Diskussionsveranstaltung zum 40. Todestag von Hanns Martin Schleyer

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 18. Oktober 2017

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 18. Oktober bei der Veranstaltung "Die Freiheit verteidigen, die Demokratie stärken – eine bleibende Herausforderung" eine Ansprache gehalten: "Mord verjährt nicht. Nicht im Strafgesetzbuch. Vor allem aber nicht im Leben derer, die einen geliebten Menschen verloren haben. Auch nicht im kollektiven Gedächtnis, wenn Terroristen so öffentlich morden wie 1977."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Veranstaltung 'Die Freiheit verteidigen, die Demokratie stärken – eine bleibende Herausforderung' zum 40. Todestag von Hanns Martin Schleyer im Großen Saal von Schloss Bellevue

Mord verjährt nicht. Nicht im Strafgesetzbuch. Vor allem aber nicht im Leben derer, die einen geliebten Menschen verloren haben. Auch nicht im kollektiven Gedächtnis, wenn Terroristen so öffentlich morden wie 1977.

Heute vor 40 Jahren wurde Hanns Martin Schleyer nach sechs Wochen Geiselhaft von der sogenannten Rote Armee Fraktion erschossen.

Wir wissen nicht, um welche Zeit genau, an welchem Ort genau, von wessen Hand genau.

Aber wir wissen, dass eine Ehefrau damals ihren Mann verlor, vier Söhne ihren Vater.

Die RAF ermordete einen Menschen, aus der zynischen Sicht der Terroristen reduziert auf einen Mann mit Vergangenheit, einen Funktionsträger, eine Symbolfigur. Als Arbeitgeberpräsident wurde Hanns Martin Schleyer zur Zielscheibe ihres Hasses, zum Repräsentanten des kapitalistischen Systems, dem die RAF den Kampf angesagt hatte.

Schon im Frühjahr und im Sommer 1977 hatte es Tote gegeben: Am 7. April wurden Generalbundesanwalt Siegfried Buback, sein Fahrer Wolfgang Göbel und Georg Wurster, Leiter der Fahrbereitschaft der Bundesanwaltschaft, in Karlsruhe erschossen. Am 30. Juli musste Jürgen Ponto sterben, Vorstandssprecher der Dresdner Bank AG in Frankfurt am Main.

Und bei der Entführung von Hanns Martin Schleyer am 5. September wurden seine Begleiter, ein Fahrer und drei Polizisten, im Kugelhagel von Köln ermordet. Die Namen dieser Opfer blieben oft im Erinnerungsschatten, gerade deshalb möchte ich sie heute nennen: Heinz Marcisz, Reinhold Brändle, Roland Pieler und Helmut Ulmer.

Am 22. September wurde der niederländische Polizist Arie Kranenburg erschossen, als er zwei flüchtige RAF-Terroristen in Utrecht festnehmen wollte.

Schließlich – auch daran denken viele hier im Saal zurück – wurde Jürgen Schumann, Pilot der entführten Lufthansa-Maschine Landshut, am 16. Oktober von palästinensischen Terroristen und Komplizen der RAF umgebracht.

Elf Tote im Jahr 1977!

Insgesamt hat die RAF bis in die 1990er-Jahre 34 Menschen kaltblütig und skrupellos ermordet, mit Jürgen Schumann waren es 35.

Ich bin der Hanns Martin Schleyer-Stiftung sehr dankbar, dass wir unsere gemeinsame Veranstaltung heute als stilles Gedenken an sie alle, an alle 35 Toten verstehen.

35 jäh beendete Menschenleben. Die Zahl der Opfer aber war weit größer – und es gab sie auf vielen Seiten. Für die Eltern, Geschwister, Partner, Kinder und Freunde der Ermordeten wurde das Wüten der RAF zur lebenslangen Bürde. Auch die Angehörigen der Terroristen hatten oft schwer zu tragen, nachdem ihre Kinder oder Geschwister sich mit Verachtung von ihrer bürgerlichen Existenz losgesagt, ihr Dasein ganz der Gewalt verschrieben oder – wie in der Todesnacht von Stammheim – ihren Selbstmord als Anklage gegen das politische System inszeniert hatten. Lange, viel zu lange hielt sich die Märtyrerlegende vom Justizmord an den Häftlingen. Und im Tatort am vergangenen Sonntag lebte sie noch einmal neu auf – wie überhaupt Wahn und Lüge die RAF-Geschichte über Jahrzehnte umgaben, unterstützt und immer wieder genährt von veröffentlichten Halbwahrheiten einzelner Beteiligter aus der Tätergeneration.

Allerdings und damit zurück in das Jahr 1977: Von klammheimlicher Freude, wie sie seit dem Mord an Siegfried Buback im April des Jahres so kontrovers diskutiert worden war, war dann im Spätherbst 1977 nichts mehr zu spüren. Stattdessen Schock und Ernüchterung, auch bei vielen, die sich als links verstanden und in den 1960er Jahren politisch aktiv geworden waren. Zur Erinnerung gehört ja auch dies:

Hunderttausende waren 1967/1968 auf die Straße gegangen – gegen Geschichtsvergessenheit, Bildungsnotstand, gegen Kolonialismus und Vietnamkrieg, gegen Autoritäten aller Art, die ein freies und befreites Leben aus Sicht der jungen Generation verbauten. Aber nur ein paar Dutzend der Protestler haben dann den Weg des bewaffneten Kampfes gewählt, total und tödlich für die Opfer, und die Bundesrepublik so in ihre vermutlich schwerste Krise der Nachkriegszeit getrieben.

Hanns Martin Schleyers Leben gegen die Freiheit der inhaftierten Terroristen. In den Geschichtsbüchern steht: Der Staat zeigte sich wehrhaft. Der Staat war nicht erpressbar.

Geblieben ist allerdings ein bis heute unauflösbares Dilemma. Nicht erpressbar zu sein, das kann in letzter Konsequenz bedeuten, ein Menschenleben aufzugeben, um nicht das Tor für immer neue Entführungen, für immer neue Schrecken zu öffnen. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt hat diese Linie entschlossen verfolgt, gestützt von den Verantwortlichen der damals im Bundestag vertretenen Parteien. Gestützt auch von einer Öffentlichkeit, die sich nach anfänglichen Sympathien für die RAF mit zunehmendem Entsetzen abwandte. Der Herbst 1977 war und blieb nicht eine bloße Episode in der Nachkriegsgeschichte, er hat Deutschland verändert.

Und dieser Herbst hallt bis heute nach – in Filmen, Theaterstücken, in Büchern, Zeitungsartikeln, vor allem in offenen Fragen. Den Tätern, die nun seit vielen Jahren schweigen, denen möchte ich in aller Deutlichkeit sagen: Sie machen sich ein zweites Mal schuldig – schuldig an den Angehörigen der Opfer, nicht juristisch, aber moralisch. Wenn Sie das Rückgrat besitzen, das Sie bei anderen so oft bezweifelt haben, dann reden Sie und geben Antwort auf die immer noch offenen Fragen. Wenigstens das sind Sie den Angehörigen schuldig.

Ich wurde 1956 geboren, war zu jung für einen 1968er. Aber auch ich habe mich später oft gefragt: Hätte man die Fanatiker der RAF aufhalten können? Wenn ja, zu welchem Zeitpunkt und mit welchen Argumenten? In der Rückschau und vordergründig scheint die Radikalisierung der RAF leicht absehbar, es genügt ein Blick in die Propaganda von damals.

Zitat von Ulrike Meinhof, veröffentlicht im Juni 1970: Wir sagen natürlich, die Bullen sind Schweine, und wir sagen, der Typ in Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, (...) und natürlich kann geschossen werden!

Noch deutlicher brachte es Horst Mahler auf den Punkt, als er 1971 in der RAF-Schrift mit dem Titel Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa Mao Tse-tung mit dem Satz zitierte: Politische Macht kommt aus den Gewehrläufen.

Aus diesen Worten wurden Taten.

Es war nicht so, dass es vorher keine Debatte über die Legitimität von Gewalt zur Interessendurchsetzung gegeben hätte. Im Gegenteil: Allein die Formen struktureller Gewalt beschäftigten ganze Seminargruppen und Wohngemeinschaften. Journalisten, Autoren, Künstler – Intellektuelle aller Couleur kommentierten intensiv und viele wohlwollend das revolutionäre Streben. Andere – vermutlich zu wenige – hielten dagegen. Was es jedoch bedeuten würde, wenn der Staat tatsächlich herausgefordert wäre, wenn die Gewalt nicht mehr Fiktion, sondern Realität sein würde – diese Erfahrung trat erst 1977 mit Wucht, und natürlich viel zu spät, ins öffentliche und kollektive Bewusstsein.

Wer 1977 erlebt hat, der fühlte sich in den vergangenen Jahren oft an damals erinnert, auch wenn sich die Umstände inzwischen natürlich verändert haben. Die Terrorzelle des NSU mordete lautlos, sie kam von ganz rechts, nicht von ganz links, soweit diese Zuschreibungen heute überhaupt noch gelten und relevant sind. Und die Dschihadisten ermorden keine Symbolfiguren, sondern zielen auf Menschen in ihrem Alltag, weil sie das westliche Lebensmodell als solches in Frage stellen wollen. Wenn es eine Gemeinsamkeit gibt zwischen den unterschiedlichen Formen des Terrors, dann vielleicht diese: die Feinderklärung gegenüber der bestehenden Ordnung und die Destabilisierung durch Angst und Terror. Terroristen wissen, dass ihre Mittel nicht ausreichen, um eine Gesellschaft physisch zu vernichten, deshalb sind ihre Instrumente: Verunsicherung, Angst und Schrecken. Möglichst viele Menschen sollen in Panik versetzt, möglichst hoher Druck auf die politisch Verantwortlichen erzeugt werden. Wenn es dann zum Kontrollverlust kommt, erodiert der Staat von innen, weil er – objektiv oder subjektiv – eine seiner wichtigsten Funktionen verliert: die Gewährleistung von Schutz und Sicherheit.

Auch heute werden Worte wieder zu Taten – aus ideologischen oder religiösen Gründen, oft unter Berufung auf heilige Schriften, die in Deutschland die meisten weder kennen noch verstehen. Befassen wir uns genug mit den Motiven des Fanatismus? Tun wir genug, um einer Radikalisierung entgegenzuwirken, die mitten unter uns stattfindet? – Sicher nicht. Und offen bleibt, ob wir in dem, was wir tun, das Richtige tun. Aber diese Themen dringen allmählich ins öffentliche Bewusstsein, verändern die Aufmerksamkeit auf Schulhöfen, in Kantinen, in sozialen Medien, überall dort, wo Mitmenschen sich plötzlich auffällig verhalten oder sich völlig zu entfremden drohen.

Jeder Anschlag zwingt uns zu schärferer Wahrnehmung. Es war weit mehr als symbolisches Handeln, als sich nach Paris, Nizza und Berlin Tausende Menschen versammelten, um Anteilnahme und Standhaftigkeit zu zeigen. Unsere Antwort auf den Terror ist auch Selbstvergewisserung. Wer das Geschehen schon länger verfolgt, der weiß, dass diese Selbstvergewisserung handfeste Folgen hatte, handfeste Folgen in der materiellen Politik. Nach dem Olympia-Attentat von München 1972, zu dem ich erst kürzlich gesprochen habe, wurde die GSG 9 gegründet und konnte später die Passagiere der Landshut retten. Nach dem 11. September 2001 wurden vor allen Dingen die Sicherheitsvorkehrungen im Luftverkehr intensiv ausgebaut.

Heute sehen wir uns neuen Bedrohungsszenarien gegenüber, und auch heute ziehen wir Konsequenzen. Inzwischen klingt es fast wie ein Allgemeinplatz, mehr Polizeipräsenz auf deutschen Straßen zu fordern. Wir haben nicht nur aus 1977 schmerzlich gelernt, auch später haben wir immer wieder lernen müssen. War es richtig, die Forderung nach dem schlanken Staat unterschiedslos auf alles, auch auf Ordnungsverwaltung, Polizei, Staatsanwaltschaften, Gerichtswesen zu beziehen? Ist es nicht unbillig, den Rechtsstaat wegen solcher materiellen Engpässe der Kritik auszusetzen? Wie stellen wir im gelebten Föderalismus sicher, dass irgendwo vorhandenes Wissen über Gefährder tatsächlich allen zuständigen Behörden zur Verfügung steht? Und inzwischen vielleicht noch dringlicher: Woher kommen die IT-Spezialisten, die den technologischen Wettlauf mit gut gerüsteten Gegnern aufnehmen können? Woher kommen die Männer und Frauen, die in mehreren Kulturen zuhause sind und international agierenden Terrorismus entsprechend analysieren können? Wie finden wir – und das ist wahrscheinlich die größte Frage – wie finden wir unter den sich verändernden Bedingungen immer wieder und immer wieder neu die richtige Balance zwischen Freiheit und Sicherheit?

Ich begrüße es sehr, dass die Schleyer-Stiftung morgen ein Symposium zu vielschichtigen Themen wie diesen veranstaltet. Wir brauchen Antworten auf die offenen Fragen. Über all das müssen wir reden, öffentlich reden und notfalls auch streiten. Wir brauchen eine Debatte um die richtige Politik der Inneren Sicherheit – eine Debatte: unverdrossen, bürgernah, aber auch hoffentlich differenziert genug, um diesem wirklich komplexen Thema gerecht zu werden.

Gedenken und Nachdenken stand auf den Einladungskarten. Ich darf Ihnen versichern, unsere Podiumsgäste sind bereit, sich auf diesen großen Bogen einzulassen. Ich danke Frau Professorin Renate Köcher, Herrn Stefan Aust, dem Generalbundesanwalt Dr. Peter Frank und Herrn Professor Andreas Rödder von der Universität Mainz. Und ich danke Ina Baltes, dass sie diese Diskussion zunächst souverän moderieren und dann das Gespräch mit Ihnen, mit dem Publikum, suchen wird.

Ich glaube, es wird ganz im Sinne von Hanns Martin Schleyer sein, wenn wir nicht nur der Vergangenheit eine Bühne geben, sondern auch der Zukunft. Trauer verjährt nicht. Umso wichtiger ist mir heute, dass wir der Erinnerung unsere Kraft für morgen an die Seite stellen. Vielen Dank!