500 Jahre Reformation: Europa zwischen Einheit und Vielfalt

Schwerpunktthema: Rede

Rom/Italien, , 8. Oktober 2017

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 8. Oktober in der Christuskirche der evangelisch-lutherischen Gemeinde Rom eine Rede zu "500 Jahre Reformation: Europa zwischen Einheit und Vielfalt" gehalten: "Europa baut sich auf der Vernunft der pragmatischen Schritte und daraus, dass es die Herzensangelegenheit derer ist, die Versöhnung und Verständigung anstreben, Ausgleich und Frieden."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache zum Thema '500 Jahre Reformation: Europa zwischen Einheit und Vielfalt' in der Christuskirche in Rom anlässlich seiner Reise in den Vatikan

Ich freue mich über die Einladung in die Ewige Stadt, in die Stadt des Papstes, ins Zentrum der katholischen Welt und meine erste Begegnung mit Papst Franziskus. Und ich freue mich, dass ich anlässlich dieses Besuchs auch den Austausch mit meinen evangelischen Glaubensbrüdern und -schwestern – darunter so viele Landsleute - haben kann. Und das in einem für den deutschen Protestantismus so bedeutenden Gedenkjahr!

Ich bin Ihnen sehr dankbar für den herzlichen Empfang und ich freue mich, jetzt gemeinsam mit Ihnen nachzudenken über das große Ereignis der Reformation und seine Bedeutung für Europa damals und heute.

Sie wissen so gut wie ich: Das Schicksal Deutschlands ist im Laufe der Geschichte immer wieder ganz eng mit der Stadt Rom und dem Römischen Reich verbunden gewesen. Die ältesten deutschen Städte sind römische Gründungen, viele unserer kulturellen Grundlagen, vom Recht über die Bau- und Ingenieurskunst bis hin zu den politischen Institutionen und Vorstellungen, sind durch Rom geprägt. Deutsche Kaiser wurden in Rom gekrönt, die einzigartige politisch-rechtliche Konstruktion des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation führt die Verbindung Deutschlands mit Rom schon im Titel – und so nimmt es nicht Wunder, dass auch eines der geistesgeschichtlich wohl bedeutendsten Ereignisse in Deutschland, nämlich die Reformation, mit Rom zu tun hat.

Vor bald 500 Jahren hat der über seinen engen Wirkungskreis kaum bekannte Mönch und Theologieprofessor Martin Luther seine 95 Thesen über den Ablass veröffentlicht. Das geschah im zwar aufstrebenden, aber doch noch immer kleinen und verschlafenen Wittenberg, von damaligen europäischen Zentren wie etwa Paris oder Rom oder Köln aus betrachtet also eher abseits gelegen, in der kursächsischen Provinz.

Martin Luthers Intentionen aber zielten nicht gegen irgendwelche kleinen oder größeren Missstände oder ein Fehlverhalten einzelner Bischöfe, Fakultäten oder Fürsten – nein: Das Ziel seiner Polemik war letzten Endes das Zentrum der Kirche selbst: Es ging gegen den Papst, seine Ablasspolitik und die dahinterstehende Theologie, es ging gegen die Angstpropaganda der päpstlichen Legaten, die anboten, sich vor der ewigen Verdammnis mit Geld freikaufen zu können – es ging, mit einem Wort, gegen Rom.

Lag der Ursprung der Reformation also ganz ohne jeden Zweifel in Wittenberg, so lag nicht nur für Luther die Ursache in Rom – und durch Rom kam auch die explosive Wirkung und Sprengkraft. So geht es in Ordnung, dass wir an die Reformation nicht nur in Wittenberg und Eisenach, nicht nur in Eisleben, Augsburg und Worms, nicht nur in Genf und Zürich erinnern, sondern dass das Jubiläum der Reformation auch hier in Rom begangen wird.

Die später so berühmten Thesen, eigentlich nur als Grundlage für theologische Debatten formuliert, blieben gerade wegen ihrer entschieden antirömischen Zuspitzung alles andere als ein Randereignis. Im Gegenteil: Sie lösten ein Erdbeben aus, dessen buchstäblich welthistorische Folgen wir bis heute, 500 Jahre später, noch immer spüren können. Kein Lebensbereich blieb von dem komplexen Geschehen, das wir unter dem einfachen Begriff Reformation zusammenfassen, unberührt: Politik und Kirche, Kultur und Kunst, private Lebensführung und soziale Beziehungen: Nichts blieb mehr, wie es war. Alles wurde einer grundsätzlichen Prüfung, einer fundamentalen Kritik ausgesetzt. Vieles entstand ganz neu, vieles wurde zum ersten Mal gedacht und experimentiert.

Manches wurde erst ganz vorsichtig, sozusagen mit Zittern und Zagen, probiert, wie so oft bei neuen Entdeckungen, vieles aber auch sehr schnell mit großer Begeisterung und tieffrommer Leidenschaft entdeckt und gefeiert: Dass man die Bibel in der eigenen Sprache lesen konnte oder vorgelesen bekam, dass verständlich gepredigt wurde, dass man nicht mit Geld und guten Taten sich unendlich anstrengen musste, um in den Himmel zu kommen, sondern auf Gottes Wort und Gnade vertrauen durfte, dass das eigene Gewissen stärker und wichtiger war als Fürstenbefehl und Priesterwort, dass Nonnen und Priester heiraten und oft ein vorbildliches Familienleben führten, dass es Lieder gab, deren Melodien zu Herzen gingen und deren Texte die eigenen Gefühle und Gedanken zum Ausdruck brachten und wiederum prägten: Das alles war neu und das alles hat die Menschen in ihrem Innersten aufgewühlt und zutiefst und für alle Zeiten verändert.

Europa war, wenn man die lange Dauer des bisherigen Geschichtsverlaufs zum Vergleich nimmt, Europa war geradezu über Nacht anders geworden. Und noch nie in der überschaubaren Geschichte hatten sich in Europa politische und philosophische, spirituelle und kulturelle, mentale und mediale Veränderungen solchen Ausmaßes und solcher Intensität ereignet. Das galt übrigens nicht nur für die protestantisch gewordenen Gebiete. Auch Protestanten sollten nicht übersehen: Auch der Katholizismus fand, spätestens mit dem Konzil von Trient, neue Antworten auf die unerhörten geistigen und institutionellen Herausforderungen der Gegenwart, die ihm eine zu großen Teilen ganz neue Gestalt gaben.

Kein Zweifel: Die Reformation bedeutete für Europa mentalitätsgeschichtlich einen gewaltigen Schritt! Und obwohl wesentliche Errungenschaften der Moderne wie Toleranz, Glaubensfreiheit, Gleichberechtigung oder Demokratie zum Teil noch in weiter Ferne lagen, kann man doch in der Reformation schon die ersten Strahlen der Morgenröte der europäischen Moderne erkennen oder zumindest erahnen.

Die Frage ist aber: um welchen Preis? Die Einheit des lateinischen Europa war endgültig zerrissen, blutige Aufstände und Kriege überzogen fast den ganzen Kontinent. Ein bis dahin ungekannter Fanatismus machte sich breit. Er fand in den damals neuen Medien der Bücher, Broschüren und Flugblätter die geeigneten Mittel, den ideologischen Gegner mit niederträchtigen Karikaturen zu verunglimpfen, mit übler Nachrede zu diskreditieren. Dreiste Lügen waren an der Tagesordnung. Wenn Sie so wollen: erste Vorboten von fake news. Wo die päpstlichen Schriften Luther und die Seinen mit Wildschweinen verglichen, die den Weinberg des Herrn verwüsteten und denen man daher durchaus mit Gewalt Widerstand leisten durfte, ja musste, da kannte auch die Reformation, wo sie siegte, keine Schonung: Weder für die sogenannten Papisten, noch für unzählige unwiederbringliche Schätze überlieferter Kunst und Kultur und für bewährte Strukturen des sozialen Zusammenhalts.

Wenn man von der Reformation mit aller Vorsicht als Morgenröte der Moderne sprechen kann, so kann man mit einigem Recht in ihr auch Wurzeln von fundamentalistischen Abirrungen und Illiberalität erkennen. Schon den Zeitgenossen stellte sich die Frage, ob sie eher einen Umbruch oder eine Apokalypse erlebten. Bei allem anderen, was sie auch war, war die Reformation ein Generator großer Gefühle, von der zartesten Frömmigkeit bis zu den grauenhaftesten Enthemmungen.

Unnennbares Leid und bis dahin unvorstellbare Grausamkeit brachte schließlich vor allem auf deutschem Boden der Dreißigjährige Krieg, der im Grunde nie aus dem kollektiven Unterbewusstsein und aus der Erinnerung von uns Deutschen verschwunden ist. Dessen Beendigung im Frieden von Münster und Osnabrück stellt eine der größten Leistungen von Diplomatie dar und darf wohl bis heute ein vorbildliches Beispiel europäischer Friedenspolitik genannt werden. Dieser Friede war keine Herzensangelegenheit der Vertragsparteien – aber er war ein Sieg der pragmatischen Vernunft. Ein Friede der Köpfe und des vernünftigen Geistes, dem erst viel später einmal eine Aussöhnung in den Herzen und in den Seelen folgen sollte und konnte.

Europäische Friedenspolitik: das klingt wie ein modernes Stichwort, ein überaus wichtiges: Friedenspolitik. Wie sehr ist Europa im Lauf seiner Geschichte, von der Antike an bis heute, von Kriegen, von gewaltsamen Spaltungen und von gegenseitigen Eroberungen geprägt gewesen. Eine Einheit Europas: Wann hat es die eigentlich wirklich gegeben? Sicher: Die Augusteische Friedensepoche der pax romana, stellte immer wieder eine Sehnsuchtszeit dar. Die Völker Europas erinnerten sich noch jahrhundertelang wehmütig daran als an die Zeit, da Friede herrschte auf der ganzen Erde, wie es in einem uralten weihnachtlichen Hymnus heißt. Aber auch sie war ja nicht von Dauer und ist in den diversen Teilungen zerbrochen und unter den Anstürmen fremder Völker zwischenzeitlich untergegangen.

Selbst als fast ganz Europa christlich geworden war, war die doch alle und alles beherrschende Religion nicht stark genug, die Einheit Europas zu bewahren. Die Spaltung in Ost und West, in die lateinische und die orthodoxe Christenheit war der erste große Bruch nach der Antike. Und dieser Bruch spaltete über Jahrhunderte und wirkt bis heute nach, nicht nur in der Religion, sondern auch in der Politik. Aber Ost und West gehören zusammen, Europa muss mit diesen beiden Lungen atmen, wie es schon Papst Johannes Paul II. gesagt hatte.

Das kann in religiösen wie in politischen Fragen nur gelingen, wenn alle Beteiligten ihren wirklich besten Willen einbringen und sich als echte Partner begegnen. Es gibt, machen wir uns nichts vor, westliche Arroganz und Überlegenheitsgefühle, einen Hang zur Belehrungsdominanz und zum Besserwissen. Es gibt aber auf der anderen Seite auch einen Hang zum unbelehrbaren Stolz, zur Selbstbehauptung nationaler und regionaler Eigenheiten, in der das Bewahren von Identität wichtiger ist als jeder Ausgleich und alle Schritte aufeinander zu. Die aktuellen Entfremdungsprozesse innerhalb der Orthodoxie mögen ein weiterer Beleg dafür sein.

In Europa haben wir politische Strukturen und Foren geschaffen, um einen Dialog von gleich zu gleich führen zu können und so unterschiedliche Interessen – die oft von tiefen historischen Erfahrungen geprägt sind – auszugleichen. Auch die Spaltungen innerhalb der lateinischen Christenheit, besonders diejenigen durch die Reformation, schienen ebenfalls jahrhundertelang, ja bis vor wenigen Jahrzehnten, so unverrückbar, so fest zementiert, dass es wie ein Wunder erscheinen muss, wenn wir an den Zustand denken, den wir heute erreicht haben. Hier lautet der zentrale Begriff: Versöhnung.

Die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass das für unmöglich Gehaltene möglich sein kann: Versöhnung und Friede. Ein Friede, eine Versöhnung nicht nur der Köpfe und der Vernunft, sondern auch der Herzen. Diese letzten Jahrzehnte haben das zwischen den Konfessionen der lateinischen Christenheit gezeigt, wenn wir nur daran denken, dass es im Kernland der Reformation jetzt nicht nur gemeinsame Gottesdienste sondern sogar Ökumenische Kirchentage gibt, dass diakonische, caritative und andere soziale Arbeit der Kirchen in selbstverständlicher Gemeinsamkeit geschehen, ja, dass es, wie in Nordrhein-Westfalen zum Teil gemeinsamen evangelischen und katholischen Religionsunterricht gibt – und nicht zuletzt, dass hier, in dieser evangelischen Kirche in Rom, Päpste zu Besuch und zum gemeinsamen Gottesdienst gewesen sind.

Man muss mit dem Stand der Ökumene nicht zufrieden sein – und ich bin es auch nicht – aber wir sollten nicht vergessen, dass bis zur Leuenberger Konkordienformel auch der Großteil der evangelischen Kirchen kein gemeinsames Abendmahl feierte. Und das ist erst gut 40 Jahre her.

Ein Stück weit ist auch zwischen Ost und West der Weg der Versöhnung anfanghaft beschritten – im Ökumenischen Weltrat der Kirchen, aber auch seit dem unvergessenen Bruderkuss zwischen Papst Paul VI. und Patriarch Athenagoras und – nach fast tausend Jahren – dem Aufheben des gegenseitigen Ausschlusses.

Ohne Versöhnung ist aber auch das große Werk der politischen europäischen Einigung nicht denkbar. Die Europäische Union, die ihre Ursprünge gleichsam in den Umrissen des alten karolingischen Europa hatte und sich sozusagen friedlich ökumenisch weiterentwickelte, ist natürlich eine überaus vernünftige Angelegenheit, eine Sache der pragmatischen Vernunft und der nüchternen ökonomischen, strategischen und geopolitischen Überlegung. Aber so ein Projekt kann auf Dauer nur existieren, wenn auch Herzen und Seelen dabei sind. Gefühle und innere Haltung sind nie zweitrangig. Jeder weiß das von seinen eigenen Lebensentscheidungen und Erfahrungen. Aber politisch wurden sie gelegentlich unterschätzt oder übergangen. Und erst jetzt, wo in Europa so vieles bröckelt und wackelt und unsicher wird, wird überdeutlich, wie sehr es auch auf Stimmung und Haltung ankommt: von – Sie kennen die Beispiele ja alle selbst – von Großbritannien über Katalonien bis nach Polen und Griechenland und so weiter.

Und welche Stimmungen und innere Motivlagen in den unterschiedlichen Städten und Regionen unseres eigenen Landes eine Rolle spielen, haben wir spätestens bei den letzten Wahlen selbst gemerkt. Übrigens wäre es ein verhängnisvoller Fehler, Gefühle einfach irrational zu nennen. Das Herz hat, nach Blaise Pascal, seine Gründe, wenn auch andere als die, die die Vernunft kennt. Politik, die auf Gefühle keine Rücksicht nimmt, wird als kalt empfunden und Ablehnung erfahren.

Andererseits wird aber Politik, die nur auf Stimmungen reagiert, nichts gestalten können, weil man für konstruktive Gestaltung auch die kühle Vernunft braucht. Europa baut sich auf auf der Vernunft der pragmatischen Schritte und daraus, dass es die Herzensangelegenheit derer ist, die Versöhnung und Verständigung anstreben, Ausgleich und Frieden – und nicht Hass und Abgrenzung, Wut und Aggression.

Wahrscheinlich ist es so, dass es den Aggregatzustand eines festen, einigen Europa nicht gibt. Es hat ihn nie gegeben und es wird ihn vermutlich auch immer nur als ein Ziel, als eine den Weg weisende Utopie geben. Aber es gibt eine Geschichte der Hoffnung und eine Geschichte der Ermutigung, wie nicht zuletzt die Versöhnungsgeschichte der einst blutig zerstrittenen Christenheit zeigt.

Frieden ist ein Weg, kein dauernder Zustand. Und Versöhnung ist ein Prozess, bei dem Stillstand gefährlichen Rückschritt bedeutet. Den Weg der Gemeinsamkeit zu suchen, das zeigt uns diese Versöhnungsgeschichte der Konfessionen, das heißt ja nicht, den Anspruch auf Wahrheit aufzugeben, wie manche befürchten, die vor allem um die eigene Identität besorgt sind.

Für jeden Bereich, nicht nur für die Begegnung zwischen Konfessionen und Religionen gilt: Es ist eines, sich die eigenen vermeintlichen Wahrheiten gegenseitig um die Ohren zu schlagen – und es ist etwas anderes, gemeinsam nach der Wahrheit zu suchen. Allein das ist hilfreich, allein das führt weiter, allein das geht nach vorne, in eine gemeinsame Zukunft.

In der Geschichte der ökumenischen Annäherung hat man in den letzten Jahren den Begriff der versöhnten Verschiedenheit geprägt. Dazu lässt sich, wie zu allem, einiges kritisch bemerken. Aber ich finde ihn richtig. Und ich finde, man könnte ihn, mit aller Vorsicht und ohne ihn überzustrapazieren, auf das komplizierte Gebilde des politischen Europa übertragen. Er würde vielleicht manchen die Angst nehmen, ein großes, allzu mächtiges, zentralistisches, uniformes Europa würde einzelnen Ländern, Regionen, Gemeinschaften ihre Identität nehmen oder sie so bevormunden, dass sie sich mit ihrem Eigenen nicht mehr artikulieren könnten.

Vielleicht ist versöhnte Verschiedenheit die Grundlage von Einheit, die in Europa möglich ist. Auf dieser Basis, und nur auf dieser Basis kann eine gemeinsame europäische Vision, vielleicht sogar eine gemeinsame Identität heranwachsen, die manche junge Menschen schon meinen, wenn sie sagen: Europa ist mein zweites Vaterland. Doch die Verschiedenheit zu versöhnen, das wird eine permanente diplomatische Kunst erfordern, die dem Werk von Münster und Osnabrück von 1646/48 um nichts nachsteht, als die Reformation endlich als unwiderrufliche politische Tatsache anerkannt und der Umgang mit ihr gesamteuropäisch in friedlichere Bahnen gelenkt wurde.

Die Reformation, das ist das Ereignis, von dem diese Überlegungen ausgegangen sind und das sie, in europäischer Dimension, zu umkreisen versucht haben. Der Begriff der Reform oder der Reformation ist einer der am meisten benutzten, um nicht zu sagen: strapazierten Begriffe in der europäischen Geistesgeschichte. Kaum eine Epoche, die nicht kleine oder große Reformen ins Werk setzen wollte, von Karl dem Großen, der eine reformatio des Römischen Reiches anstrebte, über sämtliche Ordensbewegungen, die alle eine reformatio des ursprünglichen Christentums zum Ziel hatten, über die preußischen Reformen nach den napoleonischen Kriegen bis hin etwa zu den Wirtschafts- und Strukturreformen unserer Tage.

Nichts in Europa ist sozusagen so beständig wie die Reform und wie das Gefühl ihrer Dringlichkeit und Notwendigkeit. Diese Erkenntnis kann uns Mut machen und motivieren. Unsere christliche Zuversicht weiß zudem: Die Zukunft ist offen! Man kann etwas tun, man kann die Welt verändern, man kann die Lebensbedingungen der Menschen verbessern. Es lohnt sich, sich für Frieden und Versöhnung einzusetzen. Das kann uns ermutigen, nun auch selbst, ob in Kirche oder Politik, unseren Teil zu tun: Zur Reform und zur Verbesserung der Zustände, wie sie in unseren Tagen und unter unseren Problemstellungen an der Zeit sind.

Als Christenmenschen dürfen wir uns aber in all den aktuellen Herausforderungen hin und wieder auch ein bisschen Gelassenheit zusprechen lassen, wie sie viele Lieder der Reformation zum Ausdruck bringen. Diese Lieder sind vielleicht ihr schönstes, auf jeden Fall ihr ökumenisch versöhnlichstes Erbe. Ich denke, auch die katholischen Schwestern und Brüder finden, so wie wir evangelischen Christen, Trost und Gelassenheit in solchen Zeilen wie in diesen von Paul Gerhardt:

Der Wolken, Luft und Winden

Gibt Wege, Lauf und Bahn,

Der wird auch Wege finden,

Da dein Fuß gehen kann.

Vielen Dank.