Antrittsbesuch in Sachsen: Bürgerempfang

Schwerpunktthema: Rede

Großenhain, , 13. November 2017

Bundespräsident Frank Walter Steinmeier hat am 13. November bei einem Bürgerempfang während des Antrittsbesuchs in Sachsen eine Ansprache gehalten. Zum demografischen Wandel sagte er: "Der Alltag wird mühsamer, und wir sollten aufpassen, dass die Daseinsvorsorge nicht buchstäblich auf der Strecke bleibt. Wenn Arztpraxen schließen und die übrigen Wartezimmer hoffnungslos überfüllt sind, wenn Menschen Angst haben, dass der Rettungswagen zu weit weg sein könnte, um sie rechtzeitig ins Krankenhaus zu bringen, dann ist ein Punkt erreicht, an dem wir eine grundsätzliche Debatte brauchen."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache im Kulturschloss Großenhain bei einem Empfang für Ehrenamtliche anlässlich des Antrittsbesuchs in Sachsen

Änderungen vorbehalten. Es gilt das gesprochene Wort.

Meine Reden bei Bürgerempfängen wie diesem sind – Sie ahnen es – grundsätzlich den Bürgerinnen und Bürgern gewidmet, vor allem den Engagierten von der Basis, Ehrenamtlichen, die die Mühen der Ebene kennen. Das soll auch heute so sein, aber erlauben Sie mir, mit dem Dank an einen ganz besonderen Bürger Sachsens, an Ihren Ministerpräsidenten, zu beginnen: Dank dafür, dass mein Antrittsbesuch hier im Freistaat überhaupt wie geplant stattfinden kann. Die vierzehn Stationen für unsere zwei Reisetage waren längst ausgesucht, die Gesprächspartner eingeladen und viele Seiten Programm entwickelt, als mich die Nachricht vom bevorstehenden Wechsel an der Spitze der Landesregierung erreichte. Ich war überrascht wie die meisten und habe mich umso mehr gefreut, als Sie, lieber Gastgeber, bald signalisierten, die Einladung an meine Frau und mich sei deshalb nicht hinfällig, schließlich stünde bei diesem Besuch das Land Sachsen im Mittelpunkt, nicht der Ministerpräsident.

Ich glaube, damit haben Sie all jenen Respekt erwiesen, die sich seit Monaten darauf vorbereitet haben, was sie uns bei dieser Reise zeigen und sagen wollen. Nach unserem ersten Tag kann ich bestätigen: Die Botschaften sind angekommen. Sie, lieber Herr Ministerpräsident, haben mir ja mit dem heutigen Programm einen großen Wunsch erfüllt und ganz gezielt Orte eingebaut, die jenseits der dynamischen Städte liegen, jenseits der historischen Prachtbauten und jenseits der aufstrebenden Start-ups. Wir sind eben nicht zuerst nach Dresden, Leipzig oder Chemnitz gefahren, sondern in den ländlichen Raum – dorthin, wo das Lebensgefühl oft ein ganz anderes ist als in den Zentren.

Dieses Gefälle habe ich aus meinem alten Wahlkreis in Brandenburg noch gut in Erinnerung, und ich bin sicher: Es hilft uns nicht, die Probleme klein oder schön zu reden. Der demografische Wandel ist keine bloße Herausforderung, wie es oft heißt, er ist eine existenzielle Frage – und das nicht nur in vielen Regionen Ostdeutschlands, immer spürbarer auch im Westen der Republik. Wer etwa durchs Sauerland fährt – nächste Woche mache ich auf meiner Deutschlandreise Station in Altena –, der erkennt Parallelen: Halbierung der Einwohnerzahlen, traditionelle Industrien weggebrochen und neue Arbeitsplätze auf dem Land in vergleichbarer Zahl – leider Fehlanzeige. Die jungen Leute suchen Ausbildung und Einkommen in Städten fern der Heimat und kehren oft nur noch als Besucher zurück. Es bleiben also vor allem ältere Menschen in den ausgedünnten Gebieten. Und die erleben einen Einschnitt nach dem anderen: Erst schließen Betriebe, dann die Postfiliale, dann die Sparkasse. Erst hält der Regionalzug seltener, dann wird auf Rufbusse umgestellt. Erst werden Grundschulklassen verkleinert, dann die Schule geschlossen. Der Alltag wird mühsamer, und wir sollten aufpassen, dass die Daseinsvorsorge nicht buchstäblich auf der Strecke bleibt. Wenn Arztpraxen schließen und die übrigen Wartezimmer hoffnungslos überfüllt sind, wenn Menschen Angst haben, dass der Rettungswagen zu weit weg sein könnte, um sie rechtzeitig ins Krankenhaus zu bringen, dann ist ein Punkt erreicht, an dem wir eine grundsätzliche Debatte brauchen.

Diese Debatte läuft bereits, und sie ist sehr emotional geworden, wie die Wochen vor der Bundestagswahl gezeigt haben. Gegenseitige Schuldvorwürfe helfen uns allerdings nicht weiter, auch nicht der alleinige Ruf nach dem Staat. Der Staat kann den Prozess der Landflucht und Urbanisierung – der bekanntlich weltweit zu beobachten ist, nicht nur in Deutschland –, der Staat kann diesen Prozess nicht aufhalten. Der Staat kann auch die jungen Mediziner, die er mit großem Aufwand ausbildet, nicht zwingen, Landarzt statt Stammzellenforscher zu werden. Er kann einer Sparkasse oder einem Unternehmen wie der Bahn und der Post nicht vorschreiben, unwirtschaftliche Dienstleistungen aufrecht zu erhalten. Aber der Staat kann Konzepte und Anreize entwickeln, um in einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung die größten Härten abzuwenden. Im besten Fall kann es sogar gelingen, hier und da ganz neue Perspektiven für den ländlichen Raum zu schaffen.

Ich möchte hinzufügen: Auch der Finanzausgleich zwischen Starken und Schwächeren gehört zu den Aufgaben eines föderalen Staates, der nicht nur die erfolgreichsten Wirtschaftszentren im Blick hat, sondern die Entwicklung ganz Deutschlands. Dass Länder und Kommunen mit geringen Steuereinnahmen in einem solidarischen Bundesstaat Unterstützung bekommen, halte ich nicht für obsolet. Im Gegenteil, es ist eine Errungenschaft, die den Zusammenhalt hoch hält – eine gesamtstaatliche Leistung, die oft Hilfe zur Selbsthilfe bietet.

Ich bin sehr dankbar, dass ich heute neben den berechtigten Sorgen auch Beispiele des Gelingens kennenlernen konnte. Mein Spaziergang mit Thomas Eulenberger, dem Bürgermeister von Penig, wird mir noch lange in Erinnerung bleiben. Im Vorfeld der Reise hat mich ein Gast in Schloss Bellevue gefragt: Penig, wo liegt denn Penig? Ist das nicht zu kleinteilig für einen Bundespräsidenten? Nein, das ist es nicht! Unser Land lebt davon, dass Menschen im Kleinen Probleme erkennen und sich für ihre Lösung einsetzen, gerade im Ehrenamt. So manches Haus in Penig sähe ohne dieses Engagement ganz anders aus, den Spielplatz gäbe es nicht und schon gar nicht das rege Kulturleben.

Solche Beispiele sind keine Allheilmittel für den demografischen Wandel, aber sie sind Antworten auf den Fatalismus. Und ich könnte die Liste noch lange fortsetzen: In Oberwiesenthal sorgt ein Investor dafür, dass die Grube Niederschlag aktiv bleibt und damit Arbeitsplätze samt Knowhow in der Region bleiben. In Bad Lausick probt die Sächsische Bläserphilharmonie nicht nur Jazz auf höchstem Niveau, sondern auch mit einem Notenschlüssel zur Integration. Und in Nünchritz gibt es ein Chemie-Unternehmen, bei dem sogar der eigene Betriebsrat die Vereinbarkeit von Beruf und Familie lobt. All das sind Standortfaktoren, die im Kleinen gepflegt werden und in der Summe Großes bewirken: Lebensqualität, mit das Kostbarste, das wir haben.

Für meine Amtszeit habe ich mir vorgenommen, das Thema Ländliche Räume mit der größtmöglichen Realitätsnähe zu bearbeiten: ohne Schwarzmalerei, aber auch ohne Rosarot, dafür mit vielen konkreten Projektvorschlägen – auch aus dem Ausland –, wie sich das Leben jenseits der Metropolen verbessern lässt: Neben den klassischen Infrastrukturen als überzeugendes Argument für Investoren gehört unbedingt der Ausbau von Breitband und Glasfaser dazu. Internetzugang ist heute einfach eine Grundvoraussetzung für Bildung, für Unternehmertum, für Forschung und Entwicklung, für Vernetzung in der Kunst und für kulturelle Teilhabe gerade dort, wo die Theaterkassen längst geschlossen haben.

Auch über die politische Teilhabe auf dem Land denke ich oft nach. Es gibt ja viele Arten, sich abgehängt zu fühlen. Wir werden morgen bei einer Veranstaltung der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung ausführlich Gelegenheit zur Diskussion haben, wie Demokratie gelebt werden kann – und wie sie gelebt werden muss in aufgeheizten Zeiten wie diesen. Das gilt dann natürlich für Land wie Stadt gleichermaßen.

Ich hoffe, dass mir die Dresdner, Leipziger, Chemnitzer und all die anderen Stadtmenschen hier im Saal nachsehen, dass ich nun so viel über den ländlichen Raum geredet habe. Meine Frau und ich, wir freuen uns sehr darauf, gleich mit Ihnen allen – woher auch immer in Sachsen Sie kommen – über Ihr Engagement zu sprechen: von der Sportjugend über den Generationenbahnhof bis zur Seniorenhilfe, von der Denkmalpflege über das sorbische Brauchtum bis zum neuesten Integrationsprojekt. Auch wenn ich für mich selbst Tiefschwarz und Rosarot ausgeschlossen habe, möchte ich Sie herzlich bitten, alles zu erzählen, was Ihnen auf der Seele liegt – egal, in welcher Farbe. Denn es sind diese Geschichten, die in Deutschland mehr Gehör verdienen und politisch aufgenommen werden müssen. In diesem Sinne: Vielen Dank im Voraus für alles, was Sie mir heute noch erzählen werden!