. Die Stiftung Wissenschaft und Politik hat die Regierung für ihre Arbeit gerüstet, unter Christoph Bertram ebenso wie unter seinem Nachfolger, Volker Perthes. Dafür danke ich Ihnen beiden.

Das Auswärtige Amt hat Christoph Bertram überdies die umfassendste Selbstvergewisserung seit Jahrzehnten zu verdanken. Die "Review 2014" war eine Aufgabe, die beiden Seiten viel abverlangt hat, deren Resultat aber gleichwohl die Anstrengung gelohnt hat.

Manche Menschen erwecken in uns den Eindruck, als hätten sie einmal in ihrem Leben kräftig Anlauf genommen, um niemals wieder zum Stillstand zu kommen. Das ist selbstverständlich nur ein Bild und Christoph Bertram wird es geraderücken, wenn er mag. Doch ich habe dieses Bild in mancher Erzählung über ihn wiedergefunden. Es ist nicht das eines Getriebenen. Eitle Geschäftigkeit erscheint ihm eher verdächtig. Es ist vielmehr das Bild eines entschieden und unbeirrt Dahinschreitenden, der einem inneren Taktgeber folgt. Kein Dauergast in den immer unerträglicher werdenden Talkshows, der in 90 Sekunden erklären kann, wo das Gute und wo das Böse in der Welt zuhause ist, einer, der sich – im Gegenteil – den täglichen Vereinfachungen verweigert hat. Seiner Präsenz und seiner Wirkung hat das nicht geschadet. Die Abstinenz vom täglichen Polit-Gebrabbel hat seine leise und kluge Stimme umso hörbarer gemacht.

Inzwischen hat er das Taktmaß seiner Konferenzen, Vorträge und Namensartikel etwas reduziert, wie er sagt, aber an Stillstand ist nicht zu denken. Wir möchten ihn uns auch nicht vorstellen, denn wer von uns wollte auf seine liebenswürdige Art, seinen Humor, seine Weltläufigkeit, seine Expertise verzichten. Um diesen Tisch herum niemand. Und da stehen wir für ganz viele.

Herzlichen Glückwunsch, lieber Christoph Bertram!