Richterwechsel am Bundesverfassungsgericht – Entlassung und Ehrung von Wilhelm Schluckebier sowie Ernennung von Josef Christ

Schwerpunktthema: Rede

Schloss Bellevue, , 1. Dezember 2017

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 1. Dezember anlässlich des Richterwechsels am Bundesverfassungsgericht eine Ansprache gehalten: "In Zeiten wie diesen kann man nicht oft genug darauf hinweisen, welchen Wert unsere rechtsstaatlichen Institutionen haben und wie unverzichtbar eine unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit ist."

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält eine Rede anlässlich des Richterwechsels am Bundesverfassungsgericht im Langhanssaal von Schloss Bellevue

Seien Sie herzlich willkommen hier im Schloss Bellevue! Schön, dass Sie hier sind. Sogenannte Richterwechsel beim Bundesverfassungsgericht sind Anlass dafür, dass wir uns häufiger im Bellevue sehen – so wurde mir jedenfalls, Herr Voßkuhle, in Aussicht gestellt. Ich finde, eine schöne Aussicht! Nicht der Richterwechsel selbst, jedenfalls nicht für jeden, aber die Tatsache, dass wir uns hier häufiger begegnen. Und Sie – lieber Herr Voßkuhle – haben mir erst vor wenigen Tagen, als wir uns hier getroffen haben, erzählt, dass die Termine für die Ernennung und die Entlassung für Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts wie ein Hochamt wahrgenommen werden und dass die Richterinnen und Richter gern hierher kommen. Heute, wenn ich im Sprachgebrauch bleiben darf, zelebrieren wir dieses Hochamt, weil Sie – lieber Herr Schluckebier – das Gericht verlassen und weil ich Sie – lieber Herr Christ – gleich zum Richter des Bundesverfassungsgerichts ernennen darf.

Lieber Herr Schluckebier,

dass ich Sie heute in den Ruhestand entlasse, macht mir eines klar: Wir sind beide etwas älter geworden, auch wenn wir uns vielleicht beide jünger fühlen als wir sind. Denn wir kennen uns noch so ein bisschen aus Gießener Tagen, dort an der juristischen Fakultät der Justus-Liebig-Universität. Sie waren damals Mitarbeiter am Lehrstuhl für Verfassungs- und Verwaltungsrecht bei Professor Kisker. Und ich, wenn ich das etwas flapsig sagen darf, bei seinem juristischen Antipoden, bei Helmut Ritter, von dem ich dann später zu Ihrem späteren Kollegen Brun-Otto Bryde gegangen bin. Und auch wenn sich dann unsere beruflichen Wege verschieden entwickelten, haben wir – glaube ich – damals das Fundament in Gießen, an der damals ganz sicher unterschätzten juristischen Fakultät, gelegt. Ein Fundament, das uns jedenfalls doch im Verlaufe unseres juristischen und politischen Lebens sehr geholfen hat, sehr unterstützt hat. Aber ehrlicherweise, lieber Herr Schluckebier, hätten Sie sich damals vorstellen können, dass wir als Organwalter zweier Verfassungsorgane heute zu diesem Anlass im Schloss Bellevue zusammenkommen würden? Ich jedenfalls nicht.

Bevor Sie 2006 zum Richter des Bundesverfassungsgerichts ernannt wurden, hatten Sie schon einen beeindruckenden, besonders abwechslungsreichen und sicherlich höchst interessanten juristischen Berufsweg hinter sich. Tätigkeiten als Richter in der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit im Justizdienst des Landes Hessen wechselten mit Abordnungen zu anderen Justizeinrichtungen oder in die Verwaltung: zum Generalbundesanwalt in Karlsruhe, zum Bundesverfassungsgericht als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei den Bundesverfassungsrichtern Wand und Träger oder ins Bundeskanzleramt. Auf berufliche Stationen als Richter folgten Ämter als Staatsanwalt, zunächst als Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof, später als Bundesanwalt. Und von 1999 an waren Sie als Richter am Bundesgerichtshof Mitglied des fünften Strafsenats.

Sie selbst, lieber Herr Schluckebier, haben Ihren Werdegang einmal so beschrieben: Im Studium habe Sie das öffentliche Recht fasziniert, in der Referendarzeit das Zivilrecht. Und später dann waren Sie 16 Jahre im Wesentlichen weder in dem einen noch in dem anderen Gebiet, sondern im Strafrecht tätig. Und deshalb hat sich der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Papier bei Ihrer Amtseinführung über den strafrechtlichen Sachverstand gefreut, mit dem Sie das Gericht bereichern sollten.

Die Geschäftsverteilung indes bescherte Ihnen kein strafrechtliches Dezernat im Grundrechtssenat – dem Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts. Sondern als Berichterstatter wurden Sie zuständig für die Verfahren im Bereich des Gesellschaftsrechts, des Bank-, Börsen- und Wertpapierrechts, des Versicherungswesens, das Schulrecht und das Recht der offenen Vermögensfragen. Und Sie mussten sich in Karlsruhe mit dem Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit vertraut machen. Und das ist eine Materie, in der unsere stärker säkularisierte Gesellschaft Vieles in Frage stellt, was bisher akzeptiert war. Mit der stärkeren Zuwanderung von Menschen mit anderen Religionen werden wir auch mit Fragen der Religionsausübungsfreiheit konfrontiert, die umstritten sind in manchen Bereichen. Und Sie haben sich gerade in einem Interview, das ich gelesen habe, dazu noch einmal geäußert. Deutlich werden beide Entwicklungen, wenn ich nur einige Verfahren nenne, in denen Sie Berichterstatter waren: 2007 stand der Berliner Ethikunterricht zur Entscheidung, 2009 mussten Sie sich mit den Ausnahmegenehmigungen zum betäubungslosen Schlachten, dem Schächten, befassen.

Und im selben Jahr ging es um den verfassungsrechtlichen Schutz der Sonn- und Feiertage, namentlich um das Berliner Ladenöffnungsgesetz, das eine sonntägliche Geschäftsöffnung weit über das bisher Erlaubte damals zuließ.

2015 schließlich musste über das islamische Kopftuch von Lehrkräften im Schulunterricht entschieden werden und die diesbezüglichen Regelungen damals im Landesrecht von Nordrhein-Westfalen.

Daneben haben Sie eine unglaubliche Reihe weiterer wichtiger Fälle bearbeitet, etwa zur Privatschulfreiheit, zum Squeeze-Out im Aktienrecht oder zum Karfreitag als stiller Feiertag in Bayern. Es würde den heutigen Rahmen sprengen, wollte ich auch nur versuchen, einen kleinen Überblick zu den über 4.300 Entscheidungen zu geben, die Sie vorbereitet haben.

Wer Sie kennt, lieber Herr Schluckebier, rühmt Ihre ruhige, unprätentiöse Art, Ihren Humor. Sollte man ein Merkmal benennen, das Sie besonders charakterisiert, so ist es – neben den ganz sicherlich exzellenten juristischen Kenntnissen – eben auch Ihre vorbildliche richterliche Zurückhaltung. Aber Sie verkörpern auch alle anderen Tugenden eines Richters: Integrität, Bescheidenheit, Augenmaß und Gelassenheit. Diese Tugenden zeigen sich auch und gerade im heftigen Streit um Rechtsfragen – was immer dann der Fall ist, wenn es um so emotionale Dinge geht wie Religion oder auch Schule. Zu Recht charakterisierte Sie die Süddeutsche Zeitung einmal als rechtsstaatlich denkender Mann mit Augenmaß. Dass Sie bei aller Zurückhaltung Ihre Überzeugungen nicht verschweigen, haben Sie immer auch in Sondervoten deutlich gemacht, zum Beispiel anlässlich der Entscheidung zum BKA-Gesetz im vergangenen Jahr.

In Zeiten wie diesen kann man nicht oft genug darauf hinweisen, welchen Wert unsere rechtsstaatlichen Institutionen haben und wie unverzichtbar eine unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit ist. Zur Unabhängigkeit aber gehören nicht nur institutionelle Sicherungen. Entscheidend ist es auch, dass sich Persönlichkeiten finden, die die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts unter Beweis stellen, besser gesagt, die diese Unabhängigkeit tagtäglich leben. Es ist bislang immer gelungen, Richterpersönlichkeiten auszuwählen, die unabhängig, meinungsstark und gleichzeitig verfassungsfest sind. Das weiß ich aus meinen Begegnungen mit Verfassungsrichtern in früheren Ämtern, und das sehe ich auch heute bei Begegnungen mit Ihnen.

In der Juristenzeitung fand sich jüngst ein soziologischer Beitrag, der den Versuch unternahm, die Beziehungsgeflechte innerhalb des Zweiten Senats – auch und gerade unter politischen Gesichtspunkten – zu analysieren. Das ist vielleicht zunächst Anlass zum Schmunzeln – aber es zeigt auch: Das Verfassungsgericht hat – selbstverständlich – eine politisch von außen wahrgenommene Rolle, und seine Richter werden auch als homines politici wahrgenommen. Ob eine solche Analyse indes den Strukturen, den Interaktionen der Richter untereinander und der Gesellschaft, Ihren Beratungen und Diskussionen gerecht wird, das muss ich und das werden auch Sie dahingestellt sein lassen. Es überrascht eigentlich auch nicht, dass die Untersuchung im Ergebnis nur bestätigt, dass es Vorverständnisse bei Richtern wie bei jedem Juristen gibt, die aber alle den hohen Professionalitätsbedingungen, wie sie am Bundesverfassungsgericht gelten, unterliegen und deshalb nicht Vorverständnis, sondern juristische Expertise, das Argument und Überzeugungskraft entscheiden.

Lieber Herr Schluckebier,

Sie treten gleich in den wohlverdienten Ruhestand. Ich bin sicher, dass wir in Zukunft trotz Ihrer Zurückhaltung auch Wortmeldungen von Ihnen zu juristischen Themen hören werden. Aber Sie werden sicher auch mehr Zeit zum Wandern haben und das Engagement als Botschafter des Naturparks Diemelsee – den ich kenne –, Ihrer alten Heimat. Und vielleicht gewinnt der Karlsruher SC in Zukunft selbst dann, wenn Sie im Stadion sind! Es wird sicherlich eine erfüllte Zeit. Und hierfür wünsche ich Ihnen von Herzen alles Gute!

Lieber Herr Schluckebier,

unser Land verdankt Ihnen sehr viel! Und diesen Dank will ich Ihnen auch ganz persönlich sagen. Es freut mich besonders, Ihnen für Ihr Engagement und Ihre Leistungen heute das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland zu verleihen.

Lieber Herr Christ,

am 5. September 2017 hat Sie der Bundestag zum Richter des Bundesverfassungsgerichts gewählt. Das war eine Premiere – für Sie persönlich selbstverständlich, aber auch für das Gericht und den Bundestag: Denn nach der Abschaffung der – zuvor nicht ganz unumstrittenen – Delegation an den Richterwahlausschuss hat der Bundestag erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik im Plenum einen von ihm zu bestimmenden Richter gewählt.

Ich gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrer Wahl!

Sie kehren, lieber Herr Christ, in Ihre Heimat zurück. Denn Sie wurden im Südwesten unseres Landes geboren, in Langenargen am Bodensee. Nach dem Studium in Heidelberg traten Sie in den Justizdienst in Baden-Württemberg ein und damals als Verwaltungsrichter am Verwaltungsgericht in Karlsruhe. Auch Ihr Berufsweg war abwechslungsreich, denn Sie suchten Erfahrungen in Abordnungen zum Bundeskanzleramt, zum Bundesverfassungsgericht und zum Staatsministerium Baden-Württemberg. Und nachdem Sie zuvor schon Richter am Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg waren, wurden sie 2008 Richter am Bundesverwaltungsgericht und ab 2014 sein Vizepräsident. Ich bin überzeugt: Ihr Sachverstand und Ihre richterliche Erfahrung sind eine Bereicherung für das Bundesverfassungsgericht. Zu Ihrer Wahl schrieb eine Zeitung, Sie gälten als fleißiger, akribischer Richter und Senatsvorsitzender. Fleiß werden Sie sicher brauchen, denn Sie haben es nicht nur eben gehört, sondern Sie wissen es aus Ihrer Zeit als Mitglied im Dritten Senat, wie viel Arbeit in den kommenden Jahren auf Sie zukommt. Und dafür wünsche ich Ihnen Kraft und viel Erfolg.