Eröffnung des Museums Historial Hartmannswillerkopf

Schwerpunktthema: Rede

Wattweiler/Frankreich, , 10. November 2017

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 10. November zur Eröffnung des deutsch-französischen Museums Hartmannswillerkopf in Frankreich eine Ansprache gehalten: "Wir erinnern, weil jede Generation für sich aufs Neue erlernen muss, die Idee der Nation von der Ideologie des Nationalismus zu unterscheiden. Wir erinnern, weil wir nie wieder den Irrweg beschreiten wollen, auf den der Nationalismus führt: zur Repression nach innen und zur Aggression nach außen."


Dies ist, so friedlich er uns heute erscheinen mag, ein vom Schrecken gezeichneter Ort. Wer die Bilder aus den letzten Tagen der Kampfhandlungen im Mai 1916 ansieht, der schaut auf eine menschenleere apokalyptische Szenerie, auf unbelaubte, verkohlte Baumstümpfe, auf eine von Geschosskratern durchpflügte Bergkuppe. Nur das Gipfelkreuz ragt noch daraus hervor, wie die Reminiszenz an eine Zivilisation, die hier im Maschinengewehrfeuer, im Stakkato der Granatwerfer, im Gift der Gasgranaten, in der Feuersbrunst erschossen, erstickt, verbrannt und vernichtet worden ist.

Dem Anderen den Berg nehmen, das war das Ziel, als die Kämpfe am Hartmannswillerkopf im Dezember 1914 begannen.

Maximilian Ott, ein württembergischer Soldat, ist der erste Tote, Marius Magnin der erste auf französischer Seite.

30.000 werden es am Ende sein, Franzosen und Deutsche. Denn es blieb bei diesem Eroberungsbefehl, auch als der Hartmannswillerkopf seine strategische Bedeutung längst eingebüßt hatte, als der Große Krieg weitergezogen war nach Verdun, an die Somme, ins Artois. Über die Jahre bis zur Einstellung der Kämpfe 1916 hatte sich die Frontlinie kaum verschoben und sie bewegte sich auch nicht mehr bis zum Kriegsende. Wofür kämpften und starben hier Zehntausende?

Mangeuse d’hommes – Menschenfresser wird der Hartmannswillerkopf genannt. Das massenhafte Sterben an diesem Ort steht für den Irrsinn des Krieges. Doch eines wissen wir: Wir wissen, dass es nicht der Berg war, der Menschenopfer forderte. Es war der Irrglaube an die Überlegenheit der eigenen Nation über andere Nationen, für den Millionen junger Männer in den Krieg zogen und darin umkamen. Es war – so ist für mein Land zu sagen – der schrankenlose Großmachtanspruch, ein in Nationalismus übersteigerter Patriotismus, der in die Köpfe junger Menschen hämmerte, dass Frankreich der vermeintliche Erbfeind sei.

Heute erinnern wir, Franzosen und Deutsche gemeinsam, an das, was hier geschah. Wir erinnern, weil jede Generation für sich aufs Neue erlernen muss, die Idee der Nation von der Ideologie des Nationalismus zu unterscheiden. Wir erinnern, weil wir nie wieder den Irrweg beschreiten wollen, auf den der Nationalismus führt: zur Repression nach innen und zur Aggression nach außen.

Wir brauchen die Erinnerung, als Mahnmal, als Gedenkstätte, als Museum – aber das allein wird nicht ausreichen. Wenn wir der Soldaten gedenken, die hier ruhen, wenn wir ihr Andenken ehren, dann tun wir das, weil ihr Sterben uns nicht ruhen lassen darf. Das wird 100 Jahre nach dem Geschehen – wenn die letzten Zeitzeugen verstorben sind und junge Menschen fragen: ‚Was hat das eigentlich mit mir zu tun?‘ – nicht einfacher. Aber es ist deshalb keinen Deut weniger wichtig. Nicht dieser Berg ist ein Menschenfresser – der Nationalismus ist ein Menschenfresser!

Europa! Dieses Europa, die in Frieden vereinte Europäische Union, das ist die Antwort auf die Verheerungen zweier Weltkriege.

Dieses Europa, zusammengeschlossen durch die Zeichen und Symbole seiner schrecklichen Vergangenheit, ist eine außergewöhnliche und überhaupt nicht selbstverständliche Leistung, so hat es der viel zu früh verstorbene britische Historiker Tony Judt geschrieben. Diese neue, gemeinsame Gedenkstätte hier am Hartmannswillerkopf ist ein solches Symbol. Und ich bin dankbar, heute mit Ihnen allen hier zu sein, versammelt zur mahnenden Erinnerung.

Aber, so mahnt uns Tony Judt: Europas Vergangenheit verpflichtet uns nicht nur zum Gedenken – sondern verpflichtet uns auf die Zukunft. Maximilian Ott war 28 Jahre alt, Marius Magnin 26, als sie hier ihr Leben ließen. Heute gibt es eine ganze Generation in ihrem Alter, für die das vereinte und friedliche Europa selbstverständlich geworden ist. Eine ganze Generation in ihrem Alter, die sagt: Europa ist meine zweite Heimat. Ich bin Franzose. Oder ich bin Deutscher – aber ich bin auch Europäer.

Welch eine gewaltige europäische Leistung ist das – aber auch welche Verantwortung! Diese jungen Menschen, sie sind gemeint, wenn es heißt: Europa ist seiner Zukunft verpflichtet.

Verehrter Staatspräsident Macron, lieber Emmanuel: An der Sorbonne in Paris haben Sie zu dieser jungen Generation gesprochen. Und ich habe Ihre Rede nicht nur gelesen, sondern in jeder Zeile angemerkt: Sie sind wahrlich der Zukunft Europas verpflichtet. Und ich möchte Ihnen versichern: D’accord. Ich stehe, wie die große Mehrheit meiner Landsleute, an Ihrer Seite. Ihr Schwung aus Frankreich – den spüren wir in Berlin. Und ich bin sicher: Wir werden ihn mit Elan aufnehmen. Nur wenn Frankreich und Deutschland zusammenstehen, nur wenn wir gemeinsam vorangehen, kann Europa gelingen!

Verehrter Präsident Macron: So wie dieser Ort uns lehrt, die Idee der Nation vom Irrweg des Nationalismus zu befreien – so haben Sie in Ihrer Sorbonne-Rede die Idee der Souveränität von ihrer Fesselung an den Nationalstaat befreit. Sie haben gesagt: Europäische Souveränität widerspricht nicht der nationalen Souveränität – nein, sie ergänzt, sie vergrößert sie sogar.

Ein souveränes, ein starkes und handlungsfähiges Europa ist die Voraussetzung dafür, dass jede einzelne unserer Nationen – ob Deutschland oder Frankreich, Polen oder Spanien – in dieser Welt überhaupt noch handlungsfähig sein kann. Das ist doch schon die Realität, die Welterfahrung, in der junge Menschen heute aufwachsen. Diese jungen Menschen bewegen sich nicht nur mit großer Selbstverständlichkeit über Landesgrenzen und Sprachgrenzen hinweg, sondern sie haben längst verstanden, dass sie einander über Grenzen hinweg schicksalhaft verbunden sind. Und sie ahnen, dass diese Verbundenheit im Guten wie im Bösen gilt.

Und deshalb haben sie große Erwartungen an Europa. Wenn sie von Europa als ihrer zweiten Heimat sprechen, dann drückt sich darin ein hoher Anspruch aus: nach Schutz und Sicherheit – danach, aufgehoben zu sein und einen Platz zu haben in der Welt. In dieser Welt, die sich durch neue Technologien rasant und radikal verändert, in der Kriege toben und Extremismus gepredigt wird, in der das Modell der westlich-liberalen Demokratie beileibe nicht unangefochten ist, in der eine Macht, die USA, sich zurückziehen und eine andere, China, ein starkes, aber gewiss nicht demokratisches Gegenmodell propagiert. In dieser Welt ist ein souveränes und selbstbewusstes Europa nicht nur eine Möglichkeit, sondern – wenn Sie mich fragen – eine unbedingte Notwendigkeit!

Das vereinte Europa hat in dieser Welt einiges zu behaupten: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, eine weltweit einzigartige Balance von individueller Freiheit und sozialem Ausgleich. Ihre Wurzeln liegen – so heißt es in der Präambel von Lissabon – in unserem gemeinsamen kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe. Wenn ich noch einmal an Ihre Sorbonne-Rede erinnere, Monsieur Le Président: Was Europa am stärksten zusammenhält, wird immer die Kultur und das Wissen sein.

Das vereinte Europa, kurzum, ist ein Kind der Aufklärung, und – wie die Aufklärung selbst – keine Errungenschaft, sondern ein nie endender Prozess. Wir alle haben unseren Teil dazu beigetragen. Die Aufklärung spricht viele Sprachen. Sie spricht das Französisch Voltaires, Rousseaus und Diderots. Sie spricht englisch wie John Locke und David Hume, deutsch wie Moses Mendelsohn und Immanuel Kant. Sie spricht auch niederländisch wie Spinoza und polnisch wie Jastrzębowski. Sie spricht in allen europäischen Sprachen. Sie ist Europas Projekt.

Dass die Aufklärung eine europäische Angelegenheit sein muss, erkennen wir auch daran, dass wir nie aufgehört haben, uns über sie zu streiten. Ohne Kritik und Korrektur ist Aufklärung nicht denkbar. Und ohne Kritik und Korrektur ist auch das europäische Projekt nicht denkbar. Auch heute braucht das europäische Projekt manche Korrektur des europäischen Gefüges, manche Überwindung des nationalen Vorurteils – und viel neues Denken. Aber dass wir heute hier gemeinsam stehen, zeigt, dass wir Europäer selbst aus den furchtbarsten Verirrungen der Vergangenheit lernen konnten. Und deshalb – um Himmels Willen – verlernen, das Vergessen der Lektionen aus dem Jahrhundert der Weltkriege, darf keine Option für Europa sein!

Ja, es gibt sie immer noch und immer wieder: Diejenigen, die die eine Heimat gegen die andere ausspielen. Die die eigene Nation über die andere stellen. Die die eigene Souveränität an der Schwäche des anderen messen. Diese Ideologie hat Maximilian Ott, Marius Magnin und 30.000 junge Menschen an diesen tödlichen Berg geführt, an dem ihre Zukunft ein jähes Ende fand.

Ihre Altersgenossen von heute sind anders groß geworden: in Frieden und in Freiheit, beheimatet in Europa. Um ihre Zukunft geht es, auch hier und heute. Wird die europäische Idee lebendig bleiben? Gelingt es uns, die Erinnerung an unsere blutige Vergangenheit als Verpflichtung für eine gemeinsame Zukunft zu verstehen? Bei allen Herausforderungen, bei allen Prüfungen, bei allen Entscheidungen, die noch vor uns liegen:

L’Union Européenne est la meilleure idée que nous ayons jamais eue.
Elle n’est pas du passé.
Elle est l’avenir que nous désirons.
Et cet avenir, nous le tenons entre nos mains.

Die Europäische Union ist die wohl beste Idee, die wir auf diesem Kontinent je hatten.
Sie ist nicht Vergangenheit.
Sie ist die Zukunft, die wir wollen.
Sie ist die Zukunft, die in unserer Hand liegt.