Antrittsbesuch in Sachsen: Diskussion "Unterschiede aushalten. Streit wagen. Demokratie leben" in der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung

Schwerpunktthema: Rede

Dresden, , 14. November 2017

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 14. November bei einer Veranstaltung zum Thema "Unterschiede aushalten. Streit wagen. Demokratie leben" der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung eine Ansprache gehalten: "Demokratischer Streit muss nicht auf Emotion und Leidenschaft verzichten, aber er braucht die Bereitschaft zur Vernunft, die Konzentration auf Problemlösung."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Ansprache bei der Veranstaltung der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung 'Unterschiede aushalten. Streit wagen. Demokratie leben' in Dresden anlässlich des Antrittsbesuchs in Sachsen

Unterschiede aushalten. Streit wagen. Demokratie leben.

Treffender hätte eine Überschrift für die Art von Debatte, die ich unserem Land – nicht nur in Sachsen – wünsche, kaum formuliert werden können. Mein Dank gilt deshalb zu allererst dem Team der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, die dieses Forum für uns vorbereitet und damit meinen Antrittsbesuch im Freistaat um eines meiner wichtigsten Anliegen bereichert hat: eine möglichst breite Debatte an einem möglichst authentischen Ort der Demokratie.

Was den Ort angeht haben mir viele bestätigt, dass die Dreikönigskirche eine besonders gute Wahl war. Genau hier versammelte sich ja Anfang der 1990er Jahre der Sächsische Landtag, genau hier wurde die Landesverfassung in Kraft gesetzt. Und deshalb möchte ich nicht nur der Landeszentrale danken, sondern freue mich, dass so viele heute Morgen hier sind, bereit sind, diese Diskussion mit uns zu führen. Herzlich willkommen Ihnen allen!

Unterschiede aushalten. Auf der Einladungskarte steht ein dezenter Punkt dahinter. Ich finde, auch ein Ausrufezeichen könnten wir in diesen Wochen gut vertragen. Demokratie lebt von Vielfalt, vom Pluralismus, davon, Unterschiede gelten zu lassen, Kompromisse zu suchen und dafür Mehrheiten zu finden, wenn es auch mitunter mühsam ist. Wie mühsam genau das ist, spüren wir gerade beim Blick nach Berlin: Sondierungen können länger dauern, als manchen Zuschauern lieb ist. Parteitage müssen nicht immer harmonisch verlaufen. Junge Leute müssen nicht immer die Auffassungen der Älteren teilen. Und Medien könnten zwischen all dem Hin und Her durchaus mal vermelden: Das ist demokratische Normalität.

Wir tun uns jedenfalls – das ist meine Überzeugung – keinen Gefallen damit, jeden Dissens zu skandalisieren und in jeder Verzögerung gleich schon das Scheitern zu sehen. Wenn ich bei meinen Reisen durchs Land mit Bürgern spreche, dann habe ich oft den Eindruck: Die meisten befürworten die Demokratie als Idee, aber vielen ist das zähe Ringen um Kompromisse und Mehrheiten geradezu ein Graus. Wenn man Texte von Ihnen, lieber Herr Professor Patzelt, oder Umfragen wie den Sachsen-Monitor liest, wird dieser Eindruck bestätigt. Einerseits ist gerade hier in Sachsen die Erinnerung an die Friedliche Revolution von 1989 sehr präsent, hier spürt man den Stolz auf eine große demokratische Leistung. Völlig zu Recht ist der Mut der Sachsen in die Geschichte eingegangen und sollte, wie ich finde und auch kürzlich an anderer Stelle in Mainz gesagt habe, in der deutschen Erinnerung einen viel größeren Raum einnehmen.

Andererseits ist auch zu merken: Viele Menschen sind irgendwie müde geworden angesichts mancher Unübersichtlichkeit, vieler Veränderungen und Anpassungsleistungen, die den Menschen hier seit der Deutschen Einheit abverlangt wurden. Die Wiedervereinigung, oder ich sollte vielleicht genauer sagen, die Transformation hat Kraft gekostet. Und die Eliten, die diese Transformation vorantreiben – in Wirtschaft und Verwaltung, auch in Bildung, Wissenschaft und Kultur –, diese Eliten, das haben jüngste Befragungen und Untersuchungen noch einmal ergeben, stammen auch 27 Jahre nach der Einheit zum erheblichen Teil nicht aus Sachsen, nicht aus dem Osten, sondern aus den alten Ländern. Das fällt auf, darüber wird gesprochen, und – ich weiß – das erzeugt gelegentlich Unmut.

Die Sachsen selbst jedenfalls scheinen an den Erfolgen ihrer Heimat, in der eigenen, auch öffentlichen Wahrnehmung, oft nicht angemessen teilzuhaben. Das ist natürlich nicht die ganze Erklärung für manches, was sich in den letzten Wochen politisch ereignet hat – Stichwort Wahlergebnisse. Aber vielleicht ist es ein Element davon. Vielleicht ist ein Element die Wut, die sich gelegentlich Ausdruck verschafft, die Wut auf das Establishment in Politik und Medien. Vielleicht ist diese Wut einfach größer geworden, als wir es wahrhaben wollten. Ich bin fest davon überzeugt: Manches Sachsen-Bashing tut sein Übriges, wenn so getan wird, als sei ganz Sachsen schon in die Hände von PEGIDA gefallen.

Ich möchte nicht zu denjenigen gehören, die zur Stigmatisierung des Freistaates beitragen und ein ganzes Land als rechts oder rassistisch bezeichnen. Aber ich möchte auch die Befunde der Wissenschaft nicht verschweigen, die viele Ursachen, viele Faktoren für die jüngsten Entwicklungen zusammengetragen hat und sagt: Jeder einzelne Faktor findet sich auch in anderen Regionen Deutschlands, doch die Summe hier in Dresden, in Freital, Meißen, Clausnitz und Bautzen, die Summe ist das Problem.

Und dieses Problem muss man klar benennen: Harter Rechtsextremismus, wie er uns begegnet, wenn zum Beispiel Nazi-Ideologie wieder hochgeholt oder eine Neue Rechte beschworen wird, muss alle Demokraten auf den Plan rufen. Da kann man nicht schulterzuckend daneben stehen und einfach nur zusehen. Deswegen habe ich eben gern zugehört bei den Berichten über die Bürgerdialoge, und ich will dem hinzufügen: Ich persönlich habe sehr großen Respekt für viele Menschen, viele Initiativen gerade hier in Sachsen, die sich gegen solche Entwicklungen zur Wehr setzen und damit die Grundrechte unserer Verfassung verteidigen.

Es gibt allerdings, lassen Sie mich das in aller Offenheit sagen, eine weitere Herausforderung, die wir darüber nicht vergessen dürfen: die Wiedergewinnung von Gesprächsfähigkeit in unserer Gesellschaft, dort, wo Misstrauen, Unzufriedenheit und mancher Groll über kleinere und größere Ungerechtigkeiten in die Ablehnung des Ganzen umschlägt, in absolute Konfrontationshaltung. PEGIDA und NOPEGIDA skandieren zwar regelmäßig gegeneinander, aber – das ist mir eben auch im Landtag berichtet worden – es gibt keine Gespräche miteinander. Der demokratische Streit, die Kontroverse, all das, was inhaltlich dringend notwendig wäre, findet in solchen Situationen nicht statt. Zum einen, weil sich einige Akteure von den Spielregeln demokratischer Auseinandersetzung lange verabschiedet haben, stattdessen die Sprache des Hasses verbreiten und andere nur noch einschüchtern wollen. Zum anderen, weil viele die Polarisierung als so extrem empfinden, dass sie den Diskurs schon aufgeben, bevor er überhaupt begonnen hat. Ich rede nicht nur von Sachsen, ich denke auch in Richtung Westen, bis in die Niederlande, bis nach Frankreich, Sie kennen die Entwicklungen.

Streit wagen. Das steht also sehr berechtigt auf der Einladungskarte, wobei ich hinzufügen möchte: Auch hier würde ein Ausrufezeichen passen – und zwar für ganz Deutschland. Den Jüngeren hier im Saal sei von jemandem gesagt, der 1956 geboren wurde: Es gab schon früher sehr angespannte Phasen in unserem Land. Es gab den unterdrückten Protest in der DDR, und es gab scharfe Auseinandersetzungen in der westdeutschen Bundesrepublik, in den Geschichtsbüchern zu finden unter Stichworten wie Ostpolitik, Umweltbewegung oder NATO-Doppelbeschluss – Entscheidungen, die tiefe Polarisierungen auch in der westdeutschen Gesellschaft hervorgerufen haben. Rückblickend betrachtet, haben uns solche Konflikte – so ärgerlich und so emotional sie damals waren –, nicht geschadet, denn im demokratischen Streit wurde erarbeitet, was politisch durchsetzbar war und was nicht.

Nach der Deutschen Einheit, so mein Eindruck, galten Grundsatzdebatten mindestens für eine Zeit lang eher als unbeliebt oder gar untauglich. Unsere größten Probleme – so der Irrglaube – waren mit dem Kalten Krieg ja überwunden. Und kritische Geister sagen, wohl nicht völlig zu unrecht: Genau deshalb haben die nötigen Debatten um Zukunftsfragen in der nötigen Tiefe und Breite nicht stattgefunden. Regionale Konflikte gab es. Die haben Sie alle als Zeitungsleser oder Fernsehzuschauer in Erinnerung, um Stuttgart 21 etwa oder um Flugrouten in Berlin. Aber zu wenig präsent waren Fragen, die wirklich das ganze Land betrafen und die eine viel intensivere Debatte erfordert hätten.

Und da meine ich nicht nur die Aufnahme und den Umgang mit Flüchtlingen, sondern auch die Frage innerer und äußerer Sicherheit oder ein Thema, das mit großer Wucht noch auf uns zukommen wird: die Konsequenzen der Digitalisierung, all die Veränderungen für die Arbeitsgesellschaft, für die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme und vieles mehr.

In der Bevölkerung – auch in politischen Kreisen – hat sich währenddessen ein diffuses Unbehagen über die Herausforderungen der neuen Zeit entwickelt, einer Zeit neuer globaler Krisen, auch neuer Kriege und schwer kalkulierbarer Risiken.

Welt aus den Fugen – das habe ich dazu einmal gesagt. Das ist ja so etwas wie ein Lebensgefühl, was sich nach und nach eingestellt hat. Und für viele war das nicht nur ein geflügeltes Wort, sondern die Beschreibung der Situation, in der wir leben. Mit wachsendem Unwohlsein schalteten die Menschen in den vergangenen Jahren abends den Fernseher ein, weil sie schon ahnten: Da kommen wieder neue schreckliche Bilder aus Syrien oder aus Libyen oder aus der Ukraine. Und die Frage, die das bei vielen hervorrief, lautete: Hat das eigentlich irgendjemand im Griff? Ich glaube, die Flüchtlingssituation seit September 2015 war nicht der Auslöser des großen Unbehagens in unserer Gesellschaft, nicht erst da wurde das Defizit an Debatte empfunden. Es gab bereits ein aufgestautes Unwohlsein über die Entwicklungen zuvor, die ich eben geschildert habe. Mit der Flüchtlingssituation 2015 entstand dann eine neue Dynamik, darüber werden wir sicher gleich auch auf dem Podium diskutieren. Der Umgang mit Asyl-, Flucht-, Zuwanderungs- und Integrationsthemen zeigt in meinen Augen jedenfalls besonders deutlich: Unsere Gesellschaft braucht die offene Debatte über Herausforderungen und Probleme, braucht Streit als Katalysator in Entscheidungsprozessen.

Allerdings, und das ist mir jetzt sehr ernst: Der Gestus der ständigen Empörung, die enthemmte Wut oder Drohung, seien sie gegen Flüchtlinge oder gegen Bürgermeister gerichtet, all das hilft uns in keinem Falle weiter.

Demokratischer Streit funktioniert nicht als moralisierendes Pingpong zugespitzter Extrempositionen. Demokratischer Streit muss nicht auf Emotion und Leidenschaft verzichten, aber er braucht die Bereitschaft zur Vernunft, die Konzentration auf Problemlösung. Und er muss vor allem voraussetzen, dass beide Seiten am Ende bereit sind, sich auf Fakten zu stützen und anhand dieser Fakten nach Lösungen zu suchen. Es ist nicht leicht, dieses Prinzip zu verteidigen, während der Mainstream viel lieber auf Emotionen und kamerataugliche Zuspitzung statt auf rationale Argumente und Mehrheiten setzt. Aber genau dieses Prinzip muss uns zum Wohle der Demokratie, zum Wohle unserer Gesellschaft wieder gelingen.

Manchmal hilft Abstand, um in verfahrenen Situationen zur Sachlichkeit zu finden. Abstand von sich selbst, wenn persönliche Kränkungen oder Enttäuschungen eine Rolle spielen. Aber ich meine Abstand durchaus auch im geografischen Sinne. Wenn man mal Gelegenheit hatte, eine Weile lang von außen auf dieses Land zu schauen, auch ein bisschen zu vergleichen, wie es den Menschen anderswo geht, dann hat man doch den Eindruck: Manche Empörung ist nicht so ganz verständlich. Und man blickt mit mehr Nüchternheit, mit weniger Unmut und mehr Wertschätzung auf das, was wir in Deutschland erreicht haben – zu Recht, wie ich finde.

Demokratie leben. Herr Dr. Löffler, Sie haben gut daran getan, an diesen dritten Punkt gleich das Mandat für Ihr neues Amt dranzuhängen: Und was politische Bildung dabei soll…

In einem Saal mit so vielen Experten aus der schulischen und außerschulischen politischen Bildung werde ich mich nicht aufschwingen, kluge Ratschläge zu geben. Aber ich will gerne eine kleine Liste von Fragen in diese Diskussion einbringen.

Ich beginne mit einer naheliegenden: Ist auf den Stundentafeln unserer Grund-, Mittel- und Oberstufenschüler eigentlich genügend Platz für politische Bildung? Dazu wird der Kultusminister schon eine Meinung haben, aber ich bin ganz sicher, andere auch.

Das wäre bundesweit im Bildungsföderalismus wohl schon eine lange Debatte für sich – 16 Länder, 16 Konzepte. Deshalb sollten wir die Frage behutsam eingrenzen: Wie könnte Sachsens Jugend neben den Naturwissenschaften auch bei den Gesellschaftsthemen Spitzenplätze in den Rankings erreichen?

Und welche Rolle – schwierige Frage – spielen eigentlich die eigenen Eltern? Wer mit Initiativen wie der Dritten Generation Ost spricht, der hört, dass es immer noch ein anhaltendes Schweigen, in manchen Familien sogar Tabus bei der Aufarbeitung der ostdeutschen Vergangenheit gibt.

Das betrifft nicht nur die viel zitierten DDR-Zeiten, sondern auch die Jahre nach der Wende: die Jahre vielleicht, in denen aus Hoffnung und Erwartung viel zu schnell Ernüchterung und Enttäuschung wurden. Denken wir nur an Schlagworte wie Treuhand oder Rentenangleichung.

Auch die politische Bildung in öffentlichen Institutionen interessiert mich. Wie sieht es aus in den Verwaltungen, auf den Sozialämtern, bei den Polizeien?

Ich bin gekommen, um möglichst vielen von Ihnen zuzuhören und freue mich auf Ihre Debattenbeiträge. Die dürfen offen sein, seien Sie versichert. Der Ministerpräsident und ich waren gestern einen ganzen Tag lang im ländlichen Raum unterwegs und haben in Großenhain mit vielen Ehrenamtlichen gesprochen. Wir sind, das kann ich sagen, klartexterprobt.

Lassen Sie uns jetzt also tun, wozu die Einladung ermutigen will: der Debatte einen öffentlichen Raum geben und Demokratie lebendig machen.