Einweihung des neuen Plenarsaals im Niedersächsischen Landtag

Schwerpunktthema: Rede

Hannover, , 27. Oktober 2017

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 27. Oktober beim Festakt zur Einweihung des neuen Plenarsaals im Niedersächsischen Landtag eine Ansprache gehalten: "Unsere Parlamente sind Orte politischer Kultur. Diese Kultur aber ist kein einmal erworbener Verdienst, sie will gepflegt werden, von Ihnen, den Abgeordneten. Mit Respekt und Kompromissfähigkeit. Im Streit, ja, auch in der Kontroverse, aber nicht durch politische Feindschaften und gegenseitige Verachtung. Demokratie braucht Konkurrenz, Konkurrenz um Ideen, Konzepte und das bessere Argument. Aber sie verträgt keine Sprache der Gewalt und der Feindseligkeit, keine Leugnung der Vergangenheit und der Verantwortung, die wir aus ihr tragen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache beim Festakt zur Einweihung des neuen Plenarsaals im Landtag Niedersachsen in Hannover

Es ist schön, zurück zu sein, an dem Ort, an dem ich mit vielen von Ihnen manche Jahre gemeinsam gearbeitet habe, gelegentlich gestritten, vor allem aber einiges gemeinsam auf den Weg bringen durfte. Und ich freue mich riesig, lieber Herr Busemann, über die Einladung, dabei zu sein, an diesem besonderen Tag, und zu sehen, dass dieses Haus erhalten geblieben ist, dass es sich gewandelt, aber doch sein Gesicht bewahrt hat. Ich darf das sagen, denn der Niedersächsische Landtag ist ein Teil auch meiner Biografie, ein Abschnitt meines Lebens, an den ich mich gern erinnere und der mir wichtig bleibt.

Als Hanns Lilje, der damalige Landesbischof von Hannover 1952 die wiederaufgebaute Marktkirche einweihte, sagte er, die gewaltige Schönheit des Baus sei erst jetzt wirklich sichtbar geworden. Er sprach über die Arbeit desselben Architekten, der auch den ursprünglichen Bau dieses Hauses verantwortet hat, über Dieter Oesterlen. Ich glaube, es lohnt sich, nicht nur an diesem Tag, an ihn zu erinnern. Nicht allein, weil er für diesen Anbau verantwortlich war, sondern weil Oesterlens Leben und sein Wirken in dieser Stadt das Gesicht Hannovers entscheidend geprägt hat.

Die Hannoveraner wissen das. Sie wissen, er hat die Marktkirche wiederaufgebaut. Sie wissen, das Historische Museum, der Landtag und das Rundfunkgebäude des NDR und nicht zu vergessen, das alte Café Kröpcke, sind seine Bauten. Und sie wollen sich ihren Oesterlen nicht nehmen lassen.

Ich kann sie verstehen.

Oesterlens Wirken in dieser Stadt und über sie hinaus ist ein Teil bundesdeutscher Geschichte. 1911 geboren, gehörte er zu einer Generation von Architekten, die geprägt war von den politischen und biografischen Brüchen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In Hannover stand 1945 kaum ein Stein auf dem anderen. Die historischen Gebäude der Stadt waren bis auf die Grundmauern zerstört.

Oesterlen wollte die kriegsversehrte Stadt erhalten, er wollte den Wiederaufbau, aber nicht die bauhistorisch korrekte Rekonstruktion. Was erhalten geblieben war, sollte in die Gegenwart und Zukunft hinein erweitert, der historische Bau in einen zeitgemäßen Raum überführt werden.

Das zerstörte Erbe kann nur für neue Aufgaben in neuer Form entstehen, heißt es 1947 in einem Aufruf von Architekten und Bildhauern. Zwischen Tradition und Neuanfang klaffte der Abgrund des Zivilisationsbruchs. Wer neu beginnen wollte, musste buchstäblich die Trümmer abtragen, die eine Herrschaft der Gewalt und des Größenwahns hinterlassen hatte.

Dieser Aufbruch in die demokratische Moderne der Bundesrepublik war nicht nur eine ästhetische Wahl, er war zugleich eine eminent politische Entscheidung. Ich erinnere mich noch gut an meine eigene Schulzeit: Hannover – so stand es schon in meinen Seydlitz-Erdkundebüchern zu lesen – war die Musterstadt der Nachkriegsmoderne: breite Straßen, funktionale Verkehrsachsen, ausreichender Wohnraum. Dieter Oesterlen hatte seinen Anteil an diesem Ruf. Vor allem aber trug er dazu bei, dass etwas Gutes und Dauerhaftes entstand aus diesem Neuaufbruch von Kultur, Religion und Politik nach 1945.

Wie unsere Städte, so musste auch die Demokratie neu aufgebaut werden, sagte der damalige Landtagspräsident Karl Olfers bei der Einweihung des Landtags 1962.

Keine leichte Aufgabe in einem Landstrich, der wirtschaftlich, politisch, kulturell und religiös so unterschiedlich geprägt war wie das neue Bundesland Niedersachsen. Hier mussten sich Hannoveraner, Oldenburger, Braunschweiger, Schaumburger und, nicht zu vergessen, die Friesen erst zusammenraufen.

Wer Niedersachsen regieren will, muss sie alle kennen. Er muss viel herumreisen und stetigen Interessenausgleich sozusagen als Sportart begreifen. Er wird sie alle schätzen und das Land lieben lernen, denn es lebt von seiner geografischen Vielfalt, seinen regionalen Eigenarten, unterschiedlichen sozialen und kulturellen Milieus. Niedersächsisches gibt es nur im pluralis regionalis. Selbst der Grünkohl heißt in Braunschweig Braunkohl und der Oldenburger Pinkel ist in Hannover die Bregenwurst.

Diese regionale Vielfalt, die Eigenarten und Eigenartigkeiten der Hannoveraner, Oldenburger, Braunschweiger, Schaumburger und Ostfriesen in einem Land Niedersachsen vereinigt zu haben, ist eine Erfolgsgeschichte von vielen in unserem föderalen Staat. Das Land Niedersachsen zentralistisch zu führen, war so wenig denkbar wie ein Zentralstaat anstelle der Bundesrepublik Deutschland. Vorbehalte gegen eine hannoversch-welfische oder preußische Vereinnahmung haben die niedersächsische Politik noch lange bestimmt. Manche werden sich daran erinnern: Erst 1975 stimmten Oldenburger und Schaumburg-Lipper abschließend über die Wiederherstellung eigener Länder ab – was auch nichts änderte. Es blieb beim gemeinsamen Bundesland Niedersachsen.

Mir scheint, die föderative Verfasstheit dieser Bundesrepublik hat die deutsche Lebenswirklichkeit gespiegelt und sie zugleich in Jahrzehnten geprägt. Ja, vielleicht war der mühsame Interessenausgleich, zu dem sie zwingt, die einzig mögliche Art, Demokratie zu erlernen. Jedenfalls ist es den Niedersachsen gelungen, den Grünkohl zu lieben, aber auf der Bregenwurst zu bestehen. Und im Boßeln sollen sich inzwischen sogar Hannoveraner üben.

Das muss so sein. Ein föderal verfasster Staat lebt von selbstwussten politischen Akteuren. Dass deren Abstimmung untereinander langwierig und kompliziert sein kann, wissen wir. Sie fordert Flexibilität, Kompromiss-, Lernfähigkeit – und manchmal auch Leidensfähigkeit. Aber Vermittlung, Verständigung und Ausgleich sind die Mittel eines modernen Staates. Der Rückzug auf das Eigene, gar das Beharren auf quasi natürlicher Überlegenheit der eigenen Region sollten der Vergangenheit angehören.

Es war dieser demokratische Lernprozess, der unser Land stark gemacht hat. Denn das vielleicht mühevolle, am Ende aber konstruktive Miteinander ist eine Stärke. Eine Stärke, die nicht gefürchtet, sondern geschätzt wird.

Die Demokratie in unserem Land hat sich über die Jahrzehnte als widerstandsfähig erwiesen, widerstandsfähiger noch, als manche Parlamentsbauten, die für sie gebaut wurden. Den jüngsten Beleg dafür finden wir genau hier, im niedersächsischen Landtag.

Die vergangene Landtagswahl hat gezeigt: Die Niedersachsen haben noch zahlreicher als sonst von ihrem Recht Gebrauch gemacht, ihre Vertreter in diesem Parlament zu bestimmen – und das obwohl sie zwei Mal kurz hintereinander an die Wahlurne gerufen wurden. Mehr noch, die Wählerinnen und Wähler haben mit ihrem Votum ganz offenbar die politische Mitte stärken wollen. Und ich gehe davon aus, mit dieser Entscheidung ist die Erwartung verbunden, dass in diesem Landtag auch künftig Dialog und Verständigung gesucht werden und nicht das politische Spektakel.

Unsere Parlamente sind Orte politischer Kultur. Diese Kultur aber ist kein einmal erworbener Verdienst, sie will gepflegt werden, von Ihnen, den Abgeordneten. Mit Respekt und Kompromissfähigkeit. Im Streit, ja, auch in der Kontroverse, aber nicht durch politische Feindschaften und gegenseitige Verachtung. Demokratie braucht Konkurrenz, Konkurrenz um Ideen, Konzepte und das bessere Argument. Aber sie verträgt keine Sprache der Gewalt und der Feindseligkeit, keine Leugnung der Vergangenheit und der Verantwortung, die wir aus ihr tragen.

Weniger königlich, weniger repräsentierend, weniger distanzierend als früher das Schloss – so beschrieb Dieter Oesterlen 1962 seinen Neubau des Plenarsaals. Stattdessen: tätig. Lebendig, demokratisch und zugleich von einer gewissen, der Aufgabe entsprechenden Monumentalität. Die Demokratie als Bauherr schafft sich ein tätiges, ein Arbeitsparlament. Nichts anderes ist die repräsentative Demokratie.

Und nichts anderes erwarten die Wähler von ihrem neuen Landtag: Dass er leistet, was eine repräsentative Demokratie zu leisten imstande ist – die vordringlichen Aufgaben dieses Landes zu erkennen, Probleme zu lösen, zu arbeiten, für die eigene und für kommende Generationen. Unsere globalisierte Gesellschaft hat noch keine bessere Herrschaftsform ersonnen und das ist auch nicht zu erwarten. Wer komplexe Fragen beantworten will, braucht keine Trillerpfeifen, sondern die Fähigkeit zur scharfen Auseinandersetzung, zum Dialog, und zum Konsens.

Mir scheint, dieser Saal wird den Raum dafür bieten. Der Umbau, den ich schon in der Bauphase einmal sehen durfte, ist dieser Aufgabe höchst gerecht geworden. Funktional, wie sein Vorgänger, aber heller und freundlicher die Atmosphäre im Inneren, mit mehr Platz für Besucher, die von der Möglichkeit das Parlament bei der Arbeit zu sehen hoffentlich auch Gebrauch machen. Dafür will ich ausdrücklich auch die am Projekt beteiligten Fachplaner loben, die mit der Umsetzung der Sanierung beauftragt waren. Der niedersächsische Landtag – in der alten, wie in der neuen Zusammensetzung – kann zufrieden sein mit dem Resultat. Ich gratuliere Ihnen allen zur Wiedereröffnung.