Ordensverleihung zum Tag der Deutschen Einheit

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 4. Oktober 2017

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 4. Oktober bei der Ordensverleihung anlässlich des Tages der Deutschen Einheit eine Ansprache gehalten: "Engagement für andere, für das Gemeinwesen, für das demokratische Miteinander – das ist zwar oft aus einer höchstpersönlichen Entscheidung geboren, wird oft aus höchst individuellen Motiven gespeist, aber es ist eben keine Privatangelegenheit."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede anlässlich der Ordensverleihung zum Tag der Deutschen Einheit im Großen Saal von Schloss Bellevue

Zu den schönsten Seiten im Amt des Bundespräsidenten, das habe ich rasch und schnell gemerkt, gehört der Einblick in die ungeheure Vielfalt des Guten, die unser Land zu bieten hat. Das Gute, das wird natürlich sofort klar, das fällt nicht vom Himmel, sondern das ist das Ergebnis des Engagements und des tatkräftigen Einsatzes unzähliger Bürgerinnen und Bürger in ganz Deutschland. Ja, wo immer ich hinkomme, welchen Gruppen und Einrichtungen ich auch begegne, man kommt buchstäblich aus dem Staunen nicht heraus über die so vielfältigen Aktivitäten, die unser Land – wie ich finde – zu einem wirklich lebenswerten Ort machen. Zu den Aufgaben im Amt des Bundespräsidenten gehört es dann, sich bei diesen Menschen zu bedanken, die so viel Gutes tun, sie zu loben, sie auszuzeichnen – für das was sie tun, aber auch dafür, dass sie Beispiel geben und wir deshalb hoffen dürfen, dass viele andere ihrem Beispiel folgen.

Dafür sind wir heute hier beieinander. Und ich freue mich wirklich sehr darüber, dass Sie heute alle hier ins Schloss Bellevue gekommen sind. Dass Sie sich heute öffentlich feiern und mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland auszeichnen lassen.

Ich weiß, dass das so einigen gar nicht so leicht fällt. Mancher steht nicht gerne in der Öffentlichkeit – oder mancher, der zwar in der Öffentlichkeit steht, möchte sein persönliches Engagement gar nicht so besonders herausgehoben haben. Für Sie alle, die Sie heute hier sind, gilt ganz sicher, dass Sie das, wofür Sie heute ausgezeichnet werden, nicht begonnen haben, damit Sie heute Morgen hier ausgezeichnet werden. Im Gegenteil: Sie tun das Besondere als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Und das allein schon nötigt mir und hoffentlich auch vielen anderen hohe Bewunderung ab.

Es war Gustav Heinemann, einer meiner Vorgänger, der dafür gesorgt hat, dass an besonderen Tagen der Verdienstorden vom Bundespräsidenten selbst überreicht wird. Vielleicht wissen Sie, dass im Laufe des Jahres der Orden meistens von Ministerpräsidentinnen oder Ministerpräsidenten oder häufiger von Oberbürgermeistern im Auftrage des Bundespräsidenten ausgehändigt wird. Es gibt eben, zum Glück oder Gott sei Dank, so viele Auszeichnungen im Jahr, dass der Bundespräsident sie nicht alle selber vornehmen kann.

Am Tag der Deutschen Einheit oder heute, am Tag danach, kommen aber seit vielen Jahren immer etwa drei Dutzend Bürgerinnen und Bürger ins Schloss Bellevue, um hier ihre Auszeichnung aus der Hand des Staatsoberhauptes entgegen zu nehmen – auch um sozusagen stellvertretend die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf diese Auszeichnung zu lenken.

Warum hat Gustav Heinemann das damals eingeführt? Und warum haben alle seine Nachfolger diese Tradition fortgesetzt? Und warum freue ich mich darauf, mich nun zum ersten Mal auch in den Dienst dieser Tradition zu stellen?

Um vor aller Augen deutlich zu machen: Engagement für andere, für das Gemeinwesen, für das demokratische Miteinander – das ist zwar oft aus einer höchstpersönlichen Entscheidung geboren, wird oft aus höchst individuellen Motiven gespeist, aber es ist eben keine Privatangelegenheit.

Freiwilliges bürgerschaftliches Engagement, freiwilliger Einsatz für andere ist vielmehr beides zugleich: Einerseits eine höchstpersönliche Haltung, zu der Sie sich entschieden haben, aber andererseits – ich sage es jetzt einmal etwas pathetisch – durchaus auch eine nationale Angelegenheit, weil es eben den Gemeinsinn, aus dem heraus man etwas für unsere Gesellschaft tut, verkörpert. Ich glaube, unsere Demokratie, unser Gemeinwesen lebt davon, dass immer wieder Menschen den bequemen Beobachterposten in der Sofaecke verlassen, auf dem man so herrlich alles analysieren, kritisieren, ausdiskutieren kann, um sich stattdessen einzumischen und selbst aktiv zu werden.

Weil es eine nationale Angelegenheit ist, findet heute auch, wenn ich das etwas locker sagen darf, das volle Programm statt: Staatsoberhaupt, Schloss, Standarte, Orden, Nationalhymne. Nicht nur, weil Sie – und mit Ihnen die vielen anderen Ausgezeichneten – das verdient haben, sondern weil unser ganzes Land durch Ihren Einsatz seine menschenfreundliche Gestalt bekommt, und so immer wieder neu lebens- und liebenswert wird.

Sie gehen dabei oft nicht gerade den einfachen Weg und Sie haben sich oft genug schwierige Aufgaben gewählt. Aufgaben, vor denen andere gerne auch einmal die Augen verschließen.

Ich aber erwähne die spezielle Begleitung zum Beispiel für trauernde Kinder und Jugendliche, die einen nahen Menschen verloren haben. Dass hier überhaupt eine spezielle Aufgabe liegt, das muss man zunächst erstmal in den Blick bekommen. Und dann stelle ich mir vor, dass es nicht leicht ist, hier immer wieder die richtigen Worte zu finden, die richtige Hilfestellung zu geben, die andere brauchen. Das Gleiche gilt etwa auch für die Hospizarbeit, die eben ganz oft und ganz hingebungsvoll von Ehrenamtlichen geleistet wird.

So wie Trauer und Tod oft noch gesellschaftliche Tabuthemen sind, so ist es auch die sexuelle Gewalt gegen Kinder. Den Opfern beizustehen ist ebenso notwendig wie rechtzeitige Prävention. Mancherorts wird hier seit Jahrzehnten unverzichtbare Arbeit geleistet.

Das Beste, was Kindern und Jugendlichen allerdings passieren kann, ist, dass sie ihre eigenen Stärken und Fähigkeiten entdecken und dadurch eine eigenständige Persönlichkeit entwickeln können. Das geschieht ganz sicher in den vielen Sportvereinen in unserem Land, auch im Behindertensport natürlich, in Chören, Orchestern, das geschieht aber auch in eher ungewöhnlichen Initiativen wie zum Beispiel Kinder- und Jugendtanzensembles. Die jungen Menschen entdecken im Tanz wichtige Ausdrucksmöglichkeiten, aber sie entwickeln auch die Leidenschaft, richtig gut zu werden, sogar an Wettbewerben teilzunehmen und Erfolge zu erzielen.

Dass man am Anfang seines Lebens Zuneigung und Zugehörigkeit erfährt, ist genauso wichtig, wie das am Ende des Lebens zu erfahren. Vor allem, wenn man sich nicht mehr selber helfen kann, wie etwa Demenzkranke. Ihnen zu helfen, aber auch denen, die sich um Betroffene kümmern wollen und müssen, dafür gibt es nicht nur in Ansbach hervorragende Initiativen.

Aber das Engagement von heute hier Ausgezeichneten betrifft nicht nur unser eigenes Land. Der Blick geht darüber hinaus. Das fängt sicher an mit der Hilfe für Geflüchtete, die aus aller Welt zu uns kommen und in Halberstadt, wie an vielen anderen Orten Aufnahme und Zuwendung gefunden haben und weiter finden. Das geht aber auch mit konkreter Hilfe in der weiten Welt einher, etwa im Kampf gegen Kinderehen in Bangladesch, oder im Aufbau von Netzwerken besonders für Frauen und Mädchen in den Krisenregionen wie insbesondere im Libanon und auf dem Balkan.

All diesen Initiativen, und auch den anderen, die gleich ausführlich zur Sprache kommen werden, ist vielleicht eines gemeinsam: Sie versuchen, Ausgeschlossene, an den Rand Gedrängte, Vergessene, Übersehene in die Mitte der Gesellschaft zu holen, zurückzuholen, oder sie wirken so, dass es erst gar nicht dazu kommt, dass zum Beispiel Kinder vernachlässigt oder vergessen werden.

Oder anders gesagt: Ob im Wohnviertel, ob bei der Arbeit, ob in Vereinen oder im Engagement für demokratische Partizipation – alle Initiativen hier leisten beispielhafte Integrationsarbeit im wahrsten Sinne des Wortes. Dass unsere Gesellschaft nicht auseinanderfällt, dass Zusammenhang und Zusammenhalt gestärkt werden – das geschieht eben nicht von allein, sondern das geschieht durch tagtäglichen Einsatz derer, die für sich selber eine wichtige Aufgabe entdeckt haben und ihr mit Leidenschaft nachgehen. Man bekommt bei solchem Engagement auch viel zurück. Und das darf sich dann auch herumsprechen.

Etwas, von dem wir auch alle leben, das schenken uns die Künstlerinnen und Künstler, die heute zu den Ausgezeichneten gehören. Einerseits stärken sie – wie auch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die hier unter uns sind – das Ansehen unseres Landes und haben sich große Verdienste erworben. Andererseits aber fördern sie immer neu unser Wissen von der Welt, unsere Einsicht in die Zusammenhänge der Schöpfung.

Und die kulturellen Schöpfungen wie Musik, Schauspiel, Literatur machen nicht nur unser Leben reicher und schöner. Oft findet gerade in den Künsten jene Auseinandersetzung über unser Selbstverständnis und über unsere Vorstellung von einem gelungenen Leben, von einem stimmigen Zusammenleben statt, jene Auseinandersetzung, die wir dringend brauchen. In den Künsten findet auch oft die kritische Selbstreflexion statt, ohne die wir im Gewohnten steckenbleiben und keine mutigen Schritte nach vorn machen würden. Manchmal entführt uns die Kunst auch einfach nur für ein paar Augenblicke oder ein paar Stunden aus dem Alltag. Und auch das ist wahrhaftig kein geringes Verdienst, wenn wir die Lasten des Alltags danach wieder leichter schultern.

Überhaupt keine Last, sondern eine große Freude, ist es mir, jedem von Ihnen gleich persönlich zu danken und Sie mit dem Verdienstorden auszuzeichnen. Schon jetzt und vorab meinen ganz herzlichen Glückwunsch an Sie alle. Ich freue mich, dass Sie da sind. Herzlich willkommen im Schloss Bellevue!